1. Hinführung und Zielsetzung
Für die linguistische Erforschung antiker und spätantiker Texte und Korpora sind hapax legomena (HLL) wichtige, auffällige Phänomene. Bei der Lektüre erschweren sie mitunter das Verständnis oder sind etwas Überraschendes, nicht Erwartetes.Footnote 1 Sie stellen zudem eine Möglichkeit dar, etwas emphatischer und eindrucksvoller darzustellen als generell übliche bzw. bereits in einem Text selbst mehrfach verwendete Wörter.Footnote 2 Dies gilt auch für die griechische Bibel, die Septuaginta (LXX) und das Neue Testament (NT), in spezifischer Weise für die hebräische Bibel, in Form des Masoretischen Texts (MT), der für die genauere Erfassung der aus dem Hebräischen übersetzten Teile der LXX eine unerlässliche Bezugsgröße darstellt. Doch sind dabei auch die pseudepigraphische wie apokryphe Literatur sowie weitere literarische Produkte des Judentums und Christentums nicht zu vergessen. Die ‘Einzel-’ bzw. ‘Einmalwörter’ (ἅπαξ λɛγόμɛνα oder ἅπαξ ɛἰρημένα)Footnote 3 können helfen, dem Verfasser eines Textes und vor allem seiner Sprachverwendung näher zu kommen. Denn bei einem hapax legomenon (HL) kann es sich beispielsweise um einen Neologismus, etwa eine spontane Neuschöpfung, um das Ergebnis der Suche nach einem adäquaten Ausdruck für eine fremdsprachliche Form oder um eine Anleihe aus einem anderen Text bzw. Textkorpus bzw. der sozio-kulturellen Umgebung handeln.Footnote 4 In Antike und vor allem Spätantike führte gerade das Streben nach dem Erhalt der Bedeutungen wie auch die Klärung von seltenen und schwer verständlichen Wörtern, zu denen zweifelsohne HLL gehören können, dazu, dass adäquate Wörterbücher, Glossare und Scholien angelegt wurden. Gerade Homer bildete hier den Hauptgegenstand des Interesses.Footnote 5
Trotz der anerkannten Bedeutung von HLL für die linguistische Erforschung von (spät)antiken Texten fehlt erstaunlicherweise noch immerFootnote 6 ein wirklicher Konsens über die genaue Abgrenzung und Definition von HLL. Diesen Mangel versuchte kürzlich Hellen Mardaga in einem Aufsatz zu beheben,Footnote 7 dessen Thesen mich zu einer nochmaligen Auseinandersetzung mit dem Phänomen HL anregt.Footnote 8 Darüber hinaus trete ich mit Mardagas Schlussfolgerungen in Auseinandersetzung. Basierend auf kritischen Rückfragen und weiteren Problemstellungen erläutere ich die Einbettung von HLL in den Kontext einer pragmatisch orientierten Sprachanalyse, was auch an Beispielen dargelegt wird.
2. Hapax legomena: Begrifflichkeiten und Schwierigkeiten
2.1. Definition und Abgrenzung von HLL—zu den Thesen von Hellen Mardaga
In ihrem Aufsatz sucht Hellen Mardaga nach einer klaren Definition der HLL. Prägnant handelt sie zunächst die relevanten Arbeiten der Homerforschung ab, skizziert präzise die besondere Problematik von HLL im Hebräischen (MT) und wendet sich dann der griechischen Bibel in Form von LXX und NT zu. Letztendlich zieht sie aus ihren Darlegungen fünf Schlussfolgerungen:Footnote 9
In this survey I have discussed the problems one encounters when applying the term hapax legomenon to words found more than once. First, I conclude that in biblical scholarship the term should be reserved for (1) words found only once, (2) within the MT, the LXX or the NT. For other words occurring twice or more in a given context one should use the terms dislegomena, trislegomena etc. Alternative terms such as ‘absolute’, ‘non-absolute’ or ‘proper’ hapax legomena are redundant and confusing and should therefore be avoided.
Second, the term hapax legomenon should only be used when individual words are being studied. Including unique grammatical forms or unique meanings of words under the same umbrella confuses the results. A certain word may occur in a specific form or meaning, but that does not necessarily entail that that specific word is a hapax legomenon.
Third, my study also suggests that names, while found only once in the LXX or NT, can be listed as hapax legomena; they may not reveal substantial information when analyzed in light of their etymology.
Fourth, the application of the Homeric concept hapax legomenon to the study of words, roots and meaning of words found only once in the MT is a modern development. The Massoretes and rabbis were not interested in listing words found only once. They rather focused on unique names and roots found in the MT that may cause scribal errors.
Fifth, although some books and articles treat biblical hapax legomena in the MT, the LXX and the NT, the subject continues to be a neglected field of study.
(1) Ihre erste Schlussfolgerung stellt im Prinzip nichts Neues dar.Footnote 10 Die Unterscheidung zwischen HLL—Wörter, die in einem gesetzten textlichen Rahmen nur einmal vorkommen—und Wörtern, die mehrfach vorkommen, ist eine pragmatisch wichtige Festlegung. Allerdings macht diese nur dann Sinn, wenn auch die Begriffe dislegomena, trislegomena usw. als termini technici breite Akzeptanz und entsprechend Verwendung finden. Problematisch ist jedoch die Beschränkung auf ein einmaliges Vorkommen innerhalb MT, LXX oder NT als Referenzrahmen. Doch das soll als Rückfrage unter 2.2 ausführlicher diskutiert werden. Mardagas Ablehnung weiterer Alternativbegriffe, wie z.B. ‘absolutes HL’, ist nur zuzustimmen, kann doch nur so begriffliche Genauigkeit und Eindeutigkeit erlangt werden.
(2) Aus linguistischer Sicht ist die Konzentration auf ein Lexem folgerichtig, folgt man dessen Ursprungsbedeutung ‘Wort’ und dem Zusammenspiel von Lexikographie, Morphologie und Syntax als Leitgedanken für eine Betrachtung. Nicht als HLL würde dann eine bestimmte morphologische Form eines Worts innerhalb eines gesetzten Referenzrahmens gelten, in dem das Wort selbst vorkommt. Beispielsweise sollten Komparative und Superlative, die nur ein einziges Mal in dieser Form Verwendung finden, dann nicht als HLL akzeptiert werden, wenn sie auf ein gut gebräuchliches Adjektiv zurückzuführen sind. Zu überlegen bleibt, ob solch ein Adjektiv dann selbst als HL bezeichnet werden sollte.Footnote 11 Ein weiteres Problemfeld stellen mitunter Orthographie und Phonologie dar: Als einziger Text des NT bietet 2Petr ἡττάομαι (2.19, 20). Allerdings handelt es sich um die attische Schreibweise von ἡσσάομαι, das in seiner ionischen Form ἑσσόομαι auch 2Kor 12.13 (ἡσσώθητɛ [v.l. ἐλαττώθητɛ]) zu finden ist,Footnote 12 so dass eben ἡττάομαι weder als HL eines spezifischen Texts (dann bei Akzeptanz eines mehrfachen Vorkommens) noch als dislegomenon, allenfalls dann noch als trislegomenon des NT gelten darf. Ähnliche Vorsicht ist hinsichtlich bestimmter Phänomene der Phonetik anzuraten, wenn etwa in Handschriften aufgrund von geographisch-spezifischer Lautung auch die Orthographie Veränderungen unterworfen war (vgl. den Itazismus/Iotazismus des Griechischen im Ägypten der griechisch-römischen Epoche).
(3) In ihrer dritten Schlussfolgerung akzeptiert Mardaga einmalige Namen in LXX oder NT als HLL.Footnote 13 Dem ist durchaus zuzustimmen. Denn es ist nicht immer eindeutig, ob ein Wort bereits als Name aufgefasst wird oder aber es noch im eigentlichen Sinn gebraucht ist bzw. dessen Bedeutung eine wichtige semantische Rolle spielt. In 2Petr 1.19 ist von φωσφόρος die Rede.Footnote 14 Einige wenige Handschriften bieten eine Variante mit ἑωσφόρος (‘Morgenstern’), das auch eine syrische Entsprechung hat (syhmg94) und in der LXX zu finden ist (3 Kön 30.17; Ps 109.3; Hiob 3.9; 11.17; 38.12; 41.10; Jes 14.12). Obgleich in antiker wie spätantiker Literatur ebenso gut gebräuchlich wie in Papyri und Papyrusbriefen, ist φωσφόρος in der griechischen Bibel nur einmal vorhanden. Das Adjektiv (‘lichtbringend’, ‘fackeltragend’) kann auch als Substantiv (‘Lichtbringer’, ‘Morgenstern’) aufgefasst werden, dann oft im Sinne eines Namens oder als Attribut einer Gottheit.Footnote 15 Entsprechendes gilt dann für die lateinische Entsprechung lucifer in den altlateinischen Handschriften und der Vulgata zu 2Petr 1.19. Also könnte φωσφόρος hier auch als Personifizierung zu verstehen sein. Würden Namen nicht als HLL betrachtet werden, könnte solch einem Lexem weniger Aufmerksamkeit zuteil werden.
Gleichzeitig kann ein gebräuchlicher Name rasch zu einem HL werden, wenn dessen Orthographie nur leicht verändert würde. Offensichtlich ist die Verschreibung von Βαλαάμ zu Βαλαμ in einigen Handschriften zu 2Petr 2.15. Dagegen könnte aus einen HL wie Βάαλ in Röm 11.4 durch eine textliche Variante und deren Akzeptanz wie τοῦ Βάαλ τοῦ Βοσόρ (Minuskel 69 zu 2Petr 2.15) rasch ein dislegomenon werden. Bei meiner eigenen Arbeit zu HLL in 2Petr entschied ich mich aufgrund besagter Gründe gegen die Aufnahme von Βοσόρ in die Liste.Footnote 16
(4) Der Hinweis auf die sprachliche Besonderheit des hebräischen Texts der Bibel ist wichtig. Die Übertragung eines in der Anwendung auf eine andere Sprache erprobten Konzepts ist immer problematisch, gerade dann wenn sich hinsichtlich Wortbildungsparadigmata, Syntax und Semantik solche frappierenden Unterschiede ergeben wie zwischen Hebräisch und Griechisch.Footnote 17 So erstreckt sich das Problem nicht alleine auf eine Übertragung der Methodik aus der Homerforschung sondern auch auf Ansätze für die sprachliche Analyse von Texten des MT, der LXX und des NT. Deren divergente Situation als Korpora wird noch eigens diskutiert werden. Entsprechend sollte die Behandlung von hebräischen HLL gesondert und mit eigener Methodik erfolgen. Besonders wichtig erscheint aber, was Mardaga hinsichtlich der pragmatischen Zielsetzung des Interesses an hebräischen HLL in Bezug auf Namen und Wurzeln sagt, die zu Fehlern im Abschreibprozess führen konnten.
(5) Ob wirklich HLL ‘ein weiterhin vernachlässigtes Thema sind’, wie Mardaga auch in der Überschrift ihres Aufsatzes unterstellt, bleibt der eigenen individuellen Einschätzung überlassen.Footnote 18 Sollte das so verstanden sein, dass immer noch systematische Arbeiten über die HLL in einem großen Korpus wie dem MT, der LXX und dem NT Mangelware sind, dann mag diese Aussage breite Zustimmung finden. Daran schließt sich jedoch die Frage nach der methodischen Rechtfertigung für einen solchen Korpus sowie die Vergleichbarkeit von Ergebnissen über solche doch stark differierende textliche Forschungsgegenstände. Wie angekündigt bietet Mardaga ‘a survey of major studies on hapax legomena in the MT, the LXX and the NT’.Footnote 19 Außen vor bleiben damit natürlich Abschnitte zu HLL in ganz bestimmten Einzeltexten dieser Korpora, wie sie etwa in KommentarwerkenFootnote 20 vorkommen, sowie spezifische Einzeluntersuchungen.Footnote 21 Auch die außerbiblische Literatur ist—durch Fokus auf Homer—nur teilweise abgedeckt,Footnote 22 selbst wenn, durch Konzentration auf die wesentlichen Werke der Homerforschung die entscheidenden Richtungen sehr gut abgebildet werden.Footnote 23
Das Gesagte—Mardagas Schlussfolgerungen und die erfolgte Kommentierung—motiviert zu einigen Rückfragen und fordert zu einer weiteren Problematisierung des Phänomens HL heraus. Was das alles schließlich für eine umfangreiche pragmatisch orientierte Sprachanalyse bestimmter Texte (bzw. Textkorpora) zur Folge hat, soll in einem abschließenden Abschnitt dargestellt werden. Damit entfernt sich diese Studie von Hellen Mardagas stimulierenden Beitrag, der einen gangbaren Weg zu einer pragmatischen Definition von HLL vorzeichnet, wenn nicht sogar die wichtigsten Aspekte für eine solche vorgibt.
2.2. Rückfragen und Problemfelder
2.2.1. HLL als ‘seltene Wörter’?
Ein potentielles Missverständnis gilt es zuallererst auszuräumen, wie es durch unglückliche Formulierungen, etwa auch in den Titeln mancher Studien, motiviert sein kann: HLL sind nicht gleichzeitig immer auch seltene Wörter. Die Seltenheit bezieht sich allein auf den gesetzten textlichen Referenzrahmen, innerhalb dessen ein Wort eben ein ‘Einzel-’ bzw. ein ‘Einmalwort’ darstellt. Von den gemessen an der Länge von 2Petr zahlreichen HLL fehlen mehr als die Hälfte sowohl im NT als auch in der LXX. Zudem sind etliche HLL außerhalb des NT (bzw., wenn zutreffend, der LXX) durchaus gebräuchliche Wörter (z.B. αὐχμηρός, βλέμμα, βόρβορος, λήθη, μίασμα, μνήμη, ταρταρόω, φωσφόρος und ὗς).Footnote 24 Darüber hinaus verwundert sicherlich, dass bestimmte HLL des als apokryph eingeordneten Petrusevangeliums (PE) nicht im NT Verwendung fanden, obwohl sie in der griechischen Profanliteratur sehr wohl rege gebraucht wurden: Immerhin steht μνημοσύνη (PE XII 54) auch für die Mutter der Musen,Footnote 25 standen ὀφλισκάνω (XI 48) neben in Inschriften, Papyri und der profanen Literatur auch bei Philo und ὠθέω (III 6) in fast allen Bereichen des Griechischen in regem Gebrauch. Daneben weisen die beiden genannten Texte—2Petr und PE—aber auch HLL auf, die ansonsten wirklich äußerst selten sind. Gänzlich ohne Belegstellen bleiben sogar ἐμπαιγμονή (2Petr 3.3), μυωπάζω (2Petr 1.9) und παραφρονία (2.16) sowie σκɛλοκοπέω (PE II 3) und überraschenderweise σταυρίσκω (PE IV 14).Footnote 26 Bei diesen Wörtern ist an eine spontane oder freie Neubildung zu denken. Wenn dann ein Wort wie σταυρίσκω (Bildung mit -ίσκω; vgl. dabei auch σταυρόω IV 10; XII 52; XIII 56; σταυτός IV 11; X 39, 42) in der spätantiken christlichen Literatur nicht rezipiert wurde und unbelegt bleibt, so kann in Erwägung gezogen werden, dass der Schreiber des hier relevanten Teils des Akhmîm-Codex (P.Cair. 10759), in dem das Verb erhalten ist, für den Neologismus verantwortlich ist.
Unabhängig davon, ob ein Wort als HL letztlich insgesamt selten ist oder nicht, ist es grundsätzlich selten innerhalb eines festgelegten Bezugsrahmens. Und genau darin wirkt es auch auf die Leser oder Hörer als etwas Auffälliges und Besonderes. So kann ein Autor eine gewisse Wirkung erzielen. Dergleichen gilt, wenn ein HL aus einem speziellen soziokulturellen, geographischen oder inhaltlichen Umfeld stammt, wie etwa ταρταρόω, φωσφόρος, μυωπάζω etc. an pagane Religionen denken lassen und μνήμη formelhaft auf Grabepigrammen erhalten ist.
2.2.2. HLL mit Relevanz für die Textkritik?
Ein Blick auf die HLL von 2Petr verdeutlicht bereits: Es scheint eine deutliche Tendenz auf, HLL in Handschriften sicher zu erhalten. Auch dürften HLL bei Abschreibern weniger Anstoß erregt haben als so manche andere Form oder Formulierung. Jedenfalls ist das der Eindruck, den die kritischen Apparate von Nestle-Aland27 und der Editio Critica Maior Footnote 27 vermitteln. Etliche Varianten liegen nur in wenigen Handschriften vor und gehen mitunter auf Schreiberfehler zurück, wie απαθɛις und απαγɛις für ἀμαθɛῖς (2Petr 3.16) oder ɛθνων und αθɛων für ἀθέσμων (3.17) in einzelnen Minuskeln. Natürlich sind für einige HLL auch variae lectiones erhalten. Von ἑωσφόρος für φωσφόρος (1.19) war schon die Rede. In 2.16 hat das auffällige und nur hier erhaltene παραφρονία vielleicht zu sehr erstaunt und gleichzeitig an παραφροσύνη, παρανομία oder παρανοία erinnert. Nur σɛιρά (‘Strick’, ‘Seil’, ‘Kette’, ‘Fessel’) und die Alternative σιρός/σɛιρός (‘Loch’, ‘Grube’, ‘Höhle’) in 2Petr 2.4 stellen ein Problem dar: Welches der beiden HLL ist die zu bevorzugende Lesart? Das ansonsten bewährte Prinzip lectio difficilior potior hilft hier nur bedingt weiter, falls man es überhaupt als zutreffend erachtet. Das erste Lexem findet sich auch Ri 16.13, 14, 19 und Spr 5.22. Es ist bei klassischen Autoren und außerhalb der griechischen Bibel durchaus gut gebräuchlich. Dagegen fehlt das zweite Lexem in der LXX und ist auch sonst sehr selten erhalten. Die Überlieferung bietet für beide gewichtige Zeugen (σɛιραῖς 𝔓72 P Ψ 33 1739 𝔐 vg sy; σιροῖς/σɛιροῖς א B C 81 pc h vgms; Aug Cass). So verwundert es nicht, dass beide schon im Haupttext des Nestle-Aland standen (σιροῖς/σɛιροῖς noch in Nestle-Aland25, ab Nestle-Aland26 dann σɛιραῖς). Auch wenn die Setzung von σιροῖς/σɛιροῖς wegen späterem ταρταρώσας semantisch eine Art redundante Doppelung darstellen würde, macht diese Variante inhaltlich durchaus Sinn. Ein Blick in die Parallelüberlieferung in Jud 6 allerdings lässt an eine Bevorzugung von σɛιραῖς denken, da dort das gebräuchlichere δɛσμοῖς steht.Footnote 28
2.2.3. HLL mit Relevanz für Exegese/Hermeneutik?
Natürlich sind HLL in allererster Linie linguistische Phänomene, die einen von vielen Bestandteilen der Analyse von Stil und Sprache eines Textes bzw. eines Autors darstellen. Dennoch können sie zur Erhellung von Fragen beitragen, welche für die Exegese bzw. die Hermeneutik eines speziellen Texts von Belang sind. Zum Beispiel bietet 2Petr 2.22 in einem Doppelsprichwort ganze vier HLL:Footnote 29
κύων ἐπιστρέψας ἐπὶ τὸ ἴδιον ἐξέραμα, καί ·
ὗς λουσαμένη ɛἰς κυλισμὸ ν βορβόρου.
Wie schon angeführt, können HLL aufgrund eines ausführlichen Verwendungsnachweises mitunter als Neuschöpfung, als Anleihe aus dem soziokulturellen und literarischen Umfeld sowie als Ausdruck der sprachlichen Prägung eines Autors wahrscheinlich gemacht werden. Nicht nur als bloßes Motiv ist hier ein verbreitetes Sprachbild in 2Petr eingegangen. Das Wälzen des gewaschenen Schweins im bzw. die Freude des Schweins am Kot/Schlamm stand sozusagen sprichwörtlich in Verwendung: Wohl ausgehend von Heraklit (Frg. 13 [Clem. Alex., Strom. 1.2]; Frg. 37 [Columella 8.4]; doch auch Demokrit wird es zugeeignet, vgl. Frg. 147 [Clem. Alex., Protr. 92.4] mit ὕɛς und βορβόρος) fand das Sprichwort beachtlichen Niederschlag. Es findet sich in der Akikar-Legende (syrAch 114), Philo (mit σῦς und βορβόρος; SpecLeg 1.148) und bei Epiktet (mit χοῖρος und βορβόρος; 4.11.29). Die drei HLL auf engstem Raum (2.22b) sowie ἐξέραμα davor (2.22a; vgl. hierzu motivisch Spr 26.11 mit negativer Zeichnung des Hundes [κύων]Footnote 30) stechen geradezu hervor und markieren die beiden Sätze. Das wiederum wirkt, durch die von 2.22b ausgehende größere Auffälligkeit, zurück auf 2.22a, als etwas Besonderes. Damit wird (a) die Zusammengehörigkeit des Ganzen in 2Petr 2.22 suggeriert, (b) das Doppelsprichwort als Zitation oder Übernahme einer gut bekannten Weisheit ausgewiesen und (c) implizit auch auf eine andere Autorität Bezug genommen (hier dann Heraklit bzw. Demokrit). So nimmt der Autor von 2Petr hier eine Anleihe, macht nicht nur ein bekanntes Sprichwort für seine Zwecke fruchtbar, sondern bettet gleichzeitig auch einige ansonsten im NT nicht und in der LXX selten vorkommende Wörter in seinen Kontext ein. Demnach scheint hier der Autor von 2Petr selbst durch. Seine sprachlichen Kompetenzen und Ambitionen finden auch Niederschlag im Bereich der Gesamtheit der HLL, unter denen sich Wortneuschöpfungen ebenso finden wie deutliche Anleihen aus unterschiedlichen Bereichen (Klassikertexte, Inschriften, Papyri, Abstrakte der hellenistischen wie jüdischen Apokalyptik etc.).Footnote 31 Gleichzeitig fordert der Autor durch die Quantität und Qualität seiner HLL seine Adressatinnen und Adressaten, verlangt von ihnen hohe Aufmerksamkeit und durchaus ein bestimmtes Maß an Bildung und Wissen.Footnote 32
2.2.4. Viele HLL in einem festgelegten Referenzrahmen als Besonderheit?
Grundsätzlich sind Angaben zur Häufigkeit bestimmter linguistischer Phänomene methodisch zu hinterfragen und mit Vorsicht zu behandeln. Das Vorkommen von HLL in einem gesetzten sprachlichen Referenzrahmen als Bezugsgröße kann als absolute Zahl gesehen und mit weiteren solchen Daten verglichen werden. Allerdings könnten dann (a) oftmals die Vergleichsgegenstände nicht zu einander passen und (b) würden fragwürdige bis falsche Schlüsse motiviert werden. 2Petr etwa weist eine durchaus beachtliche Anzahl von HLL in Relation zum Textganzen auf. Dennoch sind die dort behandelten Thematiken und vielmehr noch das Streben des Autors nach besonderen Ausdrücken wie dessen Verhaftung in einem speziellen sprachlichen Umfeld als Ursachen für die hohe Zahl an HLL verantwortlich zu machen.Footnote 33
Noch deutlicher wird dies in der Petrusapokalypse (PA):Footnote 34 Von den vierundzwanzig HLL in dem erhaltenen, relativ kurzen Manuskript (Teil des Akhmîm-Kodex P.Cair. 10759) ist eine beträchtliche Anzahl im Referenzkorpus, d.h. in den kanonisch gewordenen Texten des NT, nicht enthaltenen. Dies trifft insbesondere auf die detaillierten Schilderung des dunklen Orts der Züchtigung, der Unterwelt zu (PA 21: ɛἶδον δὲ καὶ ἕτɛρον τόπον καταντικρὺς ἐκɛίνου αὐχμηρόν{των}, καὶ ἦν τόπος καλάσɛως ‘Ich sah aber einen anderen Ort direkt gegenüber von jenem, einen ganz finsteren, und es war der Ort der Züchtigung’).Footnote 35 Trotzdem bleibt hier ein zwiespältiges Ergebnis festzuhalten:Footnote 36
Ein interessantes Phänomen textlicher Art stellt die hohe Zahl an biblischen Hapax legomena dar, also solchen Wörtern, die hinsichtlich der kanonisch gewordenen Texte des NT oder der gesamten griechischen Bibel (LXX und NT) nur hier belegt sind. Sicher man man auch die vorliegenden Themen als Grund hierfür in Betracht ziehen, die in solch einer Dimension in den kanonischen Texten nicht behandelt werden (z.B. Begriffe für Strafen oder Ausdrücke der Botanik). Dennoch bleibt unbenommen, dass noch mehr ‘Einzelwörter’ übrig bleiben als etwa in der PE des Akhmîm-Codex insgesamt.
Überträgt man dies nun auf das gesamte NT als eine mögliche Referenzgröße für die HLL eines apokryph gewordenen literarischen Produkts, dann werden darin Texte erfasst, die sicherlich ähnliche Themen be- und verarbeiten (v.a. die Evangelien, aber auch einige Briefe des Paulus), gleichzeitig andere, die ganz spezifische Thematiken und Situationen beinhalten (z.B. 2Petr und Offb). Das geht teilweise auch damit einher, dass verschiedene literarische Genres hier in einem artifiziellen Korpus zusammengebunden wurden. Doch das führt bereits zum nächsten Problemfeld.
3. HLL im Kontext einer pragmatisch orientierten Sprachanalyse—einige Grundpositionen
Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich einige grundsätzliche Positionen für eine Definition und Analyse von HLL im Rahmen einer pragmatisch orientierten Sprachanalyse:
3.1. Eine pragmatisch-orientierte Definition
Die Problematik der Korpora MT, LXX oder NT wurde eben skizziert: Einerseits sind darin Texte verschiedener Genres, soziokultureller und zeitlicher Einordnung im Nachhinein zu einem Ganzen zusammengefügt, die schwerlich miteinander zu vergleichen sind (MT und NT), andererseits handelt es sich um Übersetzungsliteratur, die aber neben originär auf Griechisch abgefassten Texten in einem Korpus stehen. Werden nun die Bezeichnungen dislegomena, trislegomena usw. für ein mehrmaliges Vorkommen desgleichen Lexems innerhalb eines solchen künstlichen Referenzrahmens verwendet, so wird nicht unterschieden, ob das Lexem in einem einzigen Text (z.B. 2Petr), innerhalb eines kleineren Subkorpus (z.B. die johanneische Literatur) oder in zwei grundverschiedenen Texten eines großen Korpus (z.B. Gen und Ez) vorkommt. Qualitativ besteht zwischen diesen Möglichkeiten aber ein Unterschied, gerade im Hinblick auf eine pragmatisch orientierte Gesamtuntersuchung eines Texts bzw. eines Korpus. Denn wenn ein Lexem—auch mehrmals—nur in einem Text vorkommt, ist zu fragen, ob dies nicht auf den Autor selbst zurückzuführen ist oder eine Anleihe aus der textlichen Umwelt darstellt. Dies wiederum trifft für ein zweimaliges oder mehrmaliges Vorkommen in verschiedenen Texten nicht in dieser Art und Weise zu. Beides mit dislegomena, trislegomena usw. zu bezeichnen, stellt eine zu vermeidende Unschärfe dar. Deshalb ist es sinnvoll, als dislegomena, trislegomena usw. ein mehrmaliges Vorkommen eines Lexems in verschiedenen Texten eines Referenzrahmens zu bezeichnen.
Dementsprechend kann dann ein HL wie folgt definiert werden:Footnote 37 ‘Ein Hap. leg. ist somit nur dahingehend ein Einzelwort, als es in einem Text durchaus mehrmals auftreten darf, jedoch dann in einem bestimmten sprachlichen Referenzrahmen sonst nicht vorkommt’. Damit wird den Überlegungen eingangs von 3.1 Rechnung getragen.
3.2. MT, LXX und NT als gleichwertige und vergleichbare Textkorpora für HLL?
Hellen Mardaga drückt ihre Vorbehalte gegenüber den Ergebnissen der Homerforschung und deren Übertragbarkeit auf eine Analyse der HLL im Bereich der Bibelstudien in fünf kritischen Bemerkungen aus, die hier nicht wiedergegeben werden müssen. Entscheidend erscheint dabei, dass sie die Frage nach der Vergleichbarkeit von Forschungsergebnissen nicht an der Vergleichbarkeit von unterschiedlichen Textkorpora festmacht. So führt sie selbst MT, LXX und NT als sprachlichen Bezugsrahmen für die Untersuchung und den Ausweis von HLL an.Footnote 38 Die Dichtung Homers ist jedoch—trotz einer komplizierten Überlieferungsgeschichte—nicht mit den biblischen Textkorpora vergleichbar, handelt es sich bei ihr doch um ein homogeneres Gebilde als bei MT, LXX und NT.Footnote 39 Vielmehr noch sind auch MT, LXX und NT miteinander nicht so einfach vergleichbar. Der lange Werdungsprozess der hebräischen Bibel, ihre Sprache und die Unterschiedlichkeit der literarischen Genres machen es ebenso zu einem komplexen und gleichzeitig inhomogenen Korpus wie dies für das NT in abgeschwächter Form der Fall ist, das zumindest innerhalb eines überschaubaren zeitlichen Rahmens entstand. Handelt es sich bei diesen beiden erst über die Zeit hinweg geformten und damit künstlichen Korpora immerhin um genuin verfasste Texte, so liegt der Fall der LXX gänzlich anders. Sie ist Übersetzungsliteratur, ganz gleich wie viel an Gestaltungswillen und editorischer Kompetenz man den Übersetzern selbst zubilligt. Gleichzeitig finden sich in der LXX auch originär auf Griechisch verfasste Texte. Immerhin stellt die LXX in Teilen ein einigermaßen homogenes Korpus und stellt die Kanonfrage kein brisantes Problem dar. Auch lassen sich innerhalb der beiden Korpora MT und NT noch weitere, engere formkritische Einheiten finden. Darüber hinaus besteht seit Gustav Adolf Deissmann (und Albert Thumb) Konsens darüber, dass die Texte des NT in ihre soziokulturelle und sprachliche Umwelt eingebettet sind und damit nur einen weiteren Ausdruck des damaligen Griechisch darstellen.Footnote 40 Doch auch wenn man den Kreis nicht so weit ziehen möchte, ergeben sich doch aufgrund von Abfassungszeit, Motiven, Themen und Genres oftmals mindestens genauso enge Verbindungen von neutestamentlichen Texten innerhalb des Kanons mit solchen außerhalb.Footnote 41
Deshalb erscheinen Untersuchungen einzelner Texte innerhalb der genannten Korpora sinnvoller und Ziel orientierter als dass eine Gesamtbehandlung von HLL anzustreben sei. Denn ein Ergebnis von Studien über HLL in einem speziellen Text kann sein, dem Autor bzw. Übersetzer, seiner Umwelt und seiner Lebens- und Vorstellungswelt näher zu kommen (s.o. 2.2.3 HLL mit Relevanz für Exegese/Hermeneutik?).Footnote 42 Daneben können Texte, die einer bestimmten Gruppe (z.B. die Paulusbriefe oder die Katholischen Briefe) oder einem bestimmten Genre (z.B. die synoptischen Evangelien bzw. die Evangelien) angehören als Vergleichskorpus oder diese Gruppe dann selbst als Untersuchungsgegenstand fungieren. Das soll aber keinesfalls heißen, dass MT, LXX oder NT nicht doch als Referenzrahmen dienen können. Solange nämlich die Grenzen und Probleme dieser Korpora bewusst sind und als solche auch aufgezeigt werden, sind es eben diese drei Größen, von denen traditionell—nicht erst in der Moderne—immer wieder die Rede ist. Dennoch sollte die Untersuchung eines Einzeltexts den Ausgangspunkt für das Einholen weiterer Daten außerhalb dieses Textes darstellen. So kann z.B. zunächst rein arbeitshypothetisch und unscharf von einem HL2Petr/NT und dann HLKath.Briefe/NT die Rede sein, bevor schließlich als zu setzender Begriff HLNT und/oder HLLXX.NT bzw. HLgriech.Bibel in einer Studie zu lesen sein würde.Footnote 43 Denn der traditionelle Gebrauch von Begriffen wie HLMT, HLLXX oder HLNT ist etabliert und hat sich offensichtlich auch bewährt.
Eben deshalb erscheint methodisch angebracht, immer den Einzeltext als Ausgangspunkt der Erforschung von HLL zu wählen. Natürlich bedarf es dann einer Einbettung der Ergebnisse in ein nächst größeres Korpus, die angesichts der Forschungssituation auch dezidiert zu begründen ist. Erst danach ist ein großes, vertrautes Korpus wie MT, LXX oder NT—trotz eben genannter Bedenken—als Bezugsgröße sinnvoll. Denn letztlich sind relevante Aussagen über Vorkommen und Häufigkeit von einzelnen Lexemen und damit indirekt über den Text, in dem sie vorkommen, erst durch Vergleiche mit textlichen Referenzgrößen möglich.
3.3. Hapax legomena als Aspekte einer pragmatischen Textanalyse
Die Definition führt aus pragmatischer Sicht zu weiteren Forderungen für eine sprachanalytische Untersuchung eines Textes bzw. eines wie immer umschriebenen Korpus, innerhalb derer die HLL eine bestimmte Rolle spielen. Denn, wie schon angemerkt, kann ein damit innerhalb eines Referenzrahmens seltenes Wort außerhalb dessen durchaus gebräuchlich und verbreitet sein. Gleichzeitig spielen auch weitere, in diesem Sinne seltene Wörter, die in einem Text zu finden sind, eine wichtige Rolle für dessen linguistische Erforschung, wie etwa dislegomena, trislegomena usw. im unter 3.1 definierten Sinn. Auch diese können anhand eines detaillierten Verwendungsnachweises Anhaltspunkte über eine nähere Verortung von Text und Autor geben. Entsprechend werden hierbei dann weitere, innerhalb des Referenzrahmens seltene Wörter wichtig, können deren Verwendungsnachweise helfen, das Bild eines Texts und/oder dessen Autors zu vervollständigen. Deshalb ist eine undifferenzierte und rein zweckgebundene Betrachtung von HLL unangebracht, vielmehr noch eine vertane Chance dem vermeintlichen Autor und seines Texts sprachlich näher zu kommen.Footnote 44
Doch stellen HLL bei der pragmatischen Analyse eines Texts nur einen Teilbereich unter vielen anderen dar. Ebenso wichtig ist, um im Feld der Erforschung von Vokabular und Semantik zu verbleiben, eine Betrachtung sonstiger seltener Wörter, die dann auch öfter in einem definierten Textkorpus vorkommen können. Darüber hinaus bedarf es derer ebenso wie der Einbettung der HLL in Wortfamilien und Wortfelder, um zu weiteren wichtigen Anhaltspunkten für eine nähere linguistische wie semantische Einordnung eines Textes bzw. dessen Autors zu gelangen. Denn eine solche Analyse führt vor Augen, eines welchen Vokabulars sich ein Autor, etwa zur Er- oder Bearbeitung eines bestimmten Themas, bedient.Footnote 45 Besondere Wortbildungsparadigmata und deren quantitatives Vorkommen bei HLL und sonstigen selten Wörtern sind weitere Indizien für die Verortung von Sprache und Stil innerhalb eines Texts. Exemplarisch sind zu nennen die Komposition mit Präverben und die beliebten alpha-privativum-Bildungen.Footnote 46 Beides kann einen Bedeutungsunterschied und auch einen besonderen sprachgeschichtlichen Unterschied markieren, was wiederum für die historische Einordnung eines Texts und/oder eines Autors Rückschlüsse bieten kann.
Schon zuvor war von weiteren Untersuchungsfeldern die Rede, in die HLL eingebettet werden sollten, sowie davon, dass HLL nur einen Teil einer linguistischen Untersuchung darstellen. Aus pragmatischer Sicht ist darüber hinaus zu fragen: Was ist nun mit den ausgewiesenen HLL anzustellen? So hängt etwa die Gesamtzahl ausgewiesener HLL bestimmter Texte oder Textkorpora von den angewandten Kriterien sowie der zugrunde gelegten Definition von HLL ab, so dass in Hilfsmitteln, Einzelstudien oder Kommentaren Zahl und Analyse der HLL unterschiedlichen ausfallen können.Footnote 47
3.3.1 Die Bedeutung von Textinhalt, Bezeugungslage und Referenzrahmen
Die bloße Erfassung in Listen ist sicherlich ein erster Schritt für die Analyse, wäre aber als Selbstzweck fraglich. Statistische Aussagen über HLL zeigen durchaus interessante Tendenzen auf,Footnote 48 bergen aber gleichzeitig die Gefahr einer Über- bzw. Falschinterpretation. So weist P.Cair. 10759 im Text der PA vierundzwanzig HLL in Relation zum NT als Referenzgröße auf, was in Anbetracht der relativen Kürze des erhaltenen Texts auffällig viele sind. Doch liegt in den kanonisch gewordenen Schriften des NT die Doppelthematik der Himmels- und Höllenreise (genauer formuliert der Schau des Paradieses und des Orts der Bestrafung für die vom Weg Gottes Abgewichenen) nicht in jener detaillierten Weise vor wie in PA. So erklärt sich der Umstand, dass manche Lexeme im Referenzrahmen NT oder sogar griechischer Bibel HLL darstellen, ganz einfach durch die vorliegenden Themen. Dass es sich dann bei manchen wiederum um außerhalb der griechischen Bibel durchaus gebräuchliche Lexeme handelt, sei nur am Rande erwähnt.
Noch komplizierter wird der Fall dann, wenn in weiteren Textzeugen auch weitere HLL eines Textes belegt werden. Für PA liegt noch ein zweiter griechischer Zeuge vor, Fragmente eines Pergament-Miniaturbuchs aus dem fünften Jahrhundert. Dort werden ‘die Taufe im acherusischen See’ sowie das ‘elysische Feld’ thematisiert und Idolatrie als Kernverfehlung in den Mittelpunkt gerückt, so dass dann Ἠλύσιον πɛδίον, Ἀχɛρουσία (λίμνη), ἀναναπαύστως (‘unaufhörlich’) und ɛἰδωλομανɛῖς (‘Menschen, verrückt nach Götzenbildern’) als ‘Einzelwörter’ bzw. ‘Einzelbegriffe’ der griechischen Bibel belegt werden. Damit sind die HLL der Fragmente durchaus durch die Themen bedingt, doch stellen sie gleichzeitig Auffälligkeiten dar.Footnote 49
Anders verhält es sich mit den beiden Lexemen ἀλɛκτρυών und κοκκύζω, die von dem 3,5 × 4,3 cm kleinen sogenannten Fayûm-Fragment (P.Vindob.G 2325) bezeugt sind, einem Papyrusstück mit Text vermeintlich aus einem unbekannten Evangelium.Footnote 50 Auch hier wird wichtig, wie mit auffälligen und im Vergleich mit einem Referenzkorpus singulären Lexemen in einem sogenannten apokryphen christlichen Text zu verfahren ist. Im NT ist stets von ἀλέκτωρ (Mt 26,34.74.75; Mk 14,30.68.72; Lk 22,34.60.61; Joh 13,38; 18,27) die Rede. Es sind mir auch keine Varianten in den Handschriften bekannt. Also handelt es sich bei ἀλɛκτρυών um ein HL in Relation zum Vergleichskorpus NT (vgl. aber Spr 30,31). Darüber hinaus kommt κοκκύζω in der gesamten griechischen Bibel nicht vor, ist also dann hinsichtlich dieses Referenzrahmens ein HL. Beide Lexeme sind außerhalb ihrer Referenzrahmen aber gut bezeugt, sind noch dazu semantisch stärker als die Alternativen im NT—insbesondere κοκκύζω im Vergleich mit dem im Neuen Testament üblichen φωνέω—und standen miteinander bei klassischen Autoren in gutem Gebrauch.Footnote 51
Dieses Bespiel führt vor Augen, dass (a) HLL stets im Kontext der gesamten bekannten Gräzität zu untersuchen sind, (b) auch für nicht-kanonische Texte ein analoges Vorgehen und adäquate Kriterien gelten wie für die kanonischen des NT, das jedoch als hypothetischer Referenzrahmen mit allen vorgebrachten Einschränkungen (s.o.) dienen kann, und (c) gerade die HLL in nicht-kanonischen Texten wiederum Rückschlüsse auf die Sprachverwendung des NT ermöglichen können.
3.3.2. Notwendige kontextuelle und sprachanalytische Einbettung von hapax legomena
Von der Problematik einer Übertragung von Ergebnissen der Homerforschung für Untersuchungen der HLL in MT, LXX oder NT war bereits die Rede. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Homer, wie auch andere pagane Literatur, für die griechische Bibel keine Rolle spielen. Vielmehr bestehen Verbindungslinien zwischen den verschiedensten Manifestationen griechischer Literatur und Sprache auf synchroner wie auch diachroner Ebene. Und gerade die Homerdichtung erfreute sich ganz besonderer Beliebtheit und Verbreitung, was etwa anhand von zahlreichen Papyri u.ä. aus dem Schulunterricht belegt ist. Ein überraschendes Beispiel soll gerade die diachrone Beziehung zwischen griechischen Texten und Textsammlungen verdeutlichen.
Die LXX hat in Ez 27.5 folgenden Wortlaut:Footnote 52
…ταινίαι σανίδων κυπαρίσσου ἐκ τοῦ Λιβάνου ἐλήμφθησαν τοῦ ποιῆσαί σοι ἱστοὺς ἐλατίνους.
…Bretter für (Schiffs)planken aus Zypressenholz wurden vom Libanon geholt, um dir Mastbäume aus Tannen zu fertigen.Footnote 53
Die Abweichung zwischen MT (‘Zeder’) und LXX (‘Zypresse’) mag sicherlich merkwürdig anmuten. Das eigentlich Überraschende ist jedoch etwas anderes, wie Knut Usener in seiner Bearbeitung der Stelle schreibt: ‘Dass hier Zypressenholz zu “Mastbäumen aus Tannen” verarbeitet wird, grenzt in der Welt der Realien an Zauberei—und in der Welt ihrer Worte nennt man das dann allerdings eher Intertextualität’.Footnote 54 Die Materialangabe ‘aus Tannen’ (ἐλατίνους) fehlt im hebräischen Text. Zudem ist die Formulierung ‘Mastbäume (bzw. Mastbaum) aus Tannenholz’ (ἱστοὺς [bzw. ἱστὸς] ἐλατίνους) nur bei Theodoret (zu Ez 27.5) sowie in der Odyssee (2.424 und 15.289) und zugehörigen Glossen und Kommentaren zu finden. Was auf den ersten Eindruck sinnlos erscheint, kann durchaus erklärbar sein: Der Einfluss der homerischen Diktion wirkt auch hier durch. Der Übersetzer nimmt die Formulierung mit Materialangabe im Sinne des einfacheren ‘Schiffsmast’ bzw. ‘Mastbaum’ auf und setzt sie entsprechend ein.Footnote 55 Ein Übersetzer sah sich in seiner Schulzeit sicherlich mit Homer konfrontiert.Footnote 56 Das Ganze ist umso naheliegender, wenn man von Alexandria als soziokulturellen Hintergrund ausgeht. Entsprechend liegt dann in Ez 27.5 mit dem Doppelbegriff ein Homerismus vor, der zugleich in Form von ἐλάτινος ein HL darstellt.Footnote 57
Ergo ergibt sich hieraus, dass an sich die gesamte Gräzität als Bezugsrahmen im weiteren Sinn eingeblendet wird. Denn einerseits ist mitunter die Häufigkeit eines Wortes außerhalb eines Referenzrahmens gegeben, innerhalb dessen das Wort selten oder einzeln ist.Footnote 58 Andererseits ermöglicht gerade der Rückgriff auf Sprachmaterial außerhalb des gesetzten Referenzrahmens erst im Einzelfall konkrete Schritte für Interpretation und Verortung eines Lexems, so wie das von Knut Usener eindrücklich vorgeführte Beispiel Ez 27.5 in Verbindung mit Homer, Odyssee 2.424 und 15.289, vor Augen führt.
Allerdings stößt die Pragmatik dann an ihre Grenzen, wenn wirklich, wie mehrmals oben erfolgt, die gesamte Gräzität als Referenzgröße für die Behandlung von HLL eingefordert wird. Dadurch werden nicht nur Fragen nach der zeitlichen und geographischen Abgrenzung aufgeworfen, sondern ergeben sich mitunter massive Probleme hinsichtlich der Verfüg- und Erreichbarkeit der relevanten Quellen und das trotz der hervorragenden Recherchewerkzeuge mit Hilfe von Computer und Internet.
Doch werden diese Schwierigkeiten durch die explizite Nennung der in Anspruch genommenen Referenzquellen und durch das Bewusstsein, dass es sich bei den HLL nur um ein Element der sprachanalytischen Untersuchung eines Textes oder mehrerer Texte handelt, abgeschwächt. Die Erforschung der HLL für sich selbst ergibt allenfalls Tendenzen für die Verortung eines Autors und Texts. Denn erst die Zusammenschau aller gesammelter Ergebnisse wird den Wert der Analyse von HLL aufscheinen lassen, die wie ein Stück eines großen Puzzles ihren Anteil an der Vervollständigung eines Bildes hat. Demnach ging es in dieser Studie auch nicht um die Be- oder sogar Entwertung anderer Ansichten über HLL, sondern um Entwicklung, Formulierung und Auslegung einer Definition von HLL, die sich stets in der Praxis einer pragmatisch-orientierten Sprachanalyse, d.h. einer multiperspektivischen Untersuchung von Stil und Sprachverwendung eines Autors, eines Texts oder eines Korpus als brauchbar und richtig erweisen muss.
Aus der Tatsache, dass die Sprache des Neuen Testaments und ihrer Autoren folgerichtig in ihre jeweilige sprachliche Umwelt eingebettet und damit dem Sprachgebrauch auch außerhalb dieses Referenzrahmens verpflichtet ist, ergibt sich zwangsläufig, dass es deutliche Verbindungspunkte in Stilistik und Sprachverwendung mit eben jener griechisch-sprachigen Umwelt geben muss. Das gilt natürlich analog für die Septuaginta sowie generell für alle Texte des frühen Christentums, ganz gleich ob es sich um Gebrauchstexte (z.B. Hymnen, Gebete und Homilien) oder etwa apokryphe Literatur handelt. Entsprechend fand gerade formelhafte Sprache Niederschlag:
Der LXX-Psalm 120,8a weist die Folge ‘seinen Eingang und seinen Eingang’ auf (τὴν ɛἴσοδόν σου καὶ τὴν ἔξοδόν σου), obgleich ansonsten die Abfolge ‘sein Ausgang und sein Eingang’ in der hebräischen Bibel anzutreffen ist. In dokumentarischen Papyri allerdings ist genau die Reihung ‘Eingang—Ausgang’ eine feste Formel, insbesondere im Bereich des Grundstücksrechts. Deshalb liegt nahe, die Folge in Psalm 120,8a auf die sprachlichen und rechtlichen Gepflogenheiten außerhalb der Bibel zurückzuführen.Footnote 59
Bei χɛιρόγραφον in Kol 2,14 handelt es sich um ein HL, für das Gewinn bringend auf die ebenfalls als χɛιρόγραφον (‘Handschein’) bezeichnete Privaturkunde rekurriert werden kann, die häufig durch Papyri belegt ist. Dort ist die rechtlich bindende Selbstverpflichtung, konkret ausgedrückt durch die eigenhändige Schrift, zentral.Footnote 60
Ein weiteres Beispiel stellt die Reaktion der Mitglieder des Sanhedrin auf die Rede des Petrus in Apg 4,13 dar: ἄνθρωποι ἀγράμματοί ɛἰσιν καὶ ἰδιῶται. Was auf dem ersten Blick als pejorative Verunglimpfung von Petrus und Johannes daherkommt, erweist sich auf Grundlage der Verwendung von ἀγράμματος (zusammen mit ἰδιώτης) in sogenannten Illiteraten-Formeln in Papyrusurkunden als Ausweis dafür, dass es sich bei der so bezeichneten Partei in einem Rechtsgeschäft um jemand handelt, der/die nicht lesen/schreiben kann. Darüber hinaus ergibt sich, dass eine solche Person (a) gleichberechtigt mit Hilfe eines ‘Schreibvertreters’ an Rechtsgeschäften partizipieren konnte und (b) nicht verunglimpft wurde. Entsprechend stünde dann für Apg 4,13 die Verwunderung der Mitglieder des Sanhedrin über die Rede dieser ihnen als ἀγράμματοι Bekannte im Vordergrund, die aus dem Kontext heraus neutral und nachvollziehbar ist.Footnote 61
Diese Beispiele zeigen, dass die Einbettung von HLL in ihren textlichen wie sozio-kulturellen Kontext unerlässlich ist.
4. Kurze Zusammenfassung
Wie gezeigt wurde, erweist sich die Definition eines sprachlichen Phänomens wie hapax legomena dann als problematisch und aus pragmatischer Sicht wenig brauchbar, wenn sie isoliert von weiteren notwendigen Schritten einer Sprachanalyse erfolgt. Denn auch hapax legomena stellen nur einen Teilaspekt einer umfassenden und detaillierten Sprachanalyse eines Textes/Autors dar, der noch zudem erst mit allen anderen Aspekten zu einem realistischen Bild von Sprachverwendung und Stil eines Texts/Autors führt. So sind entsprechende Rückfragen an Hellen Mardagas Thesen zu verstehen. Deshalb wird eine losgelöste Definition des Phänomens zugunsten einer an der Pragmatik einer Sprachanalyse orientierten Definition abgelehnt. Erst aus der Praxis von Sprachanalysen selbst ergeben sich die Rahmenbedingungen und Richtgrößen, die Stärken und Schwächen bzw. die Chancen und Probleme von Definitionsversuchen dieses Teilaspekts.
Die hier vorgeschlagene Definition wird erst dann eine brauchbare, wenn sie auch nach verschiedenen Rückfragen und Problemstellungen noch Bestand hat. Zu berücksichtigen sind etwa die Überlieferungslage eines Textes (z.B. wird durch eine varia lectio ein Lexem rasch zu einem HL oder ebenso gut von einem HL zu einem Mehrfachwort), der gesetzte Referenzrahmen (z.B. hinsichtlich einer adäquaten Eingrenzung oder der sonstigen Gräzität), die relative und absolute Verwendung eines HL (z.B. ein Lexem, das innerhalb eines Referenzrahmens nur einmal vorkommt, sonst jedoch sehr gut gebräuchlich ist), Inhalt und Register eines Textes (z.B. eine innerhalb eines Referenzrahmens sonst nicht vorkommende Thematik bzw. literarisches Bemühen eines Autors) oder die grundsätzliche wie auch natürliche Einbettung eines Lexems, Texts oder Autors in einen geographischen, zeitlichen bzw. sozio-kulturellen Kontext. So kann der Ausweis eines Lexems als HL und die Relevanz dessen rasch Relativierung erfahren. Allerdings kann so gleichzeitig ein Lexem—ohne hinter dem Siegel des terminus technicus HL zu verblassen—angemessen und für eine pragmatisch-orientierte Sprachanalyse Gewinn bringend erschlossen werden. Deshalb kann als HL auch ein Lexem gelten, das in einem Text mehrmals vorkommt oder von einem Autor mehrmals verwendet wird, jedoch außerhalb dieses Texts und Autors sonst innerhalb eines Referenzrahmens nicht mehr anzutreffen ist. Denn es ist doch ein spezielles Charakteristikum von Text/Autor gegenüber sonstigen Texten/Autoren. Das macht jedoch nur dann Sinn, wenn der Referenzrahmen stets überprüft und als solcher auch für das HL jeweils angegeben wird.