Helmut Schmidt, der frühere deutsche Bundeskanzler, war bekannt für seine Rhetorik. Zu seinen wirksamsten Mitteln gehörte eine Vorgehensweise, die vielleicht niemand sicher als Rhetorik erkannt hätte, wenn nicht einer seiner Redenschreiber in einem Interview Bewunderung dafür geäußert hätte, wie Schmidt manchmal in einer Rede zögerte, offenbar nach einem besonders gut passenden Wort suchte, nicht sofort fündig wurde und schließlich genau das Wort gebrauchte, das von Anfang an in seinem Manuskript gestanden hatte.Footnote 1
Das Zögern Schmidts hatte mit der Suche nach einem passenden Wort nichts zu tun, sondern war ein kalkuliertes Mittel, um den Eindruck von Spontaneität, von fehlender Vorbereitung, von Unmittelbarkeit und Direktheit zu erzielen. Im Nachhinein können wir belegen, dass der Eindruck falsch war. Schon manche Bundestagsabgeordneten, die Schmidts Reden hörten, hatten einen solchen Verdacht, auch wenn sie das nicht sicher wissen konnten. Als Schmidt wieder einmal zur Decke des Plenarsaals schaute und dort intensiv nach dem richtigen Ausdruck suchte, rief der Abgeordnete Norbert Blüm ihm zu: „Guck aufs Blatt!“ Die übrigen Abgeordneten sollen sehr erheitert und Schmidt soll sehr verärgert gewesen sein.Footnote 2
Bereits in der antiken Rhetorik wurden dieser und ähnliche Kunstgriffe behandelt.Footnote 3 In rhetorischen Abhandlungen aus verschiedenen Jahrhunderten finden sich immer wieder Aussagen zu den Bedingungen, Möglichkeiten und Vorteilen einer dissimulatio artis, also einer Verheimlichung der eigenen rhetorischen Kunst. Der Grund, warum das Thema für uns relevant ist, liegt natürlich nicht in den Reden Helmut Schmidts, auch nicht in den möglicherweise nur scheinbar naiven Tweets Donald TrumpsFootnote 4 oder – um die Breite möglicher Bezüge anzudeutenFootnote 5 – in der stets kunstvoll verwuschelten Frisur von Boris Johnson, sondern in Äußerungen des Paulus, die man als Verheimlichung der eigenen Redekunst auffassen könnte.
Paulus scheint von Rhetorik nichts zu verstehen und nichts zu halten. Zum einen nennt er sich einen „Amateur in der Rede“ (2 Kor 11.6). Im Urteil von Kritikern in Korinth war „seine Rede nichts wert“ (2 Kor 10.10). Zum anderen beurteilt er die Rhetorik insgesamt negativ. In den ersten vier Kapiteln des 1 Kor stellt er die Torheit des Kreuzes der Weisheit der Welt entgegen. Zu letzterer gehören rhetorische Fähigkeiten.
Obwohl Paulus also gegenüber der Rhetorik eine sehr ablehnende Haltung einnimmt, sind doch viele heutige Ausleger davon überzeugt, dass er sich der Rhetorik bedient hat. In seinen Briefen werden in einer großen Zahl von Veröffentlichungen rhetorische Genera, Rededispositionen und Redeschmuck analysiert. Wie man die Ergebnisse erklären und bewerten soll, ist zwar umstritten. Dass sich eine Vielzahl von Textphänomenen findet, die der Rhetorik zugeordnet werden können, ist aber unstrittig. Und diese Diskussion ist nicht neu: Schon bei manchen Kirchenvätern begegnet die Überzeugung, dass Paulus ein versierter Redner war.Footnote 6
Eine mögliche Lösung für diese Spannung könnte die Annahme sein, Aussagen wie 2 Kor 11.6 seien Bescheidenheitstopoi und damit Teil einer weit umfassenderen rhetorischen Strategie, eben der sogenannten dissimulatio artis. Paulus könnte sich als „Amateur in der Rede“ bezeichnen, um seine rhetorischen Fertigkeiten zu verbergen. Seine Leugnung wäre dann gerade ein Ausdruck rhetorischen Könnens. Seine Selbstdistanzierung von der Rhetorik wäre in Wirklichkeit ein Bekenntnis zu ihr. Diese Lösung wurde von manchen Stimmen vorgeschlagen, allerdings bisher, soweit ich weiß, nie in ihren Voraussetzungen und Implikationen genauer untersucht. In meinem Beitrag möchte ich deshalb der Frage nachgehen: Gibt es bei Paulus tatsächlich eine dissimulatio artis, und wenn ja, wie ist sie zu deuten? Um diese Frage beantworten zu können, werde ich mich zunächst mit der Rhetorik im griechisch-römischen Kontext des Paulus beschäftigen.
1. Die dissimulatio artis in der paganen Literatur der Antike
Im Verhältnis zu ihrer potentiellen Bedeutung ist die Präsenz der dissimulatio artis in der Forschungsliteratur ausgesprochen gering. Es gibt bisher keine einschlägige Monographie. Die ausführlichste Darstellung bietet Christoff Neumeister im Rahmen einer Analyse von Gerichtsreden Ciceros.Footnote 7 Paolo d'Angelo behandelt die antike Verheimlichungsstrategie als Vorläuferin neuzeitlicher Phänomene.Footnote 8 Auf die dissimulatio artis fokussiert sind ein Aufsatz von Øivind AndersenFootnote 9 und ein Artikel im Historischen Wörterbuch der Rhetorik von Dietmar Till.Footnote 10 Ansonsten finden sich nur relativ beiläufige Bezugnahmen in anderen Zusammenhängen, die allerdings z.T. sehr hilfreich sind.Footnote 11
Natürlich kann ich hier keinen Gesamtüberblick zur Geschichte dieses rhetorischen Mittels bieten. Es sollen nur einige relevante Redner und Rhetoriker (Lysias, Aristoteles, Cicero und Quintilian) besprochen werden.Footnote 12
1.1 Exemplarische Texte
1.1.1 Lysias (im Urteil des Dionysius von Halikarnass)
Schon von Rednern des 5./4. Jh.s v.Chr. wurde die dissimulatio artis praktiziert. Besonders anerkannt darin war Lysias (c. 445–380 v.Chr.), der allerdings diese Kunst selbst nicht erläutert. Deshalb zitiere ich Dionysius von Halikarnass (1. Jh. v.Chr.), der in seinen Essays zu berühmten Rednern an Lysias die scheinbare Natürlichkeit hervorhebt:
Der Stil seiner Wortfügung scheint nicht geschliffen und nicht kunstvoll zu sein und es sollte mich nicht wundern, wenn er allen Laien (ἰδιώταις), aber auch nicht wenigen Philologen … einen solchen Anschein machte. Denn er ist ohne Sorgfalt und nicht nach den Regeln der Kunst, sondern irgendwie von selbst (αὐτομάτως) und zufällig (ὡς ἔτυχε) gemacht. Dabei ist er stärker bearbeitet als jedes Kunstwerk. Denn dieses Ungeschliffene an ihm ist geschliffen und das Lockere gebunden. Das Geschickte liegt gerade darin, den Anschein zu erwecken, nicht geschickt gemacht zu sein (ἐν αὐτῷ τῷ μὴ δοκεῖν δεινῶς κατεσκευάσθαι τὸ δεινὸν ἔχει).Footnote 13
Diese Art des Stils ist im Urteil des Dionysius am besten für den Gerichtssaal geeignet, weil dort für die Hörer, die selbst in der Landwirtschaft oder im Handel tätig sind, gilt: „Alles, was sie nicht zu hören und zu sagen gewohnt sind, macht sie feindselig.“Footnote 14
Besonders bewunderte Dionysius an den Reden des Lysias die gekonnten narrationes:
Wer die narrationes des Lysias liest, dürfte wohl vermuten, dass nichts nach den Regeln der Kunst oder unehrlich gesagt wird, sondern so, wie die Natur und die Wahrheit es mit sich bringt. Dabei versteht er nicht, dass eben darin die Kunst lag, weil die Nachahmung der Natur ihre größte Leistung war.Footnote 15
Die Einfachheit, scheinbare Natürlichkeit und Wirksamkeit des Stils des Lysias wurden auch später immer wieder gerühmt.Footnote 16 Diese Charakterisierungen werden durch die von Lysias überlieferten Reden bestätigt.Footnote 17
1.1.2 Aristoteles
Eine theoretische Darstellung der dissimulatio artis finden wir zum ersten Mal bei
Aristoteles. In Rhet. 1404b definiert er sein rhetorisches Stilideal: Die Rede muss einerseits klar und gut verständlich sein, sollte andererseits aber auch eine gewisse Extravaganz besitzen.
Man muss (die Rede) unmerklich (λανθάνειν) komponieren und nicht den Anschein des gekünstelten (πεπλασμένως), sondern des natürlichen (πεφυκότως) Redens erwecken – diese[s] nämlich ist überzeugend (πιθανόν), jenes aber das Gegenteil, denn (die Zuhörer) lehnen es ab, wie gegenüber jemandem, der etwas im Schilde führt (πρὸς ἐπιβουλεύοντα), wie bei den gemischten Weinen –, so ergeht es zum Beispiel der Stimme des Theodoros im Vergleich mit den Stimmen der anderen Schauspieler. Die nämlich scheint die Stimme des Redenden zu sein, die anderen aber fremde. Es ist gut verborgen (κλέπτεται δ’εὖ), wenn man durch Auswahl aus der gewöhnlichen Sprache die Rede zusammenstellt.
…
Wenn daher einer die Rede gut macht, wird sie offensichtlich fremdartig (ξενικόν) sein und (dabei) in der Lage, es zu verbergen (λανθάνειν), und sie wird klar sein. Dies nämlich war, wie wir sagten, die Vortrefflichkeit der rhetorischen Rede (ἡ τοῦ ῥητορικοῦ λόγου ἀρετή).Footnote 18
Die Rede darf also weder zu einfach noch zu extravagant sein. Man muss seiner Rede ein besonderes, ungewöhnliches, fremdartiges Flair geben, darf dabei aber nicht übertreiben. Die Kunst des Redners besteht darin, hier das richtige Maß zu finden. Das ist offenbar deshalb so wichtig, weil nur so die Hörer erreicht und gefesselt werden. Dahinter steht also nicht primär eine ästhetische, sondern eine praktische Überlegung: Eine Rede, die dieses Maß nicht findet, stößt entweder durch Banalität oder durch Künstelei ab. Künstelei im Sinne übertriebener Extravaganz ist nicht etwa deshalb zu vermeiden, weil sie das Stilempfinden der Hörer verletzt, sondern weil sie den Hörern verdächtig ist.
Es handelt sich hier eindeutig um dissimulatio artis. Wie beim Schauspieler die große Kunst darin liegt, die Stimme als die eigene, also natürlich klingen zu lassen und zugleich von der Alltagsstimme verschieden, so muss der Redner zugleich vertraut (so, wie es im Alltag jeder macht) und fremdartig (so, wie es im Alltag niemand macht) sprechen, ohne dass der Hörer den Unterschied benennen könnte.
1.1.3 Cicero
Ich übergehe einige andere griechische Zeugen und komme gleich zum bedeutendsten römischen Rhetoriker, zu Cicero. Besonders relevante Aussagen finden sich im Orator, einem späten Werk, das kurz vor Ciceros Tod entstanden ist. Hier entfaltet er seine Idealvorstellung eines Redners. Cicero unterscheidet klar zwischen Reden vor Gericht und vor der Volksversammlung einerseits und epideiktischen Reden andererseits:
[W]enn der Hörer [sc. bei Reden außerhalb der Gerichte und der Volksversammlung] nicht befürchtet, dass durch den Hinterhalt einer (kunstvoll) verfassten Rede versucht wird, seiner Überzeugung beizukommen, ist er dem Redner dankbar, der dem Vergnügen seiner Ohren dient. Aber diesen Redestil darf man sich bei öffentlichen Streitfällen (ad causas forensis) weder insgesamt zu eigen machen noch völlig zurückweisen. Denn wenn man ihn immer anwendet, bewirkt er einerseits Überdruss, andererseits wird sogar von unerfahrenen (Hörern) erkannt, was es damit auf sich hat; außerdem … zerstört er von Grund auf (den Eindruck von) Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit.Footnote 19
Auch in Reden vor Gericht und in deliberativen Reden gibt es manchmal die Möglichkeit, einen rhythmisch geprägten Stil anzuwenden, vor allem in preisenden und erzählenden Partien und grundsätzlich in der peroratio.Footnote 20 Meistens muss sich der Redner aber um einen schlichten Stil bemühen, also einen Stil, bei dem alle Hörer den Eindruck haben, ebenso sprechen zu können:
Denn diese Schlichtheit der Rede (orationis subtilitas) scheint zwar leicht nachzuahmen, wenn man sie (bei anderen) beurteilt, aber nichts ist weniger leicht nachzuahmen, wenn man es selbst versucht.Footnote 21
Der einfache Stil, den Cicero für bestimmte Zusammenhänge empfiehlt, ist demnach kein Verzicht auf rhetorische Kunst, sondern dient ihrer Verheimlichung – ein Stil, der kunstlos wirkt, ohne es zu sein.Footnote 22 Dort, wo das Herausstellen der eigenen rhetorischen Kunst dem Erfolg der Rede schadet, lehnt er es ab. Grundsätzlich bekennt er sich aber durchaus dazu, als Redner auch Bewunderung auf sich ziehen zu wollen:
Der beredte Mann, der nicht nur Zustimmung, sondern, wenn es zulässig ist (si liceat), auch Bewunderung und Beifallsrufe auslösen muss, sollte in allem so herausragen, dass es für ihn eine Schande ist, wenn irgendetwas lieber [sc. als seine Rede] angeschaut oder angehört wird.Footnote 23
1.1.4 Quintilian
Die Verbreitung der dissimulatio artis scheint ab dem Beginn des römischen Prinzipats etwas zurückgegangen zu sein. Das hängt damit zusammen, dass in der Kaiserzeit gerade die epideiktische Rede immer wichtiger wurde. In dieser Redegattung war aber die Verheimlichung der eigenen Rhetorik nicht sinnvoll, ganz im Gegenteil: Das Publikum erwartete Beweise glänzender Redekunst.
Trotz des Rückgangs der dissimulatio artis wird sie von Quintilian empfohlen. Das rhetorische Lehrbuch in zwölf Büchern, das er im Alter verfasst hat, die Institutio oratoria, kommt häufig auf dieses Mittel zu sprechen. Quintilian gehört zu einer rhetorischen Richtung im 1. Jh. n.Chr., die eine immer stärkere Ästhetisierung der Rhetorik als Verfall ansah und sich von ihr distanzierte.Footnote 24 Der Gegensatz zeigt sich z.B. bei seiner Behandlung der narratio:
Besonders in diesem Teil [der Rede] muss man jeden Verdacht schlauer Berechnung (calliditatis) vermeiden, denn nirgendwo ist der Richter wachsamer. Nichts darf ausgedacht (fictum), nichts besorgt (sollicitum) erscheinen. Alles muss den Eindruck erwecken, mehr von der Sache als vom Redner auszugehen. Aber das können wir [heute] nicht mehr aushalten und wir glauben, die Kunst gehe zugrunde, wenn sie nicht erkennbar ist, obwohl sie doch aufhört Kunst zu sein, wenn sie erkennbar wird. Wir machen uns vom Lob abhängig und halten es für den Höhepunkt unserer Mühe. Auf diese Weise verraten wir den Richtern, was wir den Umstehenden zeigen wollen.Footnote 25
Die Begründung, die Quintilian für die Forderung der Verheimlichung gibt, ist: Die Rede soll nicht den Redner, sondern die Sache hervortreten lassen. Das ist kein Plädoyer dafür, sich möglichst weitgehend an die Wahrheit zu halten, sondern nur, diesen Eindruck zu erwecken, insbes. beim Richter. Dadurch, dass der Redner scheinbar hinter die Sache zurücktritt, macht er seine Rede vor GerichtFootnote 26 glaubwürdig und erfolgreich. Das ist für Quintilian gekonntere Rhetorik als das zu seiner Zeit verbreitete Spiel mit rhetorischen Effekten, die die Hörer begeistern.
Quintilian beklagt allerdings, nicht nur die Redner, sondern auch die Hörer hätten ihre Auffassung von einer angemessenen Rede geändert. Der Einsatz rhetorischer Effekte werde jetzt viel öfter erwartet als früher. In bestimmten Fällen muss der Redner deshalb einen Mittelweg zwischen gegensätzlichen Erwartungen finden: Er muss den Hörern einen scheinbar nur an der Sache orientierten Vortrag bieten und sie doch zugleich durch rhetorische Gestaltung unterhalten. Dabei kann er sich nicht allein auf das Urteil der Gebildeten verlassen, die trotz oder gerade wegen der gezielten Verheimlichung die rhetorische Qualität einer Rede erkennen, sondern er muss sich auch um den Beifall der weniger Gebildeten bemühen:
Durch gepflegten Redeschmuck (cultu atque ornatu) empfiehlt sich der Redner aber auch selbst. Während es ihm sonst um das Urteil der Gebildeten (iudicium doctorum) geht, zielt er damit auch auf das Lob der einfachen Leute (popularem laudem) und ficht nicht nur mit starken, sondern mit glänzenden Waffen … Aber dieser Redeschmuck fördert auch nicht wenig den Fall selbst. Denn wer gerne zuhört, ist aufmerksamer und schenkt leichter Glauben, wird meistens durch eben dieses Vergnügen gewonnen und manchmal durch Bewunderung mitgerissen … Zu Recht schreibt Cicero in einem Brief an Brutus wörtlich: „Denn eine Beredsamkeit, die nicht bewundert wird, halte ich nicht für Beredsamkeit.“Footnote 27
Das Cicerozitat erinnert daran, dass schon früher die Verheimlichung nicht das einzige Prinzip für die rhetorische Gestaltung einer Rede gewesen war. Bei Quintilian geht die Aufgeschlossenheit für offen erkennbare Rhetorik aber deutlich weiter als bei seinen Vorgängern.
1.2 Auswertung
1.2.1 Gebiete, Mittel, Motive und Grenzen
Das zentrale Gebiet der dissimulatio artis war ohne Frage die Rede vor Gericht, wobei sie hier für manche Redeteile mehr Bedeutung hatte als für andere. Für die deliberative Rede wird die Verheimlichung der eigenen Rhetorik meistens empfohlen, für die epideiktische Rede meistens abgelehnt.Footnote 28 Die Forderung der dissimulatio kann innerhalb des Gebiets der Rhetorik so ausgedehnt werden, dass jede Redesituation betroffen ist. Es sind auch Ausweitungen in andere Gebiete zu erkennen, die ich hier nicht behandeln kann: in die Philosophie,Footnote 29 in die HistoriographieFootnote 30 und BiographieFootnote 31 und sogar in die Lyrik.Footnote 32 Die dissimulatio artis war ein sehr weit verbreitetes Phänomen und kam in die Nähe einer Schreibhaltung.
Um seine Kunst zu verheimlichen, soll ein Redner zunächst auf eindrucksvolle und deshalb leicht zu erkennende rhetorische Mittel verzichten. Vor allem Wortwahl, Satzbau und Ornatus sollen schlicht gehalten werden und sich der alltäglichen Sprache und der Stegreifrede annähern. Dazu kommen verschiedene Topoi, die dem Redner empfohlen werden: Er kann z.B. auf seine Unerfahrenheit, auf seine Unterlegenheit gegenüber den rhetorisch versierten Gegnern oder auf die Übereinstimmung der Rede mit seinem sonstigen Auftreten hinweisen. Das Ideal ist meist eine scheinbare Spontaneität und Natürlichkeit, deren tatsächliches Raffinement von Laien nicht zu erkennen ist. Dadurch vermeidet der Redner den Eindruck, sich selbst den Hörern überzuordnen.
Eine konsequente Weiterführung dieser Tendenz, die eigene Person zurückzunehmen, ist die Einführung einer normativen Instanz, die den Redner als Sprachrohr benützt. Nicht er selbst, sondern eine höhere Autorität leistet dann die Überzeugungsarbeit. Das kann „die Sache“, „die Wahrheit“, „die Natur“ oder etwas Ähnliches sein. Dadurch können Widerstände bei den Hörern gegen die Beeinflussung überwunden werden.
Unter den Motiven für die dissimulatio artis wird am häufigsten genannt, sie sei anzuwenden, um den Verdacht vor allem des Richters auf Manipulation zu zerstreuen. Besonders im Fall einer sozial hoch gestellten Persönlichkeit wäre ein solcher Manipulationsversuch ein Affront. Das positive Gegenstück dazu besteht in der Inszenierung der eigenen Lauterkeit, Wahrhaftigkeit und damit Glaubwürdigkeit, die der Wirkung der Rede zugutekommen. Daneben gibt es aber noch weitere Motive: die Vermeidung des Eindrucks von Bildung, von Banalität und vor allem von Selbstruhm. Insgesamt geht es um das Bild eines allein an der Sache orientierten und auch in den erkennbaren Emotionen authentischen Redners.
Die Grenzen der dissimulatio artis lassen sich an einer Ambivalenz erkennen, die von Anfang an in der antiken Rhetorik zu beobachten ist, die sich aber ab dem 1. Jh. n.Chr. verstärkt: die Spannung zwischen dem Zeigen und dem Verbergen der Kunst. Auch wenn manche Formulierungen so klingen, als sei die Verheimlichung der eigenen Rhetorik ein absolutes, überall gültiges Prinzip,Footnote 33 lässt sich das bei näherem Zusehen keinesfalls bestätigen. Es ging nie ausschließlich darum, der Rede auf Kosten des Redners zur Wirkung zu verhelfen. Kein Redner trat völlig hinter der Sache zurück. Wenn Cicero schreibt: „Eine Beredsamkeit, die nicht bewundert wird, halte ich nicht für Beredsamkeit“ (vgl. o.), dann formuliert er damit eine allgemeine Überzeugung. Grundsätzlich ging es immer sowohl um ein Verbergen als auch um ein Demonstrieren von Rhetorik.Footnote 34
Sogar die Mittel des Verbergens selbst können eine besondere Kunstfertigkeit demonstrieren und von kundigen Hörern geschätzt und vielleicht sogar erwartet werden. Die eingesetzten Mittel sind unterschiedlich leicht wahrzunehmen. Besonders einfach und auch für Laien als Fiktionen erkennbar dürften die weit verbreiteten Topoi gewesen sein, mit denen Redner ihre Unfähigkeit oder ihre mangelhafte Vorbereitung herausstellten.Footnote 35 Sehr viel kunstvoller und schwerer wahrzunehmen ist das, was Cicero die neglegentia diligens Footnote 36 nennt, eine scheinbare Nachlässigkeit und Schlichtheit beim Reden. Gerade ein solcher Stil, der besonders einfach erscheint, ist besonders schwer zu erzeugen und besonders schwer zu durchschauen.
Diese Ambivalenz ist erstaunlich. Wie kommt es, dass die Redner selbstverständlich eingesetzte rhetorische Mittel zu verheimlichen suchten, zugleich aber für ihre Beredsamkeit, sogar für die Verheimlichung selbst, Bewunderung erwarteten? Wie kommt es, dass die Hörer rhetorische Mittel verdächtig und anstößig fanden, sie aber zugleich selbstverständlich erwarteten und bewunderten? Im Folgenden versuche ich, für diese Ambivalenz eine Erklärung zu bieten und daraus Merkmale der dissimulatio abzuleiten.
1.2.2 Merkmale
Die dissimulatio artis spiegelt in ihrer Ambivalenz von Zeigen und Verbergen zwei Funktionen der antiken Rhetorik. Deren Grundfunktion war seit den Anfängen natürlich die Überzeugung, also die Beeinflussung der Hörer im Sinne des Redners. Als eines von vielen rhetorischen Mitteln konnte hier die Verheimlichungsstrategie hilfreich sein: Der Redner trat in den Hintergrund und vermied alles, womit er sich in der Wahrnehmung der Hörer diesen übergeordnet hätte (Selbstruhm, erkennbar planvolles Vorgehen, gehobene Sprache und andere Merkmale von Bildung).
Daneben – und das ist ihre zweite Funktion – war die Rhetorik aber auch ein Statusmerkmal. Eindrucksvolle Beredsamkeit verschaffte dem Redner Ruhm und Bewunderung und trug so zur Erhöhung seiner sozialen Geltung bei.Footnote 37 Diese Funktion beruhte nun aber gerade auf dem Zeigen der Kunst, also auf der Wahrnehmbarkeit der rhetorischen Mittel. Wenngleich sich der Redner den Hörern nicht überordnen sollte, sollte er sich doch von ihnen abheben. Er sollte zwar vertraut sprechen und so, wie sie es sich selbst zutrauen würden, zugleich aber extravagant und fremd, um von ihnen bewundert zu werden.
In der Regel erfüllen antike Reden beide Funktionen, allerdings in unterschiedlicher Gewichtung. Sie zielen zugleich auf Überzeugung – der Redner will Einfluss nehmen, auch und gerade, indem er sich zurücknimmt – und auf Status – der Redner will bewundert werden, indem er zeigt, was er kann; die Hörer schätzen und genießen das und schreiben ihm deshalb erhöhten Status zu. Die beiden Funktionen verbinden sich in der Realität, wobei die Gewichtung auch innerhalb ein und derselben Rede variieren kann. Sie überlagern sich sogar: Auch das rhetorische Zurücktreten des Redners kann seinem Ruhm und seiner Ehre dienen, entweder direkt, indem es als Kunstgriff erkannt wird, oder indirekt, indem es der Rede Erfolg verleiht, ohne als Kunstgriff erkannt zu werden; auch offensichtliche rhetorische Kunst (und der dadurch erlangte Status) kann dazu beitragen, Einfluss zu nehmen.Footnote 38 Es liegt also immer eine Mischung vor: Die Rede muss ihre Kunstfertigkeit zeigen und verbergen.
Die dissimulatio artis verfolgt, indem sie die Intention planvoller Beeinflussung verbirgt, primär den Zweck, gerade diese Funktion der Überzeugung stark zu machen. Das Ziel der Leugnung bzw. Verheimlichung ist, ungehindert Einfluss nehmen zu können. Der Redner tritt fiktiv in den Hintergrund und versucht, unter scheinbarem Verzicht auf jede eigene Einflussnahme die Einstellungen der Hörer in seinem Sinne zu verändern. Ein wichtiges Mittel ist dabei die implizite oder explizite Fiktion einer höheren Autorität, die durch den Redner spricht und die zu Recht Gehorsam erwartet. Mit dieser Überzeugungsfunktion ist in der Regel als sekundäre Funktion die des Statusgewinns verbunden, denn der Einsatz der bewussten Verheimlichung kann den Ruhm des Redners fördern – insbes. dann, wenn sie von den Hörern als rhetorisches Mittel erkannt wird.
Daraus ergeben sich drei Merkmale, die in einer antiken Rede (und auch in Texten anderer Gattungen) eine dissimulatio artis erkennen lassen:
(1) Der Redner verzichtet, manchmal zugunsten der Stimme einer normativen Instanz, explizit oder implizit auf den Anspruch, eigene rhetorische Kompetenz zu besitzen oder anzuwenden.
(2) Diese Selbstverkleinerung des Redners und ggf. seine Selbstbeschränkung auf eine Rolle als Sprachrohr ist fiktiv oder enthält zumindest fiktive Elemente.
(3) Das Verbergen der rhetorischen Kunst soll in der Regel nicht nur die Chance der Einflussnahme erhöhen, sondern erkennbar auch zum Ansehen und zur Geltung des Redners beitragen.
2. Dissimulatio artis bei Paulus?
Die Untersuchung der dissimulatio artis im ersten Teil war dadurch veranlasst, dass dieses rhetorische Mittel eine Erklärung für eine deutliche Spannung bieten könnte: Einerseits distanziert sich Paulus von der Rhetorik, andererseits entdecken nicht erst die heutige Exegese, sondern bereits die Kirchenväter in seinen Briefen angewandte Rhetorik. Könnte es sein, dass Paulus ähnlich wie viele antike Redner sein rhetorisches Können bewusst verheimlichte? Ist also sein auf den ersten Blick eindeutiges Eingeständnis in 2 Kor 11.6, ein „Amateur in der Rede“ zu sein, in Wirklichkeit ein Hinweis auf rhetorisches Raffinement, so dass man diesem Satz gerade nicht entnehmen kann, dass Paulus kein rhetorisches Können besaß?
Die Untersuchung wird zunächst 2 Kor 11.6 in den Blick nehmen, weil dieser Text im gesamten Corpus Paulinum am ehesten für eine dissimulatio in Frage kommt. Anschließend soll es um die abwertenden Äußerungen zur Redekunst in 1 Kor 1–4 gehen. Bei beiden Texten muss ich mich natürlich auf ganz wenige Aspekte beschränken.
2.1 2 Kor 11.6Footnote 39
Das Eingeständnis, „ein Amateur in der Rede“ zu sein, nimmt Bezug auf einen Vorwurf, der in 10.10 zitiert wurde: „Die Briefe, so heißt es, sind gewichtig und stark, seine körperliche Präsenz aber ist schwach und seine Rede nichts wert.“ Dieser Vorwurf stammte vermutlich von Gegnern des Paulus in Korinth, in deren Sicht seinem persönlichen Auftreten Durchsetzungsbereitschaft und -fähigkeit fehlten, was sich auch in seiner wertlosen Rede ausdrückte.
In 11.6 nimmt Paulus speziell zu dem Vorwurf wertloser Rede Stellung. Er räumt ein, ein ἰδιώτης τῷ λόγῳ zu sein. In Verbindung mit 10.10 ist das kaum anders zu lesen als das Eingeständnis eigener rhetorischer Schwäche.Footnote 40 Nur in sehr wenigen Auslegungen wird ein Bezug zur Rhetorik geleugnet oder eingeschränkt. Wenn ἰδιώτης τῷ λόγῳ einen rhetorischen Amateur meint,Footnote 41 dann bedeutet das: Paulus schließt für sich eine Ausbildung in Rhetorik aus. Sofern man darunter, wie der Begriff ἰδιώτης es nahelegt, ein Rhetorikstudium versteht, ist das keine Überraschung, denn ein solches Studium war einer sehr kleinen Elite vorbehalten. Von vorneherein kann als sehr wahrscheinlich gelten, dass Paulus keine höhere Bildung in einer Rhetorikschule erhalten hat. Dasselbe dürfte nun aber auch von seinen Gegnern gelten. Wir wissen von ihnen zwar sehr wenig,Footnote 42 aber dass das Christentum zur Zeit des Paulus noch nicht die gesellschaftliche Elite erreicht hatte, ist kaum zu bezweifeln. Wenn Paulus also schreibt: „Ich bin ein Amateur in der Rede“, formuliert er, strenggenommen, nur eine Selbstverständlichkeit, die für alle Missionare, auch für seine Gegner, gilt. Im Kontext gelesen (vgl. V. 5) besagt der Ausdruck zwar noch mehr: Paulus räumt ein, dass er in rhetorischer Hinsicht seinen Gegnern unterlegen ist. Aber das sagt er eben nicht direkt. Seine Wortwahl enthält nicht nur eine Unterlegenheit, sondern auch eine Relativierung dieser Unterlegenheit: „Wer von uns ist denn schon ein professioneller Redner?“
Ein Problem mit dem Eingeständnis in 11.6 ergibt sich, wenn man 10.1–11 dazunimmt. Dort kündigt Paulus einen regelrechten Kriegszug für den Fall an, dass es bei seinem bevorstehenden Besuch Widerstand und Ungehorsam geben sollte. Wenn die Gemeinde sich nicht von den Rivalen distanziert, wird sie einen durchsetzungswilligen und -fähigen Apostel erleben, der sie zum Gehorsam gegenüber Christus und gegenüber seinem Repräsentanten, Paulus selbst, zwingen kann und wird. Gegenüber den Vorwürfen seiner Gegner (physische und rhetorische Schwachheit im persönlichen Auftreten) betont Paulus seine Kampfbereitschaft und gottgegebene Vollmacht, die zu seinem Sieg führen wird.
Das Problem ist nun: Wie kann Paulus in 10.10–11 ankündigen, bei seinem Besuch persönlich ebenso wirkungsvoll aufzutreten, wie es seine Briefe waren, und kurz danach in 11.6 rhetorische Defizite einräumen? Konnte er sich durch seine mündliche Selbstpräsentation – und das heißt doch wohl auch: rhetorisch – durchsetzen oder konnte er das nicht? Übertreibt er vielleicht? Und wenn er übertreibt: Liegt die Übertreibung in der geäußerten Zuversicht, Erfolg zu haben, oder liegt sie im Eingeständnis mangelnder Rhetorik?
Es ist unwahrscheinlich, dass er in Wirklichkeit weniger zuversichtlich war, als es in 10.1–11 den Anschein hat. Immerhin bestand ja die Möglichkeit, dass sich die Gemeinde durch seinen Brief nicht umstimmen lassen würde. Dann müssten der Ankündigung im Brief beim Besuch in Korinth Taten folgen. Übertreibung dürfte eher in 11.6 zu finden sein, denn das Eingeständnis rhetorischer Mängel war eben, wie wir gesehen haben, ein bei Rednern beliebter Bescheidenheitstopos.
Was ergibt sich aus dem Gesagten für die Frage, ob in 11.6 eine dissimulatio artis vorliegt? Es bestehen jedenfalls Gemeinsamkeiten. Paulus räumt ein rhetorisches Defizit ein und stärkt damit, im Kontext gelesen, den normativen Anspruch seiner Rede, die letztlich auf göttliche Autorität zurückgeht. Er nimmt sich also als Redner zurück. Zugleich ergibt sich aber aus dem Kontext, dass er für den bevorstehenden Besuch in Korinth nicht mit dem Problem eines solchen Defizits seiner Rede rechnet. Diese Spannung zeigt, dass gegenüber V. 6 Vorbehalte angebracht sind. Mit anderen Worten: Das Eingeständnis in V. 6 enthält fiktive Elemente. Und schließlich ist auch das dritte Merkmal einer dissimulatio artis zu erkennen. Da der Hinweis auf die eigene rednerische Unfähigkeit ein besonders beliebter und verbreiteter Bescheidenheitstopos war,Footnote 43 setzt Paulus vielleicht seine Durchschaubarkeit voraus: Wenn die Adressaten diesen Topos erkennen, werden sie in der Äußerung der Bescheidenheit gerade einen rhetorischen Anspruch wahrnehmen. Unabhängig davon relativiert Paulus jedenfalls durch die Formulierung seiner Frage, die eine Ergänzung wie „Wer von uns ist denn schon ein professioneller Redner?“ nahelegt, seine rhetorische Unterlegenheit. Damit sind die drei Merkmale gegeben, die ich in Teil 1 genannt habe: rhetorische Selbstverkleinerung, Fiktion und rhetorischer Geltungsanspruch.
Diese Gemeinsamkeiten haben allerdings Grenzen. Zum einen ist wichtig, dass Paulus auf den Vorwurf reagiert, nicht reden zu können. Er stellt also sein rhetorisches Unvermögen nicht deshalb heraus, weil er Warnungen der gegnerischen Seite an die Hörer, sich nicht rhetorisch manipulieren zu lassen, entkräften will – ganz im Gegenteil: Die gegnerische Seite bestreitet ja gerade sein rhetorisches Können! Der Einsatz von dissimulatio artis ist im eigentlichen Sinn aber nur sinnvoll, wenn rhetorische Kompetenz verheimlicht werden muss, nicht, um solche Kompetenz zu postulieren. Ein derartiges Postulat könnte bei einem nach dem Urteil der Hörer unfähigen Redner sogar lächerlich wirken. Zum anderen passt zu einer gezielten Verheimlichung nicht, dass 11.6 im Kontext konterkariert wird, indem Paulus in 10.10–11 den Anspruch erhebt, beim kommenden Besuch wirksam reden zu können, wenn nötig. Ein so ungeschützt geäußertes Selbstvertrauen wäre nicht hilfreich bei dem Versuch, die Hörer von der eigenen Rhetorik abzulenken.
Es besteht also eine Spannung zwischen diesem Text und seinem Kontext, die schwer aufzulösen ist. Einerseits kann 11.6 keine dissimulatio artis im eigentlichen Sinn enthalten, weil Paulus hier auf den Vorwurf rhetorischer Unfähigkeit reagiert, während die dissimulatio gerade den Verdacht rednerischer Kompetenz zerstreuen will. Andererseits kann der Vers aber auch kein ernst gemeintes Eingeständnis rhetorischer Schwäche und keine Umwertung bestehender Werte darstellen, weil der Kontext für großes rednerisches Selbstbewusstsein spricht.
Im nächsten Punkt wird zu fragen sein, ob die Texte in 1 Kor 1–4, die gegenüber der Rhetorik eine kritische Haltung vertreten, bei der Erklärung dieser Spannung helfen können.
2.2 1 Kor 1–4
In den ersten vier Kapiteln des 1. Korintherbriefs finden sich mehrere Aussagen, die als Selbstabgrenzung des Paulus gegenüber der Rhetorik verstanden werden können, z.B. die Abwertung von „Worten, die von menschlicher Weisheit gelehrt werden“ (1 Kor 2.13). In den meisten neueren Publikationen wird angenommen, Paulus kritisiere hier und im Kontext zumindest auch, wenn nicht sogar vor allem eine Verkündigungsweise, die von Rhetorik geprägt ist.Footnote 44 Als Negativfolie muss man nicht die großen Selbstinszenierungen von Rednern voraussetzen, die in der zweiten Sophistik üblich wurden.Footnote 45 Auch im Kontext einer etwas weniger auf Effekte ausgerichteten RhetorikFootnote 46 formuliert Paulus mit ἐν ἀσθενείᾳ καὶ ἐν φόβῳ καὶ ἐν τρόμῳ πολλῷ ein rhetorisches Desaster, nicht weniger als „a trilogy of shame“.Footnote 47
Wenn es aber hier und im Kontext zumindest auch um Rhetorik geht, dann springt die Nähe zu einer bewussten Verheimlichung ins Auge. Dann kann man den Text so lesen, als wolle Paulus die Leser von seiner eigenen Lauterkeit und Reinheit überzeugen, die nicht durch Rhetorik entstellt ist. Sollte es sich wirklich um dissimulatio artis in rhetorischer Tradition handeln, wäre dieses Bekenntnis aber gerade ein Hinweis auf das Gegenteil: ein rhetorisches Mittel, um von der eigenen Rhetorik abzulenken.
Die Einschätzung dieser Stellen ist hoch umstritten, denn sie hat auch mit ethischen Urteilen über die Argumentation des Paulus zu tun. Kann man Paulus ein solches Ablenkungsmanöver zutrauen? Zwei Beispiele sollen zeigen, wie weit die Antworten auseinanderliegen: Duane Litfin hält es für undenkbar, dass Paulus eine bewusste Strategie verwende, um die Leser in die Irre zu führen. Die Argumentation dieser Kapitel sei dafür zu grundsätzlich und zu gewichtig: „Paul grounds his disavowal in his deepest convictions about God, the Spirit and the cross of Christ.“Footnote 48 Wer die Absage an die Rhetorik nicht ernst nehme, stelle die Integrität des Paulus in Frage. Demgegenüber sieht Mark D. Given eine bewusste sophistische Strategie am Werk, die durch Ambiguität und Täuschung geprägt ist. Paulus, ein gerissener Redner („a cunning rhetor“),Footnote 49 habe sich zu rhetorischer Irreführung berechtigt gesehen, weil er die Wahrheit in einer apokalyptischen Welt voller Täuschung vertreten musste. Auch der platonische Sokrates habe schon solche Techniken verwendet.Footnote 50
Soll man also annehmen, Paulus habe sich in 1 Kor 1–4 aus theologischen Gründen bewusst von der Rhetorik abgegrenzt und für eine anti-rhetorische Haltung entschieden?Footnote 51 Oder soll man annehmen, seine Abwertung der Rhetorik sei gerade ein rhetorisches Mittel, mit dem er in der korinthischen Situation ein bestimmtes Ziel erreichen wollte?Footnote 52 Um hier zu einer Entscheidung zu kommen, fragen wir wieder nach den oben genannten Kennzeichen einer solchen dissimulatio.
Das erste und das dritte Merkmal können wir ziemlich sicher im Text erkennen. Zunächst zum ersten, der rhetorischen Selbstzurücknahme: 1.17 formuliert für die Verkündigung des Paulus eine undifferenzierte Absage an die Rhetorik („nicht in der Weisheit des Wortes“ (οὐκ ἐν σοφίᾳ λόγου)). In 2.1–5 wird diese Haltung explizit auf die Erstverkündigung bezogen. Paulus ist bei der Missionspredigt nicht als Redner aufgetreten und hat keine „überredenden Weisheitsworte“ (bzw. „Überredung[skunst] der Weisheit“) (2.4) gebraucht. Eine Alternative wird hier genannt, aber nur kurz angedeutet, wenn Paulus seine Verkündigung mit dem „Erweis von Geist und Kraft“ (2.4) in Verbindung bringt. Für die zweite Phase der Verkündigung, also für die Predigt, die Paulus vor den „Vollkommenen“ (2.6), den bereits Getauften, hält, wird diese Alternative einer geistlichen Rhetorik ausführlich zur Geltung gebracht, während die Absage an die übliche, menschliche Rhetorik nur noch kurz aufscheint (2.6, 13–14). Insgesamt, also für alle Phasen der paulinischen Predigt, gilt: Statt menschlicher Rhetorik sollen in ihr das Kreuz (1.17), die Kraft Gottes (2.5) und der Geist (2.4, 13) wirksam werden.
Neben dem ersten Merkmal, der Selbstzurücknahme, ist auch das dritte, die Bemühung um rhetorische Geltung, im Text zu erkennen, wenn auch nur implizit. Paulus legt Wert darauf, dass die Zurückhaltung in der ersten Phase der Verkündigung nicht auf Unfähigkeit beruhte, sondern auf einer Entscheidung (bes. 2.2: ἔκρινα). Seine Predigt durfte nicht rhetorisch sein, weil sie ihrem Gegenstand, dem Kreuz, entsprechen musste. Mit dieser Betonung der Angemessenheit dürfte er das rhetorische Prinzip des πρέπον bzw. aptum andeuten. Dieses Prinzip besagt: Jede Rhetorik muss der gegebenen rhetorischen Situation entsprechen, sowohl dem Gegenstand als auch den Hörern. Deshalb war rhetorische Zurückhaltung bei der Behandlung des Kreuzes nach den Regeln der Rhetorik selbst notwendig.Footnote 53 Das bedeutet aber: Paulus bewegt sich im Rahmen der Rhetorik. Er erhebt indirekt einen rhetorischen Geltungsanspruch. Unterstützt wird dieser Anspruch durch die Fortsetzung (3.1–4), wo deutlich wird, warum er seine Zurückhaltung immer noch nicht aufgeben kann. Wenn die Korinther Fortschritte gemacht hätten, wären sie Zeugen einer ganz anderen rhetorischen Kompetenz geworden. Es liegt auch an ihnen selbst, dass sie die wahre paulinische Rhetorik nicht kennengelernt haben, denn jede Rhetorik muss sich auch an den Hörern orientieren.
Etwas ausführlicher müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, ob hier eine Fiktion vorliegt, ob also auch das zweite Merkmal der dissimulatio zu finden ist. Es gibt in der Tat Hinweise darauf, dass die Argumentation mit fiktiven Elementen arbeitet. Grundsätzlich dürfte die absolute Entgegensetzung von menschlichem und göttlichem Wirken, d.h. von Rhetorik und Kreuz in 1.18–2.5 und von menschlicher und geistlicher Rhetorik in 2.6–3.4, eine Zuspitzung sein. In anderen Zusammenhängen zeigt Paulus eine wesentlich positivere Verhältnisbestimmung. Es ist ja keineswegs so, dass er Erfolge in der Mission immer allein dem Wirken Gottes zuschreibt und sich selbst als reines Werkzeug der Gnade Gottes sieht, das zu einem eigenen Beitrag nicht fähig ist. Paulus war vielmehr eine Persönlichkeit mit großem Selbstvertrauen und mit einem hohen Selbstwertgefühl. Er verglich sich gerne mit anderen.Footnote 54 Es ist schwierig, das in solchen Konkurrenzsituationen erkennbare Selbstbewusstsein und Geltungsstreben mit anderen Texte zu vereinbaren, wo Paulus seine gesamte Identität allein in Gott gründet und nichts von sich, sondern alles von der Alleinwirksamkeit Gottes erwartet. Dieses Nebeneinander muss jedenfalls davor warnen, Aussagen wie die in 1 Kor 2.1–5 für die ganze Wahrheit zu halten. Es liegt hier eine Fokussierung der Perspektive vor, die durch die spezifische Argumentation und Situation bedingt ist. Bestätigt wird diese Vermutung durch 4.19–21: Paulus beansprucht hier für sich eine Kraft, die ihn zur Durchsetzung „mit dem Stock“ befähigt. Der Gegensatz zu 2.1–5 ist eklatant. Zwar ist an beiden Stellen von göttlicher Kraft die Rede, aber diese äußert sich sehr unterschiedlich.Footnote 55 Das Auftreten ἐν πνεύματι πραΰτητος (4.21), das in 2.1–5 beschrieben wurde, ist nicht die einzige Möglichkeit. Paulus kann auch durchsetzungsstark sein, wozu sein rednerisches Auftreten gehören dürfte.
Für eine Argumentation mit fiktiven Elementen spricht auch eine zweite Beobachtung: Die Beschränkung der paulinischen Erstverkündigung auf den Gekreuzigten (1 Kor 2.2) lässt sich nicht bestätigen, wenn wir andere Texte vergleichen, in denen Paulus sein Evangelium zusammenfasst.Footnote 56 Dort wird – neben anderen Inhalten – auch die Auferweckung genannt. Wenn seine Bekehrungspredigt sonst die Auferweckung enthielt, warum grenzt er sie in 1 Kor 2.2 auf den Kreuzestod ein? Als Antwort liegt nahe, dass allein dieser Inhalt in seine Argumentation passte. Das Fehlen von Rhetorik, das ein Teil der Korinther monierte, ließ sich gut damit begründen, dass gerade aus rhetorischer Sicht die Anwendung von Rhetorik auf einen Gegenstand wie das Kreuz ausgeschlossen ist. Mit der Auferstehung würde diese Argumentation bei weitem nicht so gut funktionieren. Es ist von diesen Überlegungen her m.E. kaum möglich, 1 Kor 1–4 ohne die Annahme von fiktiven Elementen zu erklären. Auch das zweite Merkmal einer dissimulatio artis, die Fiktion, ist demnach hier zu erkennen. Auch in diesem Text wird also eine Art Verheimlichungsstrategie verfolgt.
Zu klären bleibt, worin hier die Funktion und die besondere Ausprägung dieses Mittels besteht. Soviel ist klar: Das Gesamtziel des Paulus in 1 Kor 1–4 ist die Überwindung der Spaltung unter den Korinthern. Ein Teil der Gemeinde schätzte seine Verkündigung in ihrer rhetorischen Wirkung, vermutlich auch in ihrem philosophischen Niveau, gering. Wenn wir uns auf den rhetorischen Aspekt beschränken, steht Paulus vor der Herausforderung, seine Rhetorik aufzuwerten. Dazu erklärt er sich hier nicht wie im 2 Kor als rhetorisch ungebildet, vielmehr betont er seine Entscheidung, auf Rhetorik zu verzichten: Er tat dies bewusst, wegen des Gegenstands und wegen der Adressaten seiner Predigt. Diese Selbstzurücknahme wird aber im Kontext und in anderen Paulustexten konterkariert, die in der Argumentation fiktive Elemente erkennen lassen.
Festzuhalten bleibt: Vieles spricht dafür, dass sich Paulus in 1 Kor 1–4 der dissimulatio artis bedient. Diese weist aber zwei Besonderheiten auf. Sie ist erstens kein Mittel gegen den Verdacht rhetorischer Manipulation, sondern im Gegenteil eine Reaktion auf den Vorwurf rhetorischer Schwäche. Und sie ist zweitens keine konsequente dissimulatio, also keine echte Verheimlichung: Die Tendenz zu rhetorischer Selbstverkleinerung zeigt sich als ein Merkmal der paulinischen Verkündigung, das in Spannung steht zu anderen Merkmalen.
3. Auswertung
Es hat sich gezeigt: 1 Kor 1–4 kann in der Tat dabei helfen, die Spannung zwischen Text und Kontext zu erklären, die wir bei der Besprechung von 2 Kor 11.6 wahrgenommen haben. Die Analyse hat für beide Texte so große Gemeinsamkeiten mit der dissimulatio artis ergeben, dass m.E. eine Unabhängigkeit schwer vorstellbar ist. Die Verbindung von rhetorischer Selbstverkleinerung, Fiktion und rhetorischem Geltungsanspruch ist eine signifikante Übereinstimmung, die sich ohne einen solchen Bezug kaum erklären lässt. Ganz besonders sprechen die in beiden Texten erkennbaren fiktiven Elemente dafür, dass Paulus dieses rhetorische Mittel bewusst einsetzt.
Die dissimulatio war für Paulus deshalb attraktiv, weil sie ihm die Möglichkeit eröffnete, in einer schwierigen Situation Einfluss zu nehmen. Der Widerstand der Gemeinde, den er überwinden musste, hatte zwar nicht mit dem Verdacht starker Rhetorik und manipulativer Kraft zu tun, sondern mit dem Vorwurf einer zu schwachen Rhetorik, die seine Verkündigung desavouierte. Dennoch war die dissimulatio anwendbar. Anders als die paganen Redner versuchte Paulus nicht zu verschleiern, dass er sich für fähig hielt, seine Adressaten nicht nur argumentativ, sondern auch rhetorisch zu beeinflussen. Was er aber mit paganen Rednern gemeinsam hat und was ihm offenbar einen Vorteil in der Konfliktsituation mit der Gemeinde versprach, war die Möglichkeit, einer normativen Instanz zu Wort zu verhelfen. Es ist nicht einfach Paulus, der das Evangelium verkündet und der die Gemeinde zur Unterordnung auffordert, sondern es ist Gott bzw. der Geist Gottes, der ihm seine Rhetorik in den Mund legt. Er macht sich das fiktive Selbstverständnis paganer Redner zu eigen und agiert nun als Sprachrohr einer höheren Autorität, als Sprachrohr Gottes.Footnote 57
Die dissimulatio wurde von Paulus also eigentlich nicht zur Verheimlichung, sondern zur Qualifizierung der eigenen Rhetorik verwendet. Sie ermöglichte ihm, sich als Redner so zu präsentieren, wie es seinem Selbstverständnis entsprach. Die paulinische Rhetorik des Kreuzes war, von ihrer christologischen Basis her, einerseits eine Anti-Rhetorik, die sich den üblichen rhetorischen Maßstäben verweigerte, andererseits eine christlich qualifizierte Rhetorik, die sich eben dieser Maßstäbe bediente. Paulus traute den menschlichen Möglichkeiten und damit auch der Rhetorik viel weniger zu als seine pagane Umwelt; nur in Verbindung mit der göttlichen Kraft und nur als ihr Sprachrohr war in seiner Sicht rhetorische Einflussnahme erfolgversprechend. Aber in dieser Konstellation war Rhetorik in der Tat möglich und sinnvoll. Er vertrat also keine Ablehnung jeder Rhetorik. Gerade die dissimulatio in ihrer paulinischen Form erlaubte eine rhetorisch akzeptable Qualifizierung der eigenen Beredsamkeit als Geistrhetorik, die anderen Formen der Redekunst übergeordnet, aber damit eben auch zugeordnet und vergleichbar war.
Ergibt sich daraus etwas für die heftig umstrittene Frage, ob und inwieweit Paulus mit der griechisch-römischen Rhetorik vertraut ist? Zumindest das Konzept der dissimulatio artis scheint er zu kennen. Er verwendet es nicht nur, sondern sein Umgang damit zeigt auch eine gewisse Souveränität. Das macht ihn natürlich noch nicht zu einem versierten Redner. Die dissimulatio artis war ein bekanntes und verbreitetes Mittel. Zudem sprechen die Kontexte, in denen er sie einsetzt, eher gegen als für seine rhetorische Kompetenz. Allerdings ist beiden untersuchten Texten zu entnehmen, dass seine Beredsamkeit nur im Vergleich kritisiert wurde. Ohne das Auftreten des Apollos (1 Kor) bzw. der Fremdmissionare (2 Kor) wäre die paulinische Rhetorik bei der Gemeinde wohl kaum in die Kritik geraten. Diese Beobachtung, verbunden mit seinem Selbstvertrauen (1 Kor 4.19–21; 2 Kor 10.10–11), spricht dagegen, Paulus als Redner zu gering einzuschätzen. Aufs Ganze gesehen gilt aber: Auch die Untersuchung der dissimulatio artis bei Paulus ermöglicht kein abschließendes Urteil in dieser schwierigen Frage.