Am Ende des Römerbriefes lässt Paulus Grüße eines gewissen Erastos an die römische Gemeinde ausrichten und bezeichnet ihn bei dieser Gelegenheit als οἰκονόμος τῆς πόλεως, als Oikonomos von Korinth, dem Abfassungsort des Römerbriefes (Röm 16.23). Dies ist das einzige Mal, dass Paulus ein weltliches Amt einer Person nennt. Welches Amt Paulus aber nun mit diesem Titel genau meint und welcher soziale Rang damit verbunden ist, das nun ist eine Frage, über der reichlich Tinte geflossen ist. Das Amt des οἰκονόμος τῆς πόλεως kann nämlich in römischer Zeit zu den hohen Ämtern einer Stadt zählen, es kann aber auch von einem öffentlichen Sklaven bekleidet werden und dann ist es kein ‘Amt’ im antiken Sinne, keine Magistratur, sondern ein Verwaltungsposten. Noch viel schwerer wiegt allerdings, dass das Amt des οἰκονόμος τῆς πόλεως als solches in Korinth gar nicht existierte. Korinth war eine römische colonia, mit vollem Titel colonia Laus Iulia Corinthiensis, eine Stadt mit einem privilegierten römischen Rechtstatus, in der die Amtssprache Latein war und alle Ämter demzufolge lateinische Titel trugen. Der von Paulus gewählte Amtstitel ist somit als Übertragung eines lateinischen Amtstitels zu verstehen.
John K. Goodrich hat jetzt in dieser Zeitschrift dafür plädiert, den Amtstitel des Erastos in Röm 16.23, οἰκονόμος τῆς πόλεως, als Äquivalent für das Amt des Quästoren zu verstehen.Footnote 1 Damit nimmt er eine These auf, die Gerd Theißen zuerst 1974 vorgetragen hatte. Theißen hatte sogar eine mehrstufige Karriere, einen cursus honorum des Erastos rekonstruieren wollen. Nach Theißen war Erastos möglicherweise ein Freigelassener, der zum Zeitpunkt des zweiten Aufenthaltes des Paulus in Korinth die Quästur bekleidet habe. Paulus sei ihm während seines Amtsjahres als Quästor begegnet und habe ihn in Röm 16.23 ὁ οἰκονόμος τῆς πόλεως genannt. Später sei Erastos dann zum Ädilen gewählt worden, was Theißen aus der viel diskutierten korinthischen Pflasterinschrift schließt, die ein Erastus pro aedilitate sua pecunia hat legen lassen.Footnote 2 Theißens Rekonstruktion hat abgesehen von dem zentralen Problem, auf das wir gleich eingehen werden, noch andere Schwierigkeiten. So kann Erastos kein Freigelassener gewesen sein, weil den Freigelassenen seit der lex Visellia des Jahres 24 n. Chr. die Bewerbung um Ämter (honores et dignitates) ebenso untersagt war wie die Mitgliedschaft im Stadtrat (decurionatum), sofern der Freigelassene nicht durch einen kaiserlichen Akt zum ingenuus, zum Freigeborenen erklärt wurde,Footnote 3 ein Privileg, das die Kaiser nur äußerst selten und, soweit zu sehen ist, auch nur an hochrangige Freigelassene des kaiserlichen Hauses verliehen. Weiterhin ist die Identität des Ädilen Erastus aus der Pflasterinschrift mit dem Erastos aus Röm 16.23 zwar möglich, aber alles andere als sicher. Darum soll es aber an dieser Stelle gar nicht gehen, sondern wir beschränken uns auf die Frage, ob der Erastos aus Röm 16.23 in Korinth das Amt des Quästors bekleidet haben kann.
Für diese Interpretation führt Goodrich in dem erwähnten Beitrag jetzt neue Argumente ins Feld. Er stützt sich vor allem auf eine 1992 publizierte Inschrift aus Patras, eine weitere colonia der römischen Provinz Achaia.Footnote 4 Diese Inschrift nennt einen Neikostratos, der das Amt des οἰκονόμος τῆς κολωνείας, also des Oikonomos der colonia Patras bekleidet hatte, daneben zwei Mal Agonothet war, weiterhin das Amt des Agoranomos und wiederum zwei Mal das Amt des Grammateus innehatte. Eine beachtliche Karriere, aus der sich allerdings noch einige Fragen ergeben. Welche Ämter der colonia Patras sind mit Oikonomos, Agoranomos und Grammateus denn überhaupt gemeint? (Agonothet kann offen gelassen werden, da die Agonotheten nie Jahresbeamte waren, sondern diejenigen, welche die regelmäßig stattfindenden Spiele finanzierten.) Denn auch für die colonia Patras gilt natürlich, dass die dortigen Ämter offiziell lateinische Titel trugen. Dazu muss man zunächst klären, in welcher Reihenfolge Neikostratos die Ämter bekleidet hat. Zuerst Oikonomos, dann Agoranomos, dann Grammateus? Ist Oikonomos also das niedrigste, Grammateus das höchste Amt des cursus honorum des Neikostratos? Goodrich entscheidet sich dafür, den Oikonomos hier mit dem Amt des Quästors gleichzusetzen,Footnote 5 das in Patras als munizipales Amt belegt ist. Dann läge hier ein aufsteigender cursus vor. Sehr wahrscheinlich ist diese Lösung richtig, auch wenn die Übertragung des höchsten Amtes der colonia Patras, des Duumvirats, mit γραμματεύς ungewöhnlich ware.Footnote 6 Daraus ergäbe sich folgende Karriere des Neikostratos in aufsteigender Reihenfolge:
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Dies würde gut zur mutmaßlichen Ämterhierarchie in Patras passen. Neikostratos hätte dann den lokalen cursus in Patras durchlaufen, von der Quästur über die Ädilität zum Duumvirat, das er sogar zwei Mal bekleidet hätte. Diese Rekonstruktion ist durchaus plausibel. Wir hätten damit einen Beleg, dass der Quästor einer römischen colonia im griechischen Sprachgebrauch mit οἰκονόμος übertragen werden kann. Ein wichtiger Befund. Können wir daraus aber folgern, dass auch Erastos in Korinth das Amt des Quästors bekleidet hat? Goodrich meint ja und führt dazu zwei Argumente ins Feld:Footnote 7
1) Korinth ist wie Patras eine römische colonia, beide Städte liegen noch dazu in enger Nachbarschaft in derselben Provinz Achaia. Aufgrund dessen hält Goodrich es für sehr wahrscheinlich, dass in Korinth und Patras die gleiche Ämterstruktur zu finden sei (‘an apparently identical political structure’).
2) Darüber hinaus sei in Korinth die Quästur als munizipale Magistratur sogar in vier Inschriften belegt, von denen drei aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stammten.
Beide Argumente sind bedauerlicherweise nicht richtig. Patras und Korinth sind zwar beide coloniae in derselben Provinz, aber daraus folgt nicht zwangsläufig dieselbe Ämterstruktur. Die Ordnung der Ämter hatte in den römischen coloniae verschiedene Formen. Die unter Augustus wohl zwischen den Jahren 16-14 v. Chr. gegründete colonia Aorea Augusta Patrensis hatte sehr wahrscheinlich eine dreigliedrige Ämterstruktur, aufgefächert in Quästur-Ädilität-Duumvirat.Footnote 8 Korinth jedoch, einige Dekaden früher unter Caesar als colonia Iulia Laus Corinthiensis wiedergegründet, hatte eine zweigliedrige Ämterstruktur, die in Ädilität und Duumvirat unterteilt war. Diese Unterteilung ist für die caesarischen coloniae ganz geläufig, wir kennen sie vor allem aus dem Stadtgesetz der ebenfalls von Caesar gegründeten colonia Urso in Spanien.Footnote 9 Dass in Korinth nur zwei reguläre Magistraturen, die Ädilität und das Duumvirat, existierten, wird zur Genüge deutlich, wenn man sich die Zusammenstellung der korinthischen Ämter bei Kent ansieht, dem Herausgeber der in Korinth zwischen 1926–1950 gefundenen Inschriften.Footnote 10 Kent kannte ja die vier Inschriften, die Goodrich, wie vordem bereits Theißen, als Beleg für die Quästur in Korinth ansieht, drei davon hat er selbst ediert. Aber er bezieht sie nicht auf ein städtisches Amt und schließt aus den fraglichen Inschriften gerade nicht, dass in Korinth die Quästur als städtische Magistratur existiert hätte. Kent hat sicher Recht, denn die vier Inschriften beziehen sich allesamt nicht auf ein lokales, städtisches Amt in Korinth, sondern auf die senatorische Quästur, die als unterste Magistratur Teil des senatorischen cursus honorum war.Footnote 11 Goodrich meint, es sei nicht ganz klar, ob in den korinthischen Inschriften, in denen die Quästur genannt wird, ‘provincial or municipal offices’ gemeint wären.Footnote 12 Aber der entscheidende Unterschied besteht nicht zwischen einem munizipalen und einem provinzialen, sondern zwischen einem munizipalen und einem senatorischen Quästor.Footnote 13 Die senatorische Quästur konnte man als quaestor urbanus in der Stadt Rom ableisten, als quaestor imperatoris im Dienst des Kaisers oder als quaestor provinciae im Stab eines Provinzstatthalters.
Zur Verteidigung von Goodrich und Theißen muss man allerdings anmerken, dass die korinthischen Inschriften, auf die sich beide beziehen, alle nur äußerst fragmentarisch erhalten sind. Aber auch wenn die Karrieren der in den Inschriften genannten Personen aufgrund des sehr schlechten Erhaltungszustandes nur ansatzweise zu rekonstruieren sind, so lässt sich doch erkennen, dass in keiner der Inschriften ein korinthisches Amt gemeint ist. Wir wollen nachfolgend kurz und soweit nötig erläutern, woraus man das schließen kann.
1) Kent (Anm. 10) Nr. 119. Zu dieser Inschrift hat Kent selbst darauf verwiesen, dass der hier genannte Cocceius aus der senatorischen Familie der Coccei stammt. Die in der Inschrift vor ihm genannte Person war sicher gleichfalls ein Senator, von dessen Karriere auf dem fragmentarischen Stein nur die senatorische Quästur erhalten geblieben ist. Kent hat die Inschrift daher völlig zu Recht unter dem Kapitel ‘Provincial Governors and Others of Senatorial Rank’ aufgeführt.
2) Kent (Anm. 10) Nr. 168. Die mit dieser Inschrift geehrte Person gehörte nicht dem korinthischen Stadtrat an und war offenbar auch kein korinthischer Bürger, denn ihm wurden die ornamenta, die Rangabzeichen der korinthischen Ämter und zwar der Ädilität, des Duumvirates, des quinquennalen Duumvirates und der Agonothesie, ehrenhalber verliehen.Footnote 14 Die, nach der Zählung Kents, in der zweiten Zeile genannte Quästur ist so zu verstehen, dass die Inschrift darüber einen absteigenden senatorischen cursus honorum verzeichnete, mit der Quästur als unterster senatorischer Magistratur. Das nächstfolgende höhere Amt in der senatorischen Laufbahn, entweder die Ädilität oder das Volkstribunat, hatte der Geehrte offensichtlich als kaiserlicher Kandidat, als candidatus Imperatoris erlangt, worauf das von Kent sicher richtig gelesene [impe]rat[o]ris verweist. Man schaue sich zum Vergleich die Inschrift Kent Nr. 120 an, die ebenfalls einen Senator nennt, der ehrenhalber die ornamenta erhielt.
3) Kent (Anm. 10) Nr. 170. Ein Blick auf die Umzeichnung der Inschrift bei Kent p. 78 zeigt, wie zertrümmert die Inschrift ist. Schon das muss zur Vorsicht mahnen. Kent selbst schreibt, dass sein Vorschlag zur Rekonstruktion der Inschrift insbesondere der Z. 1-8 ‘by no means assured’ sei. Das gilt insbesondere für die Lesung [qua]es(tor) in Z. 3. Nur das S und ein Bruchstück der untersten Haste eines E sind erhalten. Ob an dieser Stelle überhaupt [qua]es(tor) gestanden hat, ist völlig unsicher. Wenn Kents Rekonstruktion der Karriere des in der Inschrift genannten Sospes aber wenigstens teilweise stimmt, dann verweisen das Militärtribunat und die Legionslegatur erneut auf eine senatorische Karriere, zu der dann auch die Quästur gehörte. Man müsste die Inschrift in diesem Fall so verstehen, dass Sospes nachdem er einige Stufen der senatorischen Karriereleiter durchlaufen hatte, städtische Ämter in Korinth übernahm, und zwar die Agonothesie und das Duumvirat.
4) WestFootnote 15 Nr. 104a. Das in der Inschrift über [quae]storem zu lesende IIIIvir verweist uns neuerlich auf eine senatorische Karriere. Die in der Inschrift geehrte Person hatte wohl das Amt des IIIIvir viarum curandarum inne, eines der Ämter des sogenannten Vigintivirates, das in einer senatorischen Laufbahn der Quästur vorausgeht.
Keine der Inschriften kann somit als Beleg für das Amt des quaestor coloniae in Korinth herhalten. Im übrigen sind diese vier von Goodrich und Theißen angeführten Texte nicht die einzigen korinthischen Inschriften, in denen die senatorische Quästur genannt wird. Darüber hinaus wäre die ausnahmsweise einmal besser erhaltene Inschrift Kent Nr. 125Footnote 16 zu nennen, in der die senatorische Quästur ebenso als Teil eines senatorischen cursus honorum erwähnt wird wie in der Inschrift AE 2000,1345, einer Ehreninschrift für den Senator Herodes Atticus. Sicher zu ergänzen ist das senatorische Amt des quaestor provinciae Achaiae außerdem in der fragmentarischen Inschrift AE 1971,440.
So schön es gewesen wäre, über das Amt des Erastos endlich Klarheit zu gewinnen, so bleibt uns angesichts der Quellenlage nur die Schlussfolgerung: Welches Amt auch immer Erastos in Korinth bekleidet hat—die Quästur kann es jedenfalls nicht gewesen sein, denn diese existierte nicht als städtisches Amt in der colonia Laus Iulia Corinthiensis. Es müssen daher noch einmal andere Lösungswege gesucht werden, um das Amt des Erastos zu erklären—aber das ist nicht mehr Aufgabe dieses Beitrags.