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Metaleptisches Erzählen und kulturelles Gedächtnis in den Paulusakten

Published online by Cambridge University Press:  08 September 2022

Markus Kirchner*
Affiliation:
Ludwig-Maximilians-Universität, Katholisch-Theologische Fakultät, DFG-Projekt „Memoria Apostolorum“, Geschwister-Scholl-Platz 1, D-80539 München, Germany Email: Markus-Kirchner@web.de
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Abstract

The Acts of Paul have received the most diverse and contradictory interpretations. Do the ActPl intend to promote the veneration of Paul or a particular theology? Do they offer transparent fiction or do they claim factuality? Are they a collection of oral traditions or a designed literary construction? From the perspective of cultural memory theory, however, the key question is rather how the text allows the reader to participate in a community-generating past. In this view, the opposites turn out to be complementary aspects of an integrative textual strategy. This becomes manifest especially in the technique of metaleptic narration, which transcends the boundary between the world of the text and the reader, between past and present.

German abstract

German abstract

Die Paulusakten haben unterschiedlichste, einander widersprechende Deutungen gefunden: Wollen sie die Paulusverehrung oder eine bestimmte Theologie propagieren? Bieten sie durchschaubare Fiktion oder treten sie mit einem faktualen Anspruch auf? Handelt es sich um gesammelte mündliche Tradition oder schriftlich komponierte Konstruktion? Aus der Sicht der Theorie des kulturellen Gedächtnisses geht es nicht so sehr darum, was der Text dem Leser mitteilen will, sondern wie er ihn an einer gemeinschaftsstiftenden Vergangenheit teilhaben lässt. Die Gegensätze erweisen sich so als komplementäre Aspekte einer integrativen Textstrategie. Diese manifestiert sich insbesondere in der Technik des metaleptischen Erzählens, das die Grenze zwischen der Welt des Textes und dem Leser, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, überspringt.

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Articles
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Copyright © The Author(s), 2022. Published by Cambridge University Press

Paulus zählt ohne Zweifel zu den großen „Erinnerungsfiguren“ des Christentums. Bis heute prägen sein Leben und seine Briefe unsere Vorstellungen über das frühe Christentum. Doch welches Erinnerungsbild hat die frühe Kirche selbst von Paulus bewahrt?Footnote 1 Neben der kanonischen Apostelgeschichte geben uns hier vor allem die sogenannten Paulusakten (ActPl)Footnote 2 einen wertvollen Einblick. Um das dort präsentierte Paulusbild zu verstehen, gilt es aber zunächst zu klären, um welche Art von Text es sich dabei handelt. Was ist die textpragmatische Funktion der Paulusakten, ihr theologisches Anliegen? Wie wollen sie gelesen werden? Gerade diese Frage ist aber bislang in der Forschung strittig. Mehr noch: Sie hat in schwer aufzulösende Paradoxien und Zirkularitäten geführt. Geht es den Akten primär um die Person des Paulus oder um die Theologie, die ihm in den Mund gelegt wird? Wollen sie nur „erbaulich“ unterhalten oder verfolgen sie ein „ernsthaftes“ Anliegen? Handelt es sich um eine Sammlung mündlicher Erzählungen oder um einen literarisch konstruierten Roman? All diese Positionen wurden vertreten, und alle können sich auf Belege im Text berufen.

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich diese Gegensätze in ein schlüssiges Gesamtbild integrieren lassen, wenn man die Paulusakten im Kontext einer sich bildenden frühchristlichen Erinnerungskultur versteht.Footnote 3 Der Text erweist sich in dieser Perspektive als eine Art schriftliche „Verlängerung“ einer Erinnerungspraxis, die durch Rückgriff auf Paulus als bedeutende Figur der eigenen Vergangenheit die gemeinschaftliche Identität in der Gegenwart konstituiert. Der Leser wird dabei gewiss auch belehrt und unterhalten – in erster Linie aber wird er in eine Erinnerungsgemeinschaft integriert. Auf literarischer Ebene zeigt sich diese Funktion des Textes verdichtet in der Technik des metaleptischen Erzählens, d.h. der Überschreitung des Rahmens der erzählten Welt auf die Welt des Lesers hin.

Um dies zu zeigen, sollen zunächst – ausgehend vom Motiv der Wunder – in einer knappen Problemanzeige einige Paradoxien skizziert werden, die das Verständnis der ActPl in der bisherigen Diskussion erschweren. Zweitens werden diese Paradoxien auf eine prinzipielle Unterbestimmtheit erzählender Texte zurückgeführt, die in der antiken Erzählliteratur häufig durch metaleptische Erzählelemente kompensiert wird. Diese erweisen sich somit als mögliche Schlüssel zum Verständnis des Textes. Drittens soll anhand von metaleptischen Erzählelementen in ActPl 12 gezeigt werden, wie die Paulusakten sich konkret in einen frühchristlichen Erinnerungsdiskurs einfügen, der in die Welt des Textes „hineingespiegelt“ wird. In einem abschließenden Ausblick soll zuletzt umrissen werden, wie sich die eingangs konstatierten Widersprüche durch die Berücksichtigung dieses Zusammenhangs auflösen lassen.

1. Problemanzeige: Zum hermeneutischen Verständnisrahmen der Paulusakten

Das Paulusbild, das die ActPl präsentieren, wirkt für heutige Leser eher wie eine Verfremdung des Paulus, den wir zu kennen meinen. Zwar ist uns Paulus als reisender Prediger vertraut. Schon ferner liegt vielleicht Paulus als Wundertäter, obgleich auch diese Rolle des Apostels in der Apostelgeschichte durchaus präsent ist und sogar in seinen Briefen andeutungsweise aufblitzt.Footnote 4 Es sind jedoch nicht diese Rollenbilder als solche, die befremden, sondern eher deren Gewichtung und die Art ihrer Darstellung: Während in der kanonischen Apostelgeschichte Paulus primär das Evangelium verbreitet, was von wundersamen Ereignissen nur bestätigend begleitet wird, scheint sich das Verhältnis in den apokryphen Akten nahezu umgekehrt zu haben. Die Predigt des Paulus fungiert hier eher als Auslöser für Handlungsverwicklungen, die dann durch Wunder aufgelöst werden. Grob vereinfachend könnte man die Entwicklung also wie folgt charakterisieren: In Apg dient das Wunder der Beglaubigung des Wortes,Footnote 5 in ActPl dient das Wort als Anlass für das Wunder.

Fragt man nach den Ursachen dieser Akzentverschiebung, so zeigt sich unter den Gelehrten eine verwirrende Vielstimmigkeit. In der älteren Forschung wurde häufig ein gesteigertes Bedürfnis des Lesepublikums nach immer spektakuläreren Wundergeschichten angenommen. Diese „Mirakelsucht“Footnote 6 wird dann in der Regel mit dem einfachen VolksglaubenFootnote 7 in Verbindung gebracht und als Dekadenzphänomen negativ bewertet. Diese Sicht kann nach heutigen Maßstäben allerdings nicht mehr befriedigen, zum einen wegen ihrer a priori wertenden Perspektive, zum anderen, da die These, in der Kaiserzeit habe eine stärkere Tendenz zum „Abergläubischen“ geherrscht als zu anderen Zeiten, ein unbegründetes Vorurteil darstellt.Footnote 8 Auch die Gattungsbestimmung als Roman hilft nicht weiter, denn für den antiken Liebesroman, der häufig als Vorbild der Akten angesehen wird, sind gerade keine wirklichen Wunder, sondern nur scheinbare, rationalisierte „Wunderereignisse“ (Scheintod statt Auferstehung u.ä.) charakteristisch.Footnote 9 Bisweilen wurde auch eine symbolische Deutung der Wunder vorgeschlagen. Dies mag in einzelnen Fällen naheliegen,Footnote 10 in den meisten Fällen jedoch bietet der Text aus sich heraus kaum Hinweise auf eine solche Deutung.Footnote 11 Auch die These, die Apostel ersetzten in den apokryphen Akten zunehmend Christus als Heilsmittler,Footnote 12 ist für ActPl bei näherer Betrachtung zweifelhaft. Dies zeigt etwa ein Vergleich mit dem Markusevangelium: Dort dienen die Wunder dem Aufweis seiner Gottessohnschaft, also der Selbsterschließung der Person Jesu (vgl. z.B. Mk 1,24.27), und fordern so zum Glauben an ihn heraus (vgl. Mk 4,40). In den Paulusakten findet sich nicht annähernd eine vergleichbare theologische Zuspitzung der Wunder auf die Person des Apostels.

Diese Schwierigkeiten einer Deutung der Wunder hängen sicherlich mit einer grundsätzlichen hermeneutischen Offenheit der Gattung Wundererzählung zusammen. Diese sollen den Leser ja gerade an die Grenzen seines Verstehens führen.Footnote 13 Für sich genommen ist das Wunder zunächst einmal ein Rätsel, verständlich wird es immer erst in einem größeren Verständnisrahmen, so etwa bei Markus durch den Rahmen des Messiasgeheimnisses. Gerade deshalb aber verweisen die Wunder in den Paulusakten auf ein grundsätzliches hermeneutisches Problem: Die Frage nach dem theologischen Anliegen bzw. der Intention des Werkes als Ganzem.

Worum geht es eigentlich in den Paulusakten? Geht es um die Person des Paulus selbst? Etwa darum, seine Bekanntheit und Verehrung zu steigern?Footnote 14 Dann würden die Wunder seiner Charakterisierung als „larger-than-life-character“ dienen und die Paulusakten wären in eine literaturgeschichtliche Linie mit späteren Heiligenviten zu stellen. Aber hat eine Figur wie Paulus eine solche „Werbeschrift“ am Ende das 2. Jahrhunderts wirklich noch nötig?

Handelt es sich also vielleicht um einen „Wettbewerb“ verschiedener Gruppen um die rechte Deutung des Apostels, etwa gegenüber den PastoralbriefenFootnote 15 oder der kanonischen Apostelgeschichte?Footnote 16 Diese Deutung bewegt sich methodisch auf heiklem Boden: Zum einen ist der Nachweis einer intertextuellen Abhängigkeit immer schwierig, wo man noch nicht von einem „kanonischen“, zumindest aber breit rezipierten Prätext ausgehen kann (und dies kann Ende des 2. Jahrhunderts für die in Frage kommenden Texte noch nicht vorausgesetzt werden). Zum anderen führt auch die Bestimmung der vermeintlichen Konfliktpunkte in Einseitigkeiten, denn nicht jeder Unterschied ist gleich Polemik. So spielen Frauen in den Akten sicher eine zentrale Rolle und deren Frauenbild ist gewiss weit von dem etwa der Pastoralbriefe entfernt. Doch lässt sich daraus ableiten, dass die Rolle der Frau das zentrale Thema der Paulusakten ist?Footnote 17 Gerade die Dominanz des Wundermotivs lässt sich damit beispielsweise nur schwer in Verbindung bringen.

Oder geht es gar nicht um Paulus selbst? Dient er vielleicht nur als beliebiger Autoritätsträger, der lediglich dazu benutzt wird, eine bestimmte Theologie zu legitimieren, der aber eigentlich beliebig und daher letztlich austauschbar ist?Footnote 18 Auch hier ist Vorsicht geboten, denn die theologischen Vorstellungen der Akten bleiben genau besehen doch eher unspezifisch und lassen sich nicht einer bestimmten Trägergruppe, etwa dem Montanismus, zuordnen.Footnote 19 Dies spricht dafür, dass sie nicht so sehr das „Eigene“Footnote 20 des Textes darstellen, sondern eher als selbstverständliche Norm christlichen Glaubens vorausgesetzt werden.

Schließlich: Hat der Text überhaupt ein theologisches Anliegen, oder will er nur Unterhaltungsliteratur für Christen sein? Dienen nicht gerade die Wunder am Ende doch nur einem Sensationsbedürfnis? Gewiss, die plastische Erzählweise, die hohe Komplexität der Episodenplots und das Spektakuläre der Erzählungen können ein Unterhaltungsinteresse nicht verleugnen. Doch sollte dies nicht gegen eine theologische Absicht ausgespielt werden.Footnote 21 Denn all die sensationellen Begebenheiten sind ja untrennbar in einen Rahmen eingebettet, in dem es um Predigt und Bekehrung, Glaube, Enthaltsamkeit, Gebet, Taufe usw. geht.Footnote 22 Wer die Paulusakten nur zur reinen Unterhaltung lesen wollte, wäre doch allzu häufig davon gelangweilt oder befremdet.

Es sollte an dieser Stelle nicht darum gehen, die eben skizzierten Interpretationsversuche der ActPl im Detail zu würdigen bzw. zu kritisieren. Der Überblick sollte lediglich deutlich machen, dass alle genannten Deutungen sich auf eine Grundlage im Text berufen können, dass aber ebenso alle einer gewissen Einseitigkeit unterliegen und Aspekte des Textes außer Acht lassen. Daraus wird man zunächst den Schluss ziehen müssen, dass den ActPl – wie jedem narrativen Text – nur eine mehrperspektivische Deutung gerecht wird. Es gibt sicher nicht nur den einen Anlass oder Zweck für deren Abfassung. Es spricht ja nichts dagegen, dass der Text sowohl die Figur des Paulus verehren als auch eine bestimmte Theologie, etwa Enkratismus, propagieren will und damit nolens volens in Konflikt mit anderen theologischen Konzeptionen kommt, insbesondere wenn diese sich ebenfalls auf Paulus berufen. Erst recht gilt dies, wenn man die Frage stärker aus rezeptions- statt produktionsästhetischer Perspektive betrachtet: Auch wenn die ActPl nicht schon mit Blick etwa auf die kanonische Apostelgeschichte verfasst sein sollten, muss deren Verhältnis doch für einen Leser, der beide Texte kennt, zum Problem werden, wie es beispielsweise für Hieronymus im 4. Jahrhundert tatsächlich der Fall war.Footnote 23 Die „Intertextualität“ des Textes, und eventuell auch ein damit einhergehendes polemisches Verständnis, wäre dann nicht als dessen Intention, sondern als ein Deutungspotential verstanden, das je nach Kontext vom Leser aktualisiert werden kann oder nicht.

Bei allen Vorzügen, die eine solche offene und multiperspektivische Lektüre bietet, bleibt jedoch auch der unbefriedigende Eindruck zurück, dass der Text selbst hier ganz hinter der Fülle seiner möglichen Deutungen verschwindet und zur leeren Projektionsfläche wird. Der berechtigte Hinweis auf die prinzipielle Offenheit eines Textes in der Rezeption sollte daher nicht gegen die Frage nach seinem ursprünglichen historischen Ort ausgespielt werden. Damit stellt sich aber unweigerlich die Frage, wie man aus der oben skizzierten Vielstimmigkeit der Deutungen methodisch auf festen Grund gelangen kann. Anders formuliert: Wie kann man die ursprüngliche Funktion und Intention der ActPl bestimmen, ohne dabei in einen circulus vitiosus zu gelangen, der im Text immer nur findet, was er sucht, und sieht, was er bereits erwartet?

2. Die Paulusakten zwischen „Literatur“ und Erinnerungskultur

Hier lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten und zu fragen, um welche Art von Text es sich bei den ActPl eigentlich handelt. Wir brauchen dazu gar nicht in detaillierte Gattungsdiskussionen einzusteigen. Es genügt zunächst zu sagen, dass es sich um eine Erzählung über Paulus handelt. Als Erzählung kommt dem Text einerseits eine gewisse Autonomie gegenüber vorschnellen Funktionalisierungen zu. Natürlich kann man Geschichten mit einer bestimmten Absicht erzählen, z.B. belehren, überzeugen, unterhalten. Trotzdem ist eine Erzählung weder ein Traktat noch eine Rede. Als schriftliche Erzählung ist der Text zudem aus den funktionalen Zusammenhängen seines „Sitzes im Leben“ gelöst, er wird „literarisch“. Dies erklärt die Schwierigkeit, eine klare „Botschaft“ der Paulusakten herauszuarbeiten. Andererseits weist allein der Apostel Paulus als Protagonist dieses „Romans“Footnote 24 darauf hin, dass diesem nicht dieselbe ästhetische Autonomie zukommt wie etwa einem modernen Roman. Das Entscheidende ist dabei nicht unbedingt, dass Paulus wirklich existiert hat, sondern vielmehr, dass er Teil des kollektiven Gedächtnisses einer bestimmten Gruppe ist, nämlich der Christen: Während die breite Mehrheit der reichsrömischen Bevölkerung mit dem Namen Paulus gar nichts verbunden haben dürfte (oder allenfalls in der Schreibung „Paullus“ den Sieger von Pydna), ist dieser Name für Christen mit einer zentralen Persönlichkeit ihrer kollektiven Erinnerung verbunden. Der Text stellt sich damit selbst in den Zusammenhang frühchristlicher Erinnerungskultur.Footnote 25 Dies gilt umso mehr, wenn er – wie meist angenommen wird – Erzähltraditionen verarbeitet, die in christlichen Gemeinden mündlich überliefert wurden.

Als erstes Ergebnis kann man also festhalten: Der Text setzt mit der Figur des Paulus die kulturelle Enzyklopädie der Christen und damit einen christlichen impliziten Leser voraus. Dadurch steht er nicht einfach für sich, sondern knüpft an die kulturelle Praxis christlicher Erinnerung an. Lässt sich das Verhältnis des Textes zu diesen Anknüpfungspunkten noch genauer fassen? Wie genau positioniert er sich zur Erinnerungskultur der Christen?

Da etwaige Paratexte wie etwa ein Proöm, die den Text in solche Zusammenhänge einordnen könnten, entweder nicht vorhanden oder zumindest nicht überliefert sind, bleiben wir dabei auf die Erzählung selbst angewiesen. Wir haben also nach Stellen zu suchen, wo der Text auf seine außertextlichen Rahmenbedingungen hin transparent wird, wo also gewissermaßen die Trennwand, welche die erzählte Welt (intradiegetisch) umgibt, brüchig wird und die Rahmenwelt der Erzählung (extradiegetisch) hereinbricht. In der modernen Narratologie bezeichnet man ein solches Phänomen als Metalepse.Footnote 26 In den letzten Jahren ist diese Figur zunehmend in den Fokus der klassisch-philologischen Forschung getreten.Footnote 27 Dabei ist deutlich geworden, dass sich Metalepsen in der antiken Literatur überraschend häufig finden, von Homer bis in die Spätantike. Zugleich hat sich aber auch gezeigt, dass deren Funktion sich deutlich von derjenigen in moderner Literatur unterscheidet. In moderner Wahrnehmung kann die Überschreitung der als geradezu ontologisch empfundenen Grenze,Footnote 28 welche die erzählte Welt umgibt, zu einer Art „rezeptiven Schock“Footnote 29 führen. Sie erschreckt und verstört den Leser und ist daher etwa charakteristisch für Fantasy-Literatur.Footnote 30 In antiker Literatur dagegen erweist sich diese Grenze als sehr viel durchlässiger. Dies hängt mit den medialen Voraussetzungen antiker Literatur zusammen, die sich trotz zunehmender Verbreitung der Schriftlichkeit und dem Auftreten rein schriftlicher Literatur nie ganz von den Voraussetzungen der oralen Kultur gelöst hat.Footnote 31 In deren Rahmen aber steht ein Text ursprünglich immer im Kontext einer Aufführungssituation, die aufgrund der unmittelbaren Präsenz des Aufführenden nie ganz ausgeblendet werden kann – im Gegenteil ist es gerade diese Präsenz, die einer Erzählung wichtige Qualitäten wie Authentizität, Glaubwürdigkeit etc. verleiht. Gerade diese unterstützende Funktion des extradiegetischen Rahmens entfällt aber in rein schriftlicher Literatur, etwa im Roman. Daher neigt gerade diese Gattung, die ja in deutlicher Nähe zu mündlichen Formen des Erzählens steht,Footnote 32 dazu, diesen Mangel durch metaleptische Konstruktionen zu kompensieren.Footnote 33 Hierbei versucht der Text durch die selbstreferentielle Spiegelung extradiegetischer Elemente der literarischen Kommunikation (Autor, Text, Leser) in sich selbst, den Makel seiner Medialität, also seiner Mittelbarkeit auszugleichen und die verlorene Unmittelbarkeit oraler Kommunikation zu simulieren. Dazu wird eine Fülle verschiedener Techniken angewendet: z.B. „mündliche“ Sprache, Apostrophe durch den Erzähler, Vorkommen des Textes in der erzählten Welt, Figuren als „Rollenangebote“ für den Leser. Ein Textbeispiel mag dies hier stellvertretend verdeutlichen.

Apuleius beginnt seinen Roman Metamorphosen mit folgender Einleitung:Footnote 34

at ego tibi sermone isto Milesio varias fabulas conseram auresque tuas benivolas lepido susurro permulceam − modo si papyrum Aegyptiam argutia Nilotici calami inscriptam non spreveris inspicere −, figuras fortunasque hominum in alias imagines conversas et in se rursum mutuo nexu refectas ut mireris. exordior. quis ille? paucis accipe.

Aber ich will dir in diesem milesischen Stil bunte Geschichten zusammenbinden und deine Ohren mit hübschem Säuseln kitzeln, wenn du es nur nicht verschmähst, in einen ägyptischen Papyrus, beschrieben vom feinen Ausdruck eines Rohres vom Nil, hineinzuschauen, so dass du dich über die Gestalten und Geschicke von Menschen, die in fremde Gebilde und in wechselseitiger Verknotung wieder zu sich selbst verwandelt wurden, nur so wundern wirst. Ich will beginnen! – Wer denn? – Erfahre es kurz.

Es ist unübersehbar, dass hier ein mündliches Gespräch, genauer: ein lockeres Geplauder imitiert wird. Schon mit dem ersten Wort at wird der Leser mitten in eine scheinbar schon länger laufende Gesprächssituation versetzt. Auch das Wort sermo (hier vereindeutigend mit „Stil“ übersetzt) weist auf eine Unterhaltung hin. Vor allem zeigt dies aber das Gegenüber des Erzählers einerseits (markiert durch die 1. Person Singular und ausdrücklich betont durch das voranstehende ego) sowie des angesprochenen ‚Du‘ der 2. Person Singular andererseits, das sich schließlich sogar als interlocutor selbst zu Wort meldet. Die Schriftlichkeit und Medialität des Textes wird somit verschleiert, indem die Erzählung in einen Rahmen eingebettet wird, der aber eben nicht zu einer eigenständigen Rahmenerzählung ausgebaut, sondern nur angedeutet wird. Gerade so aber muss sich der Leser geradezu selbst mit diesem angesprochenen „Du“ und das ego der Erzählerstimme mit dem (impliziten) Autor identifizieren. Das Medium Schrift wird somit auf eine geschickt inszenierte Illusion der Unmittelbarkeit zwischen Leser und Autor hin übersprungen. Dieser Kunstgriff ist insofern als Metalepse aufzufassen, als zusammen mit der Medialität des Textes notwendig auch die besagte „Trennwand“ zwischen intra- und extradiegetischer Ebene verschwindet. Anders formuliert: Die extradiegetischen Rollen von „Autor“ und „Leser“ werden in den Text hinein gespiegelt und auf die intradiegetischen Rollen der namenlosen Gesprächsteilnehmer abgebildet.

So geschickt aber diese literarische Konstruktion auch ist, sie steht dennoch auf tönernen Füßen. Denn der Leser erlebt ja gleichzeitig unmittelbar, dass es sich dabei nur um eine Konstruktion handelt, dass er eben nicht in ein Gespräch verwickelt ist, sondern ein Buch in der Hand hält. Diese Brüchigkeit stabilisiert der Text nun gerade dadurch, dass er auch die soeben noch vernebelte Medialität metaleptisch spiegelt und so spielerisch-ironisch in die Illusion integriert. Nicht zufällig folgt daher unmittelbar auf die offensichtlich überbetonte Inszenierung mündlicher Erzählform (auresque tuas benivolas lepido susurro permulceam) in Form eines einschränkenden Konditionalsatzes eine ebenso ausführliche Überhöhung des schriftlichen Mediums (modo si papyrum Aegyptiam argutia Nilotici calami inscriptam non spreveris inspicere). Was auf den ersten Blick widersprüchlich und paradox wirkt, ist in Wahrheit subtile Dialektik.

3. Metaleptische Durchlässigkeit in den Paulusakten: Das Beispiel ActPl 12,1

Phänomene metaleptischer Durchlässigkeit in antiken Erzähltexten lassen sich, wie wir gesehen haben, als literarische Strategien der Selbststabilisierung und diskursiven Selbstverortung deuten. Auch wenn diese Strategie in ironisch-gebrochener Form mit einem Augenzwinkern geschieht, wie eben bei Apuleius, verbirgt sich dahinter doch ein „ernstes“ kommunikationstheoretisches Problem: Da der Text aufgrund seiner Schriftlichkeit nicht (mehr) in einen konkreten Aufführungszusammenhang eingebettet ist und zudem als „Roman“ gattungstheoretischFootnote 35 nicht klar definiert ist, bleibt er für den Leser sozusagen hermeneutisch unterdeterminiert. Mit anderen Worten: Der Leser weiß zunächst einmal gar nicht, welche Art von Text er vor sich hat. Dies wird durch metaleptische Elemente aufgefangen, die die fehlende hermeneutische Rahmensituation sozusagen simulieren (bei Apuleius etwa eine lockere Plauderei). Für den modernen Interpreten können solche metaleptischen Strategien daher einen wichtigen Ansatzpunkt der Deutung bieten. Nicht unbedingt, weil sie die tatsächlichen Rezeptionssituationen spiegeln (die Plauderei des Apuleius etwa ist rein fiktiv und hat so nie stattgefunden), sondern weil sie einen Hinweis darauf geben, in welchem Rahmen der Text gelesen werden soll. Im Folgenden soll daher versucht werden zu zeigen, 1. dass in ActPl 12,1 ein solches metaleptisches Phänomen vorliegt, und 2. davon ausgehend, dass der Text sich hier im hermeneutischen Rahmen einer mündlichen Erinnerungskultur verortet.

Dass gerade das 12. Kapitel der Paulusakten in hermeneutischer Hinsicht von besonderer Bedeutung ist, legt schon seine Position innerhalb des GesamtaufrissesFootnote 36 nahe: Nach dem Itinerar der Paulusakten (das erheblich von dem der Apg abweicht), stellt Korinth den letzten Aufenthaltsort des Paulus vor seiner Abfahrt nach Rom und seinem Martyrium dar. Insofern kommt diesem Abschnitt eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gesamtkomposition zu, soweit diese für uns rekonstruierbar ist: Er bildet eine Art Brücke vom „Hauptteil“ der Paulusakten, wo episodenartig von Ereignissen an den einzelnen Reisestationen des Paulus erzählt wird, zum abschließenden Martyriumsbericht. Entsprechend dieser besonderen Stellung im Gesamtwerk ist das Kapitel ganz als Abschiedsszene gestaltet. Paulus predigt in Korinth nicht mehr öffentlich, es kommt nicht mehr wie sonst zu Konflikten mit der paganen Umwelt. Stattdessen sehen wir Paulus vierzig Tage lang im Kreise der Gemeinde, von der er Abschied nimmt. Entsprechend der genannten Brückenfunktion des Abschnitts blickt Paulus in einem ersten Teil (12,1) zunächst vierzig Tage lang in Erzählungen auf seine bisherige Tätigkeit zurück. Im zweiten Teil (12,2–5) wird dann in drei prophetischen Reden auf das kommende Martyrium des Paulus vorausverwiesen, zunächst von Paulus selbst, dann von Kleobios und schließlich von Myrte, letztere in Ausdeutung eines Eucharistiewunders, das aufgrund der Überlieferungslage nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren ist.Footnote 37 Der Abschnitt schließt mit der konkreten Ankündigung der Abfahrt des Paulus „am Freitag“ (παρασκɛυή, also „Rüsttag“).

In der eben geschilderten Verbindung von summarischem Rückblick und Ausblick auf das Künftige steht ActPl 12 in struktureller Entsprechung zur Miletrede in der Apostelgeschichte (Apg 20,17–38): Beide bilden eine Abschiedsszene, in der Paulus vor einer seiner Gemeinden (dort den Ältesten von Ephesus, hier den Korinthern) sein Wirken nochmals resümiert und in der sein baldiger Tod angedeutet wird.Footnote 38 Anders als im Fall der MiletredeFootnote 39 wurde der programmatische Charakter des Abschnitts bisher jedoch nur wenig für die Interpretation der Paulusakten fruchtbar gemacht. Dies überrascht umso mehr, als gerade die Verbindung von Lebensgeschichte und Leidensgeschichte in den Paulusakten (wie auch in anderen apokryphen Apostelakten) einen wesentlichen Unterschied zur kanonischen Apostelgeschichte markiert, wo der Tod des Paulus nur angedeutet wird.Footnote 40 Gerade die Frage, wie sich Leben und Sterben des Paulus in der Darstellung der Paulusakten zueinander verhalten, ist darum zentral für deren Gesamtverständnis.

Die besondere kompositorische Bedeutung des Abschnitts ActPl 12 wäre somit bereits für sich genommen Grund genug, diesem einige Beachtung zu schenken. Hinzu kommt jedoch noch eine weitere, strukturelle Besonderheit, die ebenfalls Aufmerksamkeit verdient. Zu Beginn des Kapitels heißt es:Footnote 41

Als aber Paulus von Philippi nach Korinth in das Haus des Epiphanius (Stephanas?)Footnote 42 kam, war Freude, so dass alle die Unsrigen (πάντας τοὺς ἡμɛτέρους) jubelten, zugleich aber auch weinten, da Paulus erzählte (ἐξηγουμένου Παύλου), was er in Philippi in den Werkstätten und an jedem Ort erlitten hatte (πέπονθɛν), was ihm zugestoßen war (τί αὐτῷ συνέβη), so dass <…>Footnote 43 weiterhin seine Tränen wurden und von allen anhaltend für Paulus gebetet wurde und er sich selbst glücklich pries, dass sie so gleichen Herzens jeden Tag seine Angelegenheiten im Gebet zum Herrn lenkten; unübertrefflich war daher die Größe der Freude, und die Seele des Paulus stärkte sich (αὔξɛιν τɛ τὴν ψυχὴν τοῦ Παύλου) wegen der guten Gesinnung (ɛὔνοια) der Brüder, so dass er vierzig Tage lang auch das Wort der Geduld lehrte (τὸν λόγον τῶν ὑπομονῶν διδάσκɛιν), an welchem Ort ihm wasFootnote 44 zugestoßen (ἐν ποίῳ τόπῳ αὐτῷ τί συνέβη) und welche Großtaten ihm gegeben worden waren (πηλίκα μɛγαλɛῖα ἐδόθη αὐτῷ). Er pries daher bei jedem Bericht (κατὰ πᾶσαν ἐξήγɛσιν) den allmächtigen Gott und Christus Jesus, der an Paulus an jedem Ort Wohlgefallen gehabt hatte.

Bei aufmerksamem Lesen fallen in diesem kurzen Abschnitt einige metaleptische Phänomene auf, wie wir sie oben beim antiken Roman wahrgenommen haben. Zunächst springt der Ausdruck οἱ ἡμέτɛροι, „die Unseren“, ins Auge. Aus dem Zusammenhang ist klar, dass damit die Christen gemeint sind. Die substantivierte Verwendung des Personalpronomens ist jedoch im Griechischen in dieser Form ungewöhnlich.Footnote 45 Als Selbstbezeichnung der Christen ist der Ausdruck in frühchristlicher Literatur nur noch in Tit 3,14 und MartPol 9,1 belegt, also häufig genug, um als frühchristlicher Sprachgebrauch gelten zu können, aber doch so selten, dass die Verwendung der 1. Person Plural durch den Erzähler hier auffallen muss (an vergleichbaren Stellen steht meist der Ausdruck „die Brüder“). Man kann hier also durchaus von einem metaleptischen Element sprechenFootnote 46 – nicht im modernen Sinne eines schockierenden Bruchs der Erzählwelt, aber im oben skizzierten Sinne als deutliches Durchscheinen der extradiegetischen Ebene. Der Erzähler macht seine Präsenz im Text sichtbar und nimmt durch die 1. Person Plural auch den Leser mit hinein. Beide sind somit im Ausdruck ἡμέτɛροι sozusagen in die Welt des Textes hineingespiegelt.

Eine weitere Auffälligkeit ist der Gegenstand der Predigt des Paulus: Er spricht nicht wie sonst über Fragen des Glaubens oder der Ethik (z.B. Enthaltsamkeit und Askese). Vielmehr spricht er in erster Linie über sich selbst, und das 40 Tage lang. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht notiert Richard Pervo in seinem Kommentar dazu: „The amount of time devoted to his own story strikes the modern reader as immodest, if not simply narcissistic.“Footnote 47 Durch die Nennung der „Werkstätten“ (ἔργαστρα)Footnote 48 knüpft Paulus zunächst an den unmittelbar vorangehenden Ereignissen in Philippi (ActPl 11) an, holt dann aber weiter aus und berichtet, was er „an jedem Ort erlitten hatte, was ihm zugestoßen war“. Ein solcher erzählerischer Rückblick auf frühere Ereignisse (narratologisch gesprochen: eine Analepse) ist für die Paulusakten mit ihren in sich geschlossenen Einzelepisoden sehr untypisch. Eine Parallele finden wir allenfalls in der Ephesus-Episode, wo Paulus die Begegnung mit dem sprechenden Löwen erzählt (ActPl 9,5–10), die zeitlich unmittelbar nach der Bekehrung in Damaskus eingeordnet wird. Ob diese Begebenheit allerdings suo loco (also in ActPl 1) bereits erzählt wurde oder an dieser Stelle „nachgetragen“ wird, ist wegen des umfangreichen Textverlustes am Beginn des Werkes nicht zu entscheiden.Footnote 49 Hier dagegen handelt es sich ganz klar um einen Rückbezug auf bereits erzählte Ereignisse. Vor allem aber handelt es sich anders als in ActPl 9 nicht bloß um einen Rückblick auf ein einzelnes vergangenes Ereignis, sondern um eine regelrechte Rekapitulation der gesamten bisherigen Handlung. Denn Paulus erzählt, „an welchem Ort ihm was zugestoßen und welche Großtaten ihm gegeben worden waren“, also nichts anderes als die gesamte Handlung der Paulusakten. Ähnlich wie oben bei Apuleius finden wir also auch hier ein Phänomen der Selbstreflexivität: Der Text der Paulusakten bildet sich in der Figurenrede des Paulus in sich selbst ab.Footnote 50

Dem außergewöhnlichen Inhalt entspricht das ungewöhnliche Vokabular, das zur Bezeichnung der Predigt verwendet wird. Explizit heißt es, dass Paulus seine Erlebnisse „erzählt“ (ἐξηγɛῖσθαι). Auch als Nomen ist von der „Erzählung“ (ἐξήγησις) des Paulus die Rede. Sonst dagegen bevorzugen die ActPl (wo nicht allgemeinere Ausdrücke wie λέγɛιν, ɛἰπɛῖν, λαλɛῖν verwendet werden) meist das Verb διδάσκɛιν.Footnote 51 Wo sich Paulus ausdrücklich des Erzählens als Mittel der Predigt bedient, geht es um die Taten Christi, nicht um eigene Erlebnisse.Footnote 52 Im Lichte des bisher Gesagten lässt sich auch diese Betonung des Erzählens als Selbstreflexivität deuten: Paulus erzählt die Paulusakten, die sich damit selbst als Erzählung markieren, und zwar als ursprünglich mündliche Erzählung. Denn nimmt der Leser die Darstellung des Textes ernst, so heißt dies für ihn im Umkehrschluss: Was er in Händen hält und liest, ist ursprünglich das, was Paulus einmal mündlich in Korinth erzählt hat. Damit gewinnt möglicherweise auch das metaleptische ἡμέτɛροι eine neue Bedeutungsdimension: Dass sich der Erzähler mit der zuhörenden Gemeinde identifiziert, kann vom Leser als subtiler Hinweis gedeutet werden, dass der implizite Autor des Textes aus dieser Gemeinde stammt und seine Informationen aus deren Tradition bezieht.Footnote 53 Ganz unabhängig von der Frage, ob es solche Traditionen tatsächlich gegeben hat, wäre es möglicherweise als Legitimationsstrategie der Paulusakten zu verstehen, eine solche Traditionslinie implizit zu suggerieren. In jedem Fall aber schreibt sich der Text sehr deutlich in die mündliche Erinnerungskultur der Christen ein und präsentiert sich selbst so als ein sekundäres Derivat dieser Erinnerungskultur.

Denkt man diesen Gedanken weiter, so repräsentieren die Zuhörer des Paulus die Erinnerungsgemeinschaft als Träger dieser Erinnerung. Auf intradiegetischer Ebene stehen sie für die „Ersthörer“ der Pauluserinnerung und damit für den Beginn der Erinnerungsgemeinschaft. Dies wird besonders darin deutlich, dass es sich um eine Abschiedsrede handelt: Paulus übergibt der Gemeinde sozusagen sein Vermächtnis. Die metaleptische Struktur der Episode bricht jedoch – wie wir gesehen haben – diese zeitliche Beschränkung auf die Ersthörer auf und nimmt die Leser in diese Erinnerungsgemeinschaft mit hinein: explizit durch die Bezeichnung οἱ ἡμέτɛροι, aber auch implizit durch die Rolle als Rezipienten der Paulus-Erzählungen, die der extratextuelle Leser mit der intratextuellen Gemeinde teilt. Die metaleptische Durchlässigkeit des Textes verbindet damit nicht nur die beiden „Sphären“ des Intra- und Extradiegetischen, sondern auch die Zeitebenen der erzählten Zeit und der Erzähl- bzw. Rezeptionszeit, zwischen identitätsstiftender Vergangenheit und Gegenwart: Sie entrückt den Leser direkt in die Situation der Erstrezipienten, in die Begegnung mit Paulus selbst, und schafft so eine Unmittelbarkeit, die die Medialität des Textes überspielt. Erinnerungstheoretisch gesprochen ermöglicht sie dem Leser, den sogenannten ‚floating gap‘ zu überbrücken.Footnote 54 Die Metalepse erfüllt damit eine analoge Funktion wie in mündlichen Erinnerungskulturen die „Vergegenwärtigung“ der fundierenden Vergangenheit durch rituelle, wiederholende „Aufführung“. Sie durchbricht damit drittens auch die „Wand“ zwischen mündlicher und schriftlicher Form der Erinnerung.

4. Ertrag und Ausblick: Die Paulusakten als Teil der frühchristlichen Erinnerung

Abschließend gilt es zu fragen, was mit den eben gemachten Beobachtungen für das Verständnis der Paulusakten gewonnen ist. Wie wir gesehen haben, deutet Vieles darauf hin, dass der Text im Rahmen eines Erinnerungsdiskurses zu verstehen ist, der in seiner primären Form ein mündliches, an die feste Trägergruppe der christlichen Gemeinden gebundenes Geschehen ist. Verändert diese Erkenntnis unsere Sicht auf den Text? Und kann sie helfen, die oben (s.o. 1.) festgestellten Widersprüche wenigstens teilweise aufzulösen?

Zunächst einmal zwingt diese Erkenntnis dazu, das Verhältnis von (implizitem) „Autor“, Text und Leser neu zu bestimmen. Die Mehrzahl der Deutungen der Paulusakten geht ja, wie oben gesehen, unhinterfragt von einem Modell aus, das die Leser als „Adressaten“ eines Autors versteht, der den Text vor allem instrumentell dazu benutzt, eine bestimmte Botschaft mitzuteilen. Zur Diskussion steht dann lediglich, worauf sich diese Botschaft konkret bezieht: Auf Paulus? Auf die Theologie, die ihm in den Mund gelegt wird? Auf konkurrierende Paulusdeutungen?

Im Lichte der oben gemachten Beobachtungen wird man feststellen müssen, dass dieses weithin vorausgesetzte Modell dem Textbefund nicht gerecht wird. Der Text dient nicht der Mitteilung einer versteckten Botschaft, die man zu entschlüsseln hat und die man dann auch als „Klartext“ in theologischen Sätzen formulieren könnte. Statt um Mitteilung geht es vielmehr um Beteiligung: Beteiligung des Lesers an einer Kultur gemeinsamen Erinnerns und damit Aufnahme in die erinnernde Gemeinschaft. Gerade in der literarischen Technik der metaleptischen Durchlässigkeit wird diese Funktion der Beteiligung des Lesers ganz besonders deutlich: Der Leser wird so hineingenommen in die zuhörende Gemeinde. Die Rezeption der Paulusakten (selbst in der Form des individuellen Lesens in einer Buchrolle!) wird so zum identitätsstiftenden Gemeinschaftsakt. Mit diesem neuen Verständnis der Textpragmatik lösen sich aber auch viele beschriebene Antinomien auf. Vier Beispiele mögen dies abschließend kurz skizzieren:

  • (1) Person versus Theologie: Steht die Person des Apostels oder eine bestimmte Theologie im Zentrum der Akten? Aus erinnerungstheoretischer Sicht erweist sich dieser Gegensatz als Spiegelfechterei, denn Personen und Ideen lassen sich im Raum der kollektiven Erinnerung gar nicht trennen. Jan Assmann nennt diese „unauflösliche Verschmelzung von Begriff und Bild“ eine „Erinnerungsfigur“.Footnote 55 Assmann zufolge (der sich wiederum auf Maurice Halbwachs beruft) können sich Ideen (etwa eine Theologie) nur dann in der Erinnerung einer Gruppe festsetzen, wenn sie sich in einer raumzeitlich konkreten Form präsentieren, etwa einer Person; umgekehrt ist jede konkrete Person, sobald sie in das Gefüge des kollektiven Gedächtnisses integriert wird, dadurch Teil eines Sinnsystems und damit selbst Träger einer Idee. Die Erinnerung an Paulus wachzuhalten und eine mit ihm verbundene Theologie zu propagieren sind daher keine alternativen, gar konkurrierenden Ziele, sondern schlicht zwei Seiten derselben Medaille. Beide Aspekte beeinflussen sich aber auch gegenseitig: Das erinnerte Paulusbild ist ja eine Paulusdeutung im Lichte der Theologie, die er verkörpert; die Theologie wiederum, die der Paulus der Akten verkündet, ist eng mit den Ereignissen um seine Person verbunden, etwa mit den Konflikten, die sie auslöst.

  • (2) Theologie versus Unterhaltung: Als ebenso wenig hilfreich erweist sich die Unterscheidung zwischen „erbaulicher“ Unterhaltungsliteratur und ernstzunehmender theologischer Literatur. Diese Entgegensetzung lässt die identitätsstiftende Kraft von Erzählungen außer Acht, die nicht auf abstrakten (etwa theologischen) Aussagegehalten beruht, sondern auf ihrer emotionalen Wirkung.Footnote 56 Gerade „unterhaltende“ Elemente der Erzählung wie Spannung, HumorFootnote 57 oder eben spektakuläre Wundergeschichten können dazu dienen, den Leser emotional zu involvieren – auch wenn dieselben Elemente bei modernen, aufgeklärten Lesern zum Teil den gegenteiligen Effekt haben mögen. Doch spektakuläre Wunder sind für Leser der Kaiserzeit selbstverständlicher Teil des religiösen Diskurses. So unterstützen gerade die „unterhaltenden“ Elemente der Erzählung die sinnstiftende Identifizierung des Lesers mit der erinnerten Vergangenheit.

  • (3) Faktual versus Fiktional: Auch dieser Gegensatz, in den sich die Akten nur schwer einordnen lassen, erweist sich letztlich als künstlich. Man macht es sich zu einfach, wenn man die apokryphe Aktenliteratur zusammen mit Evangelien und Apostelgeschichte einfach pauschal als „early Christian fiction“ klassifiziert.Footnote 58 Zwar ist es in der Tat fraglich, ob zwischen apokryphen und kanonischen Texten wirklich so grundlegende Unterschiede bestehen, wie immer wieder behauptet wird. Ein „Panfiktionalismus“,Footnote 59 der jede Form von stilisierter Erzählung als Fiktion bezeichnet, berücksichtigt aber nicht, dass der Text durch eindeutige Signale (wie etwa dem Leser bekannte Namen) den Anspruch erhebt, auf reale Wirklichkeit zu referieren.Footnote 60 Man kommt also nicht umhin zu akzeptieren, dass wir es mit einem Text zu tun haben, der den Anspruch erhebt, Wirklichkeit widerzugeben, und doch voller phantastischer Fiktion ist. Handelt es sich also doch um „Gauklerstücke“ eines Betrügers?Footnote 61 Auch aus diesem Dilemma kann die Erinnerungstheorie einen Ausweg weisen. Denn das Gedächtnis ist nach Halbwachs und Assmann immer rekonstruktiv.Footnote 62 „Die Vergangenheit vermag sich in ihm nicht als solche zu bewahren. Sie wird fortwährend von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her reorganisiert.“Footnote 63 Unter den Voraussetzungen der Erinnerungstheorie ist die eigentümliche Mischung aus Fiktionalität und Faktualität also gar nicht so überraschend, sondern vielmehr sogar erwartbar.

  • (4) Mündlichkeit versus Schriftlichkeit: Auch dieser scheinbare Gegensatz löst sich unter erinnerungstheoretischen Vorzeichen auf. Die Frage, ob es sich bei den Apostelakten primär um eine Verschriftlichung mündlicher Traditionen handelt oder um literarische Kunstgebilde, hat in der Debatte immer wieder eine Rolle gespielt. Meist hing die jeweilige Antwort auch hier vom Grundverständnis des Interpreten ab: So betonten Vertreter einer sozialgeschichtlichen Auslegung die Mündlichkeit der Erzählungen, um deren Sitz im Leben als „Gegengeschichten“ unterdrückter Gruppen wahrscheinlich machen zu können.Footnote 64 Wer dagegen stärker die Verwandtschaft mit paganen Romanen unterstreicht, wird eher die Schriftlichkeit betonen.Footnote 65 Auch hier ist aber eine radikale Entgegensetzung beider Alternativen verfehlt.Footnote 66 Einerseits ist der sozialgeschichtlichen Deutung durchaus rechtzugeben in ihrem Bemühen, die Texte in ihren sozial-kulturellen Zusammenhängen zu verorten.Footnote 67 Auch ist es sicher richtig, dass der „volkstümliche“ Erzählstil,Footnote 68 den die Akten mit mündlichen Erzählungen teilen, für diese Verortung von Bedeutung ist. Doch ein „mündlicher“ Erzählstil bedeutet noch nicht, dass es sich um mündlich tradiertes Erzählgut handeln muss, es kann sich ebenso um ein literarisches Mittel handeln (wie es etwa die hellenistischen Romane anwenden). „Mündliche“ und „schriftliche“ Erzähltechniken lassen sich also gar nicht klar gegeneinander abgrenzen.Footnote 69 Interessant ist dabei jedoch weniger die Frage, ob eine Erzählung ursprünglich mündlich oder schriftlich überliefert wurde, sondern wozu jeweils spezifisch „mündliche“ bzw. „schriftliche“ Techniken eingesetzt werden.Footnote 70 So versuchen etwa die Paulusakten, sich in einen „mündlichen“ Erinnerungsdiskurs einzuschreiben, indem sie dezidiert „schriftliche“ Techniken (z.B. Metalepse) verwenden.

Wer ist nun also der Paulus, den uns die Akten präsentieren? Er ist verehrter „Heiliger“ und Träger einer theologischen Botschaft; konstruierte Romanfigur und erinnerte Gestalt der Tradition. Vor allem aber ist er identitätsstiftende Integrationsfigur. Der Leser der Akten wird durch sie Teil einer Erinnerungsgemeinschaft, die sich durch den Rückbezug auf Paulus als Vertreter ihrer Gründungsgeneration konstituiert. So gelesen, bilden die Paulusakten nicht nur ein spannendes Zeugnis für das Paulusbild des 2. Jahrhunderts, sondern auch für das Selbstverständnis von Christen zu dieser Zeit.

Acknowledgements

Die hier vorgelegten Überlegungen sind im Rahmen des DFG-Projekts „Memoria Apostolorum“ (Geschäftszeichen WI 3620/5-1) an der Ludwig-Maximilians-Universität München entstanden. Dem Leiter des Projekts, Herrn PD Dr. Stephan Witetschek, sowie meinen beiden Mitstreitern Cedric Büchner und Florian Rösch danke ich sehr herzlich für die vielen anregenden Gespräche und Diskussionen, die das Verfertigen dieser Gedanken begleitet und geprägt haben. Herrn Professor Dr. Knut Backhaus, der mein ebenfalls daraus hervorgegangenes Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel „Memoria Pauli. Die Erinnerung an den Apostel Paulus im frühen Christentum“ betreut, danke ich für die wohlwollend-kritische Lektüre des Aufsatzes und nicht zuletzt für die Ermutigung, diesen als Erstlingsfrucht meines Promotionsprojekts zu publizieren.

Competing interests

The author declares none.

References

1 In der älteren Forschung herrschte die Meinung vor, dass die frühe Kirche Paulus vergessen, verdrängt und verschwiegen habe. Diese irrtümliche Sicht wurde vor allem durch A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum (BHT 5; Tübingen: Mohr, 1979) sowie E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch: Paulus in der frühchristlichen Literatur bis Irenäus (Münster: Aschendorff, 1979) korrigiert. In jüngerer Zeit sind zum Thema Paulus-Erinnerung der frühen Kirche vor allem einschlägig: R. Pervo, The Making of Paul: Constructions of the Apostle in Early Christianity (Minneapolis: Fortress, 2010); White, B., Remembering Paul: Ancient and Modern Contests over the Image of the Apostle (Oxford: Oxford University Press, 2014)CrossRefGoogle Scholar; J. Schröter/S. Butticaz/A. Dettwiler, Hg., Receptions of Paul in Early Christianity: The Person of Paul and his Writings through the Eyes of his Early Interpreters (BZNW 234; Berlin/Boston: de Gruyter, 2018).

2 Zu den Acta Pauli liegt bisher keine kritische Ausgabe vor. Die nach wie vor maßgebliche deutsche Übersetzung bietet W. Schneemelcher, „Paulusakten“, NTApo6 ii.193−243. Die Zählung der Abschnitte des Textes erfolgt hier nach der Übersetzung von Rordorf, Cherix und Kasser in Écrits Apocryphes Chrétiens (hg. F. Bovon/P. Geoltrain; 2 Bände; Paris: Gallimard, 1997−2005) i.1115−77. Diese Zählung verdrängt zunehmend die ältere nach Schneemelcher, da sie mutmaßlich auch der von Rordorf besorgten kritischen Ausgabe der Paulusakten in der Reihe Corpus Christianorum zugrunde liegen wird.

3 Zum theoretischen Hintergrund des kulturellen Gedächtnisses vgl. vor allem J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (München: C. H. Beck, 20137).

4 Vgl. Schreiber, S., Paulus als Wundertäter: Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen (BZNW 79; Berlin: de Gruyter, 1996)CrossRefGoogle Scholar; B. Kollmann, „Paulus als Wundertäter“, Paulinische Christologie: Exegetische Beiträge (hg. U. Schnelle/T. Söding; FS H. Hübner; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000) 76−96; S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus: Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134; Tübingen: Mohr Siebeck, 2001); R. Zimmermann, Hg., Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen (2 Bände; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2013−17) ii.12f.; 216−95.

5 Zu diesem Ergebnis kommt im Wesentlichen auch Schreiber, Paulus, 150−3.

6 So etwa Plümacher, E., „Apokryphe Apostelakten“, PRE.S 15 (1978) 1170Google Scholar, hier 13. Vgl. auch C. Schmidt, Acta Pauli aus der Heidelberger koptischen Papyrushandschrift Nr. 1 (Leipzig: Hinrichs 19052) 215f.

7 Zur Problematisierung dieses Konzeptes eines „Volksglaubens“, der als Gegenüber zur „Elite“ definiert wird, vgl. A. Merkt, „‚Volk‘: Bemerkungen zu einem umstrittenen Begriff“, Volksglaube im antiken Christentum (hg. H. Grieser/A. Merkt; FS Th. Baumeister; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009) 17−27 sowie die weiteren Beiträge in diesem Band.

8 Vgl. Alkier, Wunder, 16−22; M. Frenschkowski, „Antike kritische und skeptische Stimmen zum Wunderglauben als Dialogpartner des frühen Christentums“, Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen: Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (hg. B. Kollmann/R. Zimmermann; WUNT 339; Tübingen: Mohr Siebeck, 2014) 283–308. Die These findet sich etwa noch bei G. Poupon, „L'accusation de magie dans les Actes apocryphe“, Les Actes apocryphes des apôtres. Christianisme et monde païen (hg. F. Bovon et al.; Genf: Labor et Fides, 1981) 71−93, bes. 80−4. Weitere Belege aus der exegetischen Literatur bei Alkier, Wunder, 4.

9 Vgl. J.-D. Kaestli, „Les principales orientations de la recherche sur les Actes apocryphes“, Actes apocryphes, 49−67, hier 63f.

10 Etwa bei Totenerweckungen (vgl. R. Pervo, The Acts of Paul: A New Translation with Introduction and Commentary (Eugene, OR: Cascade, 2014) 74) oder der Gefangenenbefreiung in ActPl 9 (vgl. Peterson, E., „Einige Bemerkungen zum Hamburger Papyrusfragment der Acta Pauli“, VigChr 3 (1949) 142−64Google Scholar; Poupon, „L'accusation“, 91−3).

11 So im Falle des getauften Löwen (ActPl 9), der ebenfalls häufig als Symbol gedeutet wird: Vgl. H. J. W. Drijvers, „Der getaufte Löwe und die Theologie der Acta Pauli“, Carl-Schmidt-Kolloquium an der Martin-Luther-Universität 1988 (hg. P. Nagel; Halle: Martin-Luther-Universität, 1990); Adamik, T., „The Baptized Lion in the Acts of Paul“, The Apocryphal Acts of Paul and Thecla (hg. J. Bremmer ; Kampen: Kok Pharos, 1996) 6074Google Scholar; W. Rordorf, „Quelques jalons pour une interprétation symbolique des Actes de Paul“, Early Christian Voices: In Texts, Traditions and Symbols (hg. D. H. Warren et al.; FS F. Bovon; Boston/Leiden: Brill 2003) 251−65. Siehe auch die Diskussion bei Schneemelcher, „Paulusakten“, 213 sowie J. Spittler, Animals in the Apocryphal Acts of the Apostles: The Wild Kingdom of Early Christian Literature (WUNT ii.247; Tübingen: Mohr Siebeck, 2008) 182−7.

12 Dies mag etwa für die Andreas- und Thomasakten zutreffen, vgl. F. Bovon, „Die kanonische Apostelgeschichte und die apokryphen Apostelakten“, Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie (hg. J. Frey et al.; BZNW 162; Berlin/New York: de Gruyter, 2009) 349−79, hier 368.

13 Vgl. R. Zimmermann, „Von der Wut des Wunderverstehens: Grenzen und Chancen einer Hermeneutik der Wundererzählungen“, Hermeneutik 27−52, bes. 42−6.

14 Vgl. schon die Notiz bei Tertullian (De baptismo 17), wonach der Autor der ActPl, ein kleinasiatischer Presbyter, diese amore Pauli verfasst habe. In jüngerer Zeit vertrat eine solche Deutung etwa Brock, A. G., „Genre of the Acts of Paul: One Tradition Enhancing another“, Apocrypha 5 (1994) 119−36CrossRefGoogle Scholar.

15 Vgl. z.B. S. E. Davies, The Revolt of the Widows: The Social World of the Apocryphal Acts (Carbondale, IL: Southern Illinois University Press, 1980); MacDonald, D., The Legend and the Apostle: The Battle for Paul in Story and Canon (Philadelphia: Westminster, 1983)Google Scholar.

16 Vgl. R. Pervo, „A Hard Act to Follow: The Acts of Paul and the Canonical Acts“, Journal of Higher Criticism 2 (1995) 3−32.

17 So – grob vereinfachend – die These u.a. von MacDonald, der hinter ActPl mündliche „old wive tales“ (Legend, 34) sieht, die den Widerstand ihrer Trägerinnen gegen männliche Dominanz in der frühen Kirche zum Ausdruck bringen. Kritisch dazu z.B. P. Dunn, „Women's Liberation, the Acts of Paul and Other Apocryphal Acts of the Apostles“, Apocrypha 4 (1993) 245−61; G. Häfner, „Die Gegner in den Pastoralbriefen und die Paulusakten“, ZNW 92 (2001) 64−77.

18 Vgl. Dassmann, Stachel, 277f.: „Auf die Person des Paulus als apostolischen Zeugen kommt es bei alledem nicht an. Ein anderer Name könnte an seine Stelle treten, das asketisch-sittliche Ideal auch ohne Verbindung mit der Verkündigung des Paulus vorgetragen werden.“

19 Dies war die These von W. Rordorf, „Was wissen wir über Plan und Absicht der Paulusakten?“, Oecumenica et patristica (hg. D. Papandreou; FS Schneemelcher; Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 1989) 71−82. Vgl. Schneemelcher, „Paulusakten“, 214; Pervo, Acts, 72.

20 Rordorf, „Was wissen wir“, 76.

21 Vgl. Pervo, R., Profit with Delight: The Literary Genre of the Acts of the Apostles (Philadelphia: Fortress, 1987) 125−7Google Scholar.

22 Vgl. F. Bovon, „Miracles, Magic, and Healing in the Apocryphal Acts of the Apostles“, ders., Studies in Early Christianity (WUNT 161; Tübingen: Mohr Siebeck, 2003; Orig. franz. 1995) 253−66.

23 In De viris illustribus 7 erklärt Hieronymus die Acta Pauli ausdrücklich deshalb für apokryph, weil Lukas als Begleiter des Paulus eine Geschichte wie die Taufe des Löwen nicht entgangen sein könne: igitur πɛριόδους Pauli et Theclae et totam baptizati leonis fabulam inter apocryphas scripturas computamus. quale enim est, ut individuus comes Apostoli inter ceteras eius res hoc solum ignoraverit?

24 Der Begriff des Romans ist ein moderner beschreibungssprachlicher Begriff ohne quellensprachliches Pendant. In der klassischen Philologie ist er als Bezeichnung für eine Gruppe von Prosaerzählungen fest etabliert, vor allem die Vertreter des sogenannten „idealisierenden Romans“ (Chariton, Xenophon von Ephesos, Achilleus Tatios, Longos, Heliodor) und des „komisch-realistischen Romans“ (Petrons Satyrica und Apuleius’ Metamorphosen). In einem weiteren Sinne bezeichnet man als „Roman“ auch generell fiktionale Prosaerzählungen der Antike, oft auch „Fringe Novels“ genannt. Vgl. z.B. G. Karla, Hg., Fiction on the Fringe: Novelistic Writing in the Post-Classical Age (Leiden: Brill, 2009). Bereits seit Ernst von Dobschütz wurde gesehen, dass auch die Apostelakten in dieses literarische Umfeld gehören. Vgl. z.B. H.-J. Klauck, Apokryphe Apostelakten (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2005) 14−21.

25 Zur Erinnerungskultur des frühen Christentums vgl. jüngst S. Huebenthal, „‚Frozen Moments‘: Early Christianity through the Lens of Social Memory Theory“, Memory and Memories in Early Christianity: Proceedings of the International Conference Held at the Universities of Geneva and Lausanne (June 2–3, 2016) (hg. S. Butticaz/E. Norelli; WUNT 398; Tübingen: Mohr Siebeck, 2018) 17–43.

26 Grundlegend zum Begriff Metalepse: G. Genette, Die Erzählung (Paderborn: Fink, 20103; franz. Orig. 1972) 152−4; ders., Metalepse (Hannover: Wehrhahn, 2018; franz. Orig. 2004).

27 Vgl. I. J. F. de Jong, „Metalepsis in Ancient Greek Literature“, Narratology and Interpretation: The Content of Narrative Form in Ancient Literature (hg. J. Grethlein/A. Rengakos; Berlin: de Gruyter, 2009) 87−115; U. Eisen/P. v. Möllendorff, Hg., Über die Grenze: Metalepse in Text- und Bildmedien des Altertums (Narratologia 39; Berlin/Boston: de Gruyter, 2013).

28 Man beachte allein den Ausdruck „erzählte Welt“! Vgl. P. v. Möllendorff, „‚Sie hielt ein aufgerolltes Buch in den Händen …‘: Metalepse als mediales Phänomen in der Literatur der Kaiserzeit“, Über die Grenze, 346−86, hier 352.

29 Vgl. U. Eisen/P. v. Möllendorff, „Zur Einführung“, Über die Grenze, 1−10, hier 1f.

30 Vgl. S. Klimek, Paradoxes Erzählen: Die Metalepse in der phantastischen Literatur (Paderborn: mentis, 2010).

31 Vgl. Möllendorff, „Buch“, 353−7.

32 Vgl. z.B. V. Rimell, Hg., Seeing Tongues, Hearing Scripts: Orality and Representation in the Ancient Novel (Ancient Narrative Supplementum 7; Groningen: Barkhuis, 2007).

33 Vgl. Hunter, R., „Ancient Readers“, The Cambridge Companion to the Greek and Roman Novel (hg. T. Whitmarsh; Cambridge: Cambridge University Press, 2008) 261−71CrossRefGoogle Scholar, hier 267−70.

34 Metamorphosen 1,1, Übersetzung Markus Kirchner.

35 Die antike Gattungstheorie beschäftigt sich mit den Texten, die wir heute als antike „Romane“ klassifizieren, nicht (vgl. oben Anm. 24). Vgl. N. Holzberg, Der antike Roman: Eine Einführung (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 20063) 18f. Es handelte sich sozusagen um ein genus sine nomine und war schon von daher mit einer gewissen Unbestimmtheit behaftet.

36 Dass es sich bei den Paulusakten um ein einheitliches Werk handelt, das lediglich einer fragmentierten Überlieferung zum Opfer gefallen ist, war spätestens seit den Papyrusfunden von Carl Schmidt breiter Konsens. Dieser ist jedoch jüngst von Glenn Snyder in Frage gestellt worden. Vgl. G. Snyder, Acts of Paul: The Formation of a Pauline Corpus (WUNT ii/352; Tübingen: Mohr Siebeck, 2013). Snyder verweist darauf, dass uns alle bekannten Handschriften nur Teile der Akten bieten und postuliert, es habe nie eine „vollständige“ Ausgabe „der“ Paulusakten gegeben. Vielmehr handle es sich um verschiedene Sammlungen einzelner Paulustraditionen, die sich um das Martyrium als Nukleus gebildet hätten. Snyders Vorschlag wurde in der Forschung bisher eher verhalten aufgenommen. Neben ablehnenden Stimmen (z.B. Pervo, Acts, 61; A. Merz, „Hinführung zu den Wundererzählungen in den Akten des Paulus und der Thekla“, Kompendium, ii.403−23, hier 405f.) gab es jedoch auch vorsichtige Zustimmung (z.B. T. Nicklas, „Die Akten des Paulus und der Thekla als biographische Paulusrezeption“, Receptions of Paul, 175−93, hier 175). Die weitere Diskussion zu dieser Frage bleibt abzuwarten. Hier soll davon ausgegangen werden, dass es sich bei den Akten zumindest in ihrer Endfassung um ein einheitliches Werk handelt. Vielleicht können nicht zuletzt die folgenden Beobachtungen zur Beziehung des 12. Kapitels zum Ganzen der Erzählung diese These untermauern.

37 Der Abschnitt ist in zwei Textzeugen überliefert, dem koptischen Heidelberger Papyrus (PHeid) und dem griechischen Hamburger Papyrus (PH), in beiden jedoch fragmentarisch.

38 Vgl. Pervo, Acts, 281f.

39 Vgl. z.B. R. Hoppe, „‚Denn ich habe mich nicht der Pflicht entzogen, euch den ganzen Willen Gottes zu verkünden …‘ (Apg 20,27): Die testamentarische Rede des Paulus in Milet“, Das Paulusbild der Apostelgeschichte (hg. R. Hoppe/K. Köhler; Stuttgart: Kohlhammer, 2009) 135−57.

40 Dies verbindet die ActPl formal eher mit den kanonischen Evangelien als mit der Apostelgeschichte, wie bereits häufig gesehen wurde: vgl. z.B. F. Bovon, „Canonical and Apocryphal Acts of the Apostles“, New Testament and Christian Apocrypha: Collected Studies ii (WUNT 237; Tübingen: Mohr Siebeck, 2009) 197−222, hier 207; Brock, „Genre“; Pervo, Making, 160−2.

41 Die Übersetzung folgt weitgehend Schneemelcher, „Paulusakten“, 234f. Abweichungen werden durch Fußnoten gekennzeichnet und begründet. Der griechische Text wird zitiert nach C. Schmidt, Πράξɛις Παύλου. Acta Pauli: Nach dem Papyrus der Hamburger Staats- und Universitäts-Bibliothek, unter Mitarbeit von W. Schubart (Glückstadt/Hamburg: Augustin, 1936).

42 PH, der einzige Textzeuge für diese Stelle, ist hier schwer lesbar. Schmidt (Πράξɛις Παύλου, 44), dem Schneemelcher folgt, liest „Epiphanius“; Rordorf („Actes de Paul“, 1167) schlägt in Anlehnung an 1 Kor 1,16; 16,15.17 „Stephanas“ vor. Vgl. Pervo, Acts, 287.

43 Schwer lesbare Stelle. Schmidts Ergänzung ɛἰς ἄνɛσιν (Πράξɛις Παύλου, 44) bleibt unsicher.

44 Schneemelcher übersetzt hier „etwas“ und folgt damit Schmidt, der freilich im griechischen Text das τί nicht enklitisch und damit als Interrogativpronomen akzentuiert (Πράξɛις Παύλου, 46). Vgl. R. Kühner und F. Blass, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, Erster Teil: Elementar- und Formenlehre (2 Bände; Hannover: Hahn 1890−23) i.338, 345f.; E. Schwyzer, Griechische Grammatik, Bd. ii: Syntax und syntaktische Stilistik (HdA 2,1,2; München: C. H. Beck, 19885) 213−15. Der Satz ist von daher besser als indirekte Frage mit zwei Fragepronomina zu verstehen, vgl. R. Kühner und B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, Bd. ii: Satzlehre (2 Bände; Hannover: Hahn 1898−19043) ii.521f.

45 In etwa vergleichbar ist das lateinische nostri, eine gängige Selbstbezeichnung der Römer. Vgl. P. G. W. Glare, Oxford Latin Dictionary (Oxford: Oxford University Press, 1982) 1191. Im Griechischen sind derartige elliptische Verwendungen eher im Neutrum zu finden: τὸ ἡμέτɛρον/τὰ ἡμέτɛρα. Vgl. H. G. Liddell/R. Scott/H. S. Jones, A Greek-English Lexicon (Oxford: Oxford University Press, 1996) 771; Kühner/Gerth, Grammatik, i.266.

46 Gegen Pervo, Acts, 287f.: „looks like what contemporary critics call ‘metalepsis’ …, but it means here ‘Christians’“. Beides muss sich ja nicht unbedingt ausschließen.

47 Pervo, Acts, 284.

48 Wörtlich: der Arbeitslohn, wohl metonymisch gebraucht. Vgl. Pervo, Acts, 288.

49 Häufig wird Ersteres angenommen, so etwa Schneemelcher, „Paulusakten“, 199; vgl. Pervo, Acts, 80: „Ancient popular literature in general and APl in particular are not likely to leave gaps of this nature for later narration to fill in.“ Aber würde die Episode, die doch hauptsächlich vom Überraschungsmoment des Paradoxen lebt, bei einer Wiederholung nicht an Reiz verlieren?

50 Noch deutlicher ist die Parallele zu Xenophon von Ephesus, Ephesiaka 5,15,2: „Unter anderem weihten sie der Göttin eine Aufzeichnung von allem, was sie erlitten und was sie getan hatten (πάντων ὅσα τɛ ἔπαθον καὶ ὅσα ἔδρασαν).“ Dass die Hauptfigur seine Erlebnisse als Binnenerzählung vorträgt, ist bereits seit den sogenannten Apologen des Odysseus (Od. 9−11) ein häufiges Stilmittel.

51 Vgl. z.B. ActPl 3,8f.16f.20.42; 14,1; koptisch ϯ ⲥⲃⲱ: 5,1 (ergänzt von Schmidt, Acta Pauli, 52); 9,12 (= P.Bod. 41 6,24: R. Kasser und P. Luisier, „Le Papyrus Bodmer xli en édition princeps l’épisode d’Èphèse des Acta Pauli en copte et en traduction“, Le Muséon 117 (2004) 281–384, hier 324).

52 Vgl. 3,1: τὰ μɛγαλɛῖα τοῦ Χριστοῦ διηγɛῖτο αὐτοῖς.

53 Diese Deutung wurde zuerst vorgeschlagen von Snyder, Acts, 199−201.

54 Der Begriff ‚floating gap‘ wurde vom Ethnologen Jan Vansina geprägt und von Jan Assmann für die Theorie des kulturellen Gedächtnisses fruchtbar gemacht. Er bezeichnet die Lücke, die zwischen dem kommunikativen Gedächtnis (Ereignisse der nahen Vergangenheit) und dem kulturellen Gedächtnis („fundierende“ Erinnerung an Ereignisse der fernen Vergangenheit) klafft. Vgl. Assmann, Gedächtnis, 48–56.

55 Vgl. Assmann, Gedächtnis, 37f.

56 Vgl. z.B. R. Sommer, „Kollektiverzählungen: Definition, Fallbeispiele und Erklärungsansätze“, Wirklichkeitserzählungen: Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens (hg. Ch. Klein/M. Martínez; Stuttgart/Weimar: Metzler 2009) 229−44.

57 Vgl. z.B. R. Pervo, „Mehr als nur ein paar Spuren: Humor in den Wundererzählungen“, Kompendium, ii.54–6.

58 So etwa R. Pervo, „Early Chrisitian Fiction“, Greek Fiction: The Greek Novel in Context (hg. J. R. Morgan/R. Stoneman; London: Routledge, 1994) 239–54.

59 Vgl. Ch. Klein und M. Martínez, „Wirklichkeitserzählungen: Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens“, Wirklichkeitserzählungen, 1–13, hier 4.

60 Zudem ist er nur um den Preis eines bis zum Äußersten entleerten Begriffs von Fiktionalität zu haben (vgl. ebd.). Pervo definiert etwa „narrative fiction“ schlicht als „composition rather than concoction“ („Fiction“, 239).

61 So urteilt Schmidt, Acta Pauli, 216.

62 Vgl. Assmann, Gedächtnis, 40–5.

63 Ebd. 41f.

64 Vgl. MacDonald, Legend; V. Burrus, Chastity as Autonomy: Women in the Stories of the Apocryphal Acts (SWR 23; Lewiston, NY: Mellen, 1987).

65 So etwa Pervo, Acts, 68f.

66 Vgl. schon É. Junod, „Créations romanesques et traditions ecclésiastiques dans les Actes apocryphes des Apôtres. L'alternative fiction romanesque − vérité historique: une impasse“, Augustinianum 23 (1983) 271−85.

67 Der Versuch einer konkreten Zuweisung zu bestimmten Einzelgruppen innerhalb des Christentums bleibt dennoch problematisch. Vgl. F. Bovon/É. Junod, „Reading the Apocryphal Acts of the Apostles“, Semeia 38 (1986) 161−71.

68 Vgl. z.B. Pervo, Acts, 70.

69 Vgl. dazu ausführlich Thomas, C. M., „Word and Deed: The Acts of Peter and Orality“, Apocrypha 3 (1992) 125−64;CrossRefGoogle Scholar dies., The Acts of Peter, Gospel Literature and the Ancient Novel: Rewriting the Past (Oxford: Oxford University Press, 2003) 14−38.

70 Vgl. Thomas, Acts, 15: „The critical difference in this case is not the use of writing, but the use to which writing is put … The question is not whether the source text for a document is written or oral, but the means by which the source is being appropriated“ (Hervorhebung im Original).