Eine Erklärung sozialer prozesse, die rationalistische Verkürzungen vermeiden will, sollte auch die emotionale Dimension des Handelns berücksichtigen – das wird in den Sozialwissenschaften inzwischen wieder akzeptiert. Die einschlägigen Ergebnisse von Psychologie und Biologie werden dafür aber bisher kaum genutzt. Allerdings nicht ohne Grund: Zwar sind viele dieser Ergebnisse soziologisch unmittelbar interessant, weil sie gängige Annahmen darüber in Frage stellen, wie soziale Prozesse auf der Mikroebene ablaufen (vgl. etwa die These, daß Emotionen, durch ihre Fokussierungsleistung, situative Entscheidungen – auch: „rationale“ Entscheidungen – überhaupt erst ermöglichen). Diejenigen Soziologen, die – wie Randall Collins und Jonathan Turner – systematisch dafür plädieren, sich stärker auf diese Ergebnisse einzulassen, präsentieren dieses Programm jedoch als Alternative zu einer „verstehenden“ Soziologie und setzen in ihren Erklärungen voraus, daß sich Emotionen weithin unmittelbar auf fest verdrahtete Reaktionsmuster zurückführen lassen. Nimmt man das ernst, dann liegt der Eindruck nahe, daß hier zwischen Soziologie auf der einen, Psychologie und Biologie auf der anderen Seite derzeit echte Übersetzungsschwierigkeiten bestehen; daß der Versuch, Argumente aus diesen Disziplinen zu integrieren, momentan dazu zwingen würde, ertragreiche hermeneutische Verfahren aufzugeben und einen erheblichen Teil der beobachtbaren sozialen Variationen auszublenden, und insofern mit echten Nachteilen verbunden wäre.
Auf diesen Diskussionsstand reagiert Christian von Scheves wirklich lesenswertes Buch Emotionen und soziale Strukturen (das im Kontext der von Birgitt Röttger-Rössler und Hans Markowitsch geleiteten Arbeitsgruppe „Emotionen als bio-kulturelle Prozesse“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld entstanden ist und den Nutzen solcher interdisziplinären Kooperationen deutlich belegt). Das Buch will diese Rezeptionsbarrieren auflösen und so dazu beitragen, eine Alternative zu den gängigen rationalistischen Erklärungsstrategien in der Soziologie auszuarbeiten. Ziel ist keine fertige Theorie über das Verhältnis von Emotionen und sozialen Strukturen – eine solche Theorie wäre jedenfalls heute gar nicht möglich –, sondern ein allgemeiner Rahmen, der es erlaubt, Aussagen über Emotionen und Aussagen über soziale Strukturen so zu verbinden, daß bessere soziologische Erklärungen entstehen. Zu diesem Zweck nähert sich Scheve der Emotionsforschung – anders als etwa Collins und Turner – gerade aus der Perspektive einer „kognitiven“ Soziologie; aus seiner Sicht „verwundert es, daß einige neuere Emotionstheorien oftmals Abstand zum interpretativen Paradigma nehmen“ (111 f.).
Ausgangspunkt seines Arguments ist die derzeitige unglückliche Konstellation der US-amerikanischen Emotionssoziologie. Dort stehen einander zwei Extrempositionen gegenüber: Eine in einem spezifisch engen Sinne „konstruktivistische“ Position, der zufolge Emotionen sozialen Regeln folgen, weil und insoweit sie planvoll – durch „Emotionsmanagement“ – geformt wurden; und jene bereits erwähnte Position, der zufolge Emotionen, weil sie sich der reflektierten Kontrolle weithin entziehen, nicht auf soziale Regeln, sondern unmittelbar auf fest verdrahtete Reaktionsmuster zurückzuführen sein müssen. Offensichtlich stimmen diese Positionen insoweit überein, als sie den für die hermeneutische Tradition zentralen Gedanken ausschließen, daß Deutungsregeln das Weltverhältnis von Akteuren auch über ein präreflexives Verstehen anleiten können; ein Gedanke, den schon Heidegger – in seiner Analyse der Stimmungen – für die Deutung von Emotionsphänomenen nutzt, und der vor allem durch Bourdieus Habituskonzept (wenn auch bekanntlich auf nicht unproblematische Weise) bereits in die Soziologie einging. Dagegen verweist das vorliegende Buch zwar dort, wo es die Form des ins Auge gefaßten Erklärungsansatzes skizziert, mehrfach auf Bourdieu; interessant ist es aber gerade, weil es zunächst nicht an diese Diskussionslinie anknüpft, sondern zu einem ähnlichen Ergebnis auf ganz anderem Wege kommt, nämlich durch eine Rekonstruktion aktueller psychologischer und biologischer Emotionskonzepte (vgl. vor allem die Kapitel „Sozial strukturierte Emotionen“, S. 79-177, und „Affektive Informationsverarbeitung“, S. 206-221). In einem ersten Schritt diskutiert Scheve die psychologische „Einschätzungstheorie“ (appraisal theory) der Emotionen. Deren Grundgedanke lautet: Die Entstehung spezifischer Emotionen setzt spezifische „Einschätzungen“ voraus, die – das ist der für Scheves Argument entscheidende Punkt – den Beteiligten nicht bewußt sein müssen, aber trotzdem sinnvoll nur als Kognitionen begriffen werden können (da es dafür auf die Art der Informationsverarbeitung ankommt und nicht darauf, daß sie bewußt geschieht). Das ist nicht nur ein Streit um Worte: Wie Scheve betont, erschließt diese Begriffsklärung zusätzliche substantielle Erklärungsmöglichkeiten, weil sie auf den möglichen Einfluß von kognitiven Mustern aufmerksam macht, die essentiell sozialen Ursprungs sind: zu den kognitiven Schemata, die die Entstehung von Emotionen anleiten, gehören auch soziale Kategorien, die u.U. nur im „impliziten Gedächtnis“ gespeichert sind, aber den Verlauf von Interaktionssituationen dennoch prägen können, etwa weil sie bei manchen Beteiligten ein ungutes Gefühl erzeugen. Wie Scheve an Helena Flams Konzept des „emotional man“ zeigt, haben Ansätze, die die Sozialität von Emotionen allein auf „Emotionsmanagement“ zurückführen, insofern keinen zu starken, sondern einen zu schwachen Begriff von der Sozialität der Emotionen, da sie bereits ein problematisches Konzept unvermittelter „primärer“ Emotionen voraussetzen. In einem zweiten Schritt zeigt Scheve, daß diese Argumentation auch durch die neurobiologische Forschung gestützt wird; seine anfangs überraschende These lautet, daß „eine soziale Konstruktion ebenso gut auf neurophysiologischer Ebene stattfinden kann“ (S. 81). Das Buch erläutert hier zunächst detailliert die – bei allem Dissens über die Einzelheiten – weithin akzeptierte Auffassung, daß Emotionen im Gehirn auf zwei separaten „Pfaden“ entstehen: in einem subkortikalen System, das basale affektive Reaktionen in Gang setzt, und in einem kortikalen System, das die „weitere Differenzierung, Kategorisierung und Kontrolle“ dieser Reaktionen (S. 87) bewirkt. Aus dieser Unterscheidung ergibt sich zunächst: Konzepte, die etwa spontane Furchtreaktionen als allgemeines Modell für Emotionen nehmen (und dies ggf. nutzen, um den Sinn einer „verstehenden“ Emotionssoziologie in Frage zu stellen), verallgemeinern voreilig von einem bestimmten Modus der Emotionsentstehung. Der für das Argument des Buchs entscheidende Punkt ist hier aber, daß selbst bei der subkortikalen Entstehung von Emotionen „kognitive“ Elemente eine Rolle spielen, und darunter auch solche, die durch Lernen erworben werden und sozial variieren. Scheves Buch kehrt damit zu einem Gedanken zurück, der bereits für die philosophische Anthropologie wesentlich war: Je weiter man sich in die biologischen Details vertieft, desto deutlicher zeigt sich eine basale Umweltoffenheit menschlicher Akteure, und desto stärker erscheint die strukturierende Wirkung sozialer Muster. – Dabei läuft die Argumentation des Buchs nicht auf den Versuch hinaus, Emotionen „kognitivistisch“ zu reduzieren: In einem dritten Schritt diskutiert Scheve, wenn auch deutlich knapper, die soziologische Relevanz derjenigen Forschungen, die zeigen, wie Emotionen jeweils die weitere „kognitive“ Informationsverarbeitung anleiten.
Das Bild, das sich hier abzeichnet, ist also das eines engen Ineinanders kognitiver und emotionaler Elemente, die sich in einem immer wieder von neuem beginnenden Prozeß wechselseitig von Grund auf verändern. (Tatsächlich erscheint die Abgrenzung von „Kognitionen“ und „Emotionen“ im Fortgang des Textes beinahe prekär. Während das Buch deren Verhältnis teilweise mit Metaphern eines räumlichen Nebeneinanders beschreibt, liest sich sein Argument insgesamt, als könnte man bestenfalls noch emotionale und kognitive Elemente innerhalb des jeweiligen Informationsverarbeitungsprozesses unterscheiden. Hier sind möglicherweise auch begriffliche Fragen offen.) Der entscheidende Gedanke des Buchs lautet nun: Weil diese kognitiven Elemente zu einem erheblichen Teil sozialen Ursprungs sind, ermöglicht ihre Betrachtung, an die Stelle eines unvermittelten Nebeneinanders von Aussagen über emotionale Effekte und Aussagen über soziale Effekte übergreifende Erklärungen zu setzen: Sie kann die Suche nach rekursiven Prozessen anleiten, in denen Makro- und Mesophänomene das Handeln der Beteiligten in einer Weise prägen, die auf die Beschaffenheit dieser Phänomene zurückwirkt. Dabei ist die Idee, daß soziologische Erklärungen gerade nach solchen Prozessen suchen sollten, bekanntlich nicht neu. Wie Scheve betont, ermöglicht die Berücksichtigung von Emotionsphänomenen aber solche Erklärungen tragfähiger zu formulieren; sie erleichtert es zu untersuchen, inwiefern soziale Prozesse den Beteiligten nicht äußerlich bleiben (wie es das gängige Verständnis von „choice within constraints“ suggeriert), sondern sie bis in ihre basalen Entscheidungsdispositionen hinein beeinflussen – und jeweils auch dadurch ihre spezifische Gestalt erhalten. (Da solche sozialen Effekte, wenn man der „Einschätzungstheorie“ folgt, wesentlich durch unthematische Vorverständnisse vermittelt sind, lassen sie sich nur durch ein hermeneutisches Vorgehen genauer erklären; so daß damit die Auffassung, eine verstehende Soziologie sei mit einem Ernstnehmen des biopsychologischen Wissens über Emotionen unvereinbar – „bloß geisteswissenschaftlich“, etc. –, hinfällig ist.) Besonders lesenswert ist Scheves Buch auch, weil es hier bereits die substantiellen Erklärungsangebote vorstellt, die sich dazu in der emotionspsychologischen Forschungsliteratur finden (etwa über kognitive Schemata und „soziale Repräsentationen“, über „mood as information“ etc.).
Allerdings wird der Bereich der hier möglichen Erklärungen – das ist die eine systematisch wichtige Schwäche des Buchs – nur aus einem spezifisch verengten Blickwinkel beschrieben. Das Buch setzt voraus, daß die sozialen Prozesse, die sich nach Berücksichtigung der emotionalen Dimension besser erklären lassen, immer solche sind, in denen sich die jeweils bestehende Sozialordnung stabilisiert. Als Bezugspunkt aller zu entwickelnden Erklärungen benennt es schon am Anfang ein „Alltagshandeln, das [...] von sozial strukturierten Emotionen deutlich geprägt ist und das aus diesem Grund maßgeblich zur Reproduktion derjenigen sozialen Strukturen beiträgt, die sich in der Emotionsentstehung wiederfinden“ (S. 18); damit legt es sich doch auf eine Erklärungsstrategie fest, wie sie Bourdieu vertritt. Das ist empirisch erkennbar einseitig; gut beobachten läßt sich das an radikalen Protestbewegungen, die meist von starken Emotionen getragen werden. Es folgt auch nicht aus den berichteten Ergebnissen der Emotionsforschung. Sie helfen zwar zu erklären, wie ein kognitives Muster handlungsleitend wirken kann, ohne für das handelnde Individuum thematisch und damit hinterfragbar zu werden; damit tragen sie auch dazu bei, die Stabilität sozialer Arrangements zu erklären. Sie liefern aber kein Argument dafür, dies als umfassend gültige Erklärungsstrategie zu begreifen, zumal sie ja durchaus nicht die Auffassung bestätigen, alle Informationsverarbeitung geschehe rein „schematisch“. Entsprechend hat Pierre Livet die neurophysiologische Beobachtung, daß Emotionen auf zwei separaten Pfaden entstehen, gerade für ein Konzept emotionsgeleiteten Handelns genutzt, das über die Beschränkungen von Bourdieus Ansatz hinausweist, indem es zeigt, unter welchen Bedingungen auch diejenigen handlungsleitenden Überzeugungen revidiert werden, die zunächst nur präreflexiv wirksam sind. Auch die „Einschätzungstheorie“, auf die Scheve sein Argument großteils stützt, legt nicht nahe, daß Emotionen allein konservativ wirken: Klaus Scherer – einer der Hauptvertreter dieses Ansatzes – sieht, wie es Scheve auch erwähnt, eine der wesentlichen Wirkungen von Emotionen auf Handlungsprozesse gerade darin, daß sie die Verbindung zwischen „Reiz“ und „Reaktion“ unterbrechen – und eben nicht nur die jeweiligen Routinen stabilisieren. Ganz ähnlich argumentiert schon Dewey (auf dessen Emotionstheorie auch Axel Honneth zurückgreift, um zu erklären, warum Demütigungen nicht nur eine Selbsteinpassung in die bestehende Ordnung, sondern auch einen „Kampf um Anerkennung“ nach sich ziehen können). Und auf eine ganz andere Weise bietet bekanntlich schon Durkheims Religionssoziologie eine Erklärung dafür an, wie kollektive emotionale Erfahrungen einen Wandel von Ordnungsformen herbeiführen können. (Hier zeigt sich überhaupt eine unnötige Selbstbeschränkung des vorliegenden Buchs: Der Verfasser schreibt mit mildem Spott, Leser könnten möglicherweise „die Berücksichtigung einiger obligatorischer Klassiker“ vermissen (S. 344). Allerdings spräche für eine Auseinandersetzung mit diesen Konzepten nicht bloß der deplazierte Wunsch nach philologischer Vollständigkeit. Die sozialtheoretische Ausblendung der Emotionen ist ein neues Phänomen. Durchgesetzt hat sie sich erst in der Nachkriegszeit; zuvor – mindestens seit Hobbes – bildeten Emotionen innerhalb des Nachdenkens über Gesellschaft fast durchgängig ein zentrales Thema. Deshalb läge es eigentlich nahe, die Rezeption der neueren psychologischen Emotionsforschung gerade zu nutzen, um diese Konzepte – dort, wo sie sich als haltbar erweisen – präziser zu formulieren.) – Tatsächlich folgt das Buch dort, wo es diese These einer ausschließlichen Stabilisierungswirkung verteidigt, eher einem soziologischen Vorverständnis, das von der diskutierten Emotionsforschung ganz unabhängig ist. Eine seiner Grundannahmen scheint zu lauten, daß das Verhältnis, in dem soziale Strukturen zu kognitiven Mustern stehen, sich mit einem Basis/Überbau-Modell begreifen läßt: Soziale Normen seien „Spiegelbild und Resultat aktueller sozialstruktureller Konfigurationen“ (S. 294); das Verhältnis der beobachtbaren Emotionen zur jeweiligen Ordnung erkläre sich dadurch, daß die „kognitiven Strukturen und Prozesse [...] die soziale Situiertheit des Akteurs widerspiegeln“ (S. 162). Zunächst würde die Annahme, daß der soziale Normalfall in der permanenten Selbststabilisierung der jeweiligen Ordnung besteht, durch ein solches Widerspiegelungsmodell allerdings nur dann gestützt, wenn soziale Strukturen typischerweise so frei von Spannungen wären, daß sie kaum Normen hervorbringen, die miteinander in Konflikt treten können. Diese Prämisse ist bereits mit der These kaum vereinbar, daß die emotionalen Reaktionen, die durch „Emotionsarbeit“ diszipliniert werden, ihrerseits sozialen Ursprungs sind. Vor allem aber ist ein solches Widerspiegelungsmodell als allgemeine kultursoziologische These kaum zu verteidigen: Es schließt von vornherein aus, daß Eigenlogiken kultureller Muster eigenständige soziale Wirkungen haben können. Dagegen scheint aus der Aufwertung kognitiver Muster doch zu folgen, daß eine Soziologie, die Emotionsphänomene in ihren Erklärungen tatsächlich berücksichtigen kann, zuallererst eine Kultursoziologie sein müßte. – Das sind aber keine fundamentalen Einwände; sie laufen alle nur darauf hinaus, daß es für das von Scheve skizzierte Erklärungsprogramm nützlich wäre, die Konsequenzen aus der in seinem Buch vorgelegten Rekonstruktion der neueren Emotionsforschung noch stärker zu ziehen, als das innerhalb des Buchs selbst geschieht.