1. Zur exegetisch-theologischen Stellung des 2 Thess
Die Auslegung des 2 Thess ist in besonderer Weise mit der literarischen Authentizität oder der pseudepigraphen Abfassung des Briefes beschäftigt. In der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft gilt J. E. Christian Schmidt (1798/1801) gemeinhin als erster Exeget, der die Echtheit des 2 Thess in Frage gestellt hat.Footnote 1 Schmidt befindet sich mit dieser Einschätzung in einem theologiegeschichtlichen Diskurs, der in erheblichem Maße kanonkritisch orientiert war: Die Kanonkritik Johann Salomo Semlers (1771–1775)Footnote 2 hatte zur kritischen Auseinandersetzung mit der sog. Inspirationslehre geführt und die Authentizität von Verfasser und Verfasserangaben zur Diskussion gestellt.Footnote 3 Ferdinand Christian Baur trieb die historisch-kritische ExegeseFootnote 4 im Blick auf die Pseudepigraphie-Forschung besonders in seinen Studien zu den Pastoralbriefen (1835)Footnote 5 so voran, dass deren paulinische VerfasserschaftFootnote 6 bleibend infragestellt war. Ähnliche Überlegungen finden sich bereits bei Friedrich D. E. Schleiermacher im Blick auf den 1. Timotheus-Brief (1807).Footnote 7
Doch entwickelt die Pseudepigraphie-Forschung schon im 19. Jh. eine solche Eigendynamik, dass sie zu einem theologischen Problemfall wird: So wird besonders in der Theologie die Frage nach der Vereinbarkeit von ‘literarischer Fälschung’ mit dem ‘Wahrheitsgehalt’ der (neutestamentlichen) Texte (pia fraus) als eine ‘ethisch-moralische’ FragestellungFootnote 8 debattiert. Und umgekehrt wird nicht selten hinter Pseudepigraphie- oder Authentizitäts-Urteilen eine bestimmte theologische Tendenz oder Programmatik vermutet. Daher plädierten bedeutende Exegeten und Klassische Philologen wie etwa Adolf Deissmann (1911)Footnote 9 oder Franz Dornseiff (1939)Footnote 10 für eine kritische Infragestellung von oder zumindest für einen vorsichtigen Umgang mit Pseudepigraphie-Urteilen bei der Auslegung neutestamentlicher, aber auch sog. paganer oder frühjüdischer Literatur. In der Folgezeit haben sich Forscher wie Josef A. Sint (1960),Footnote 11 Wolfgang Speyer (1971)Footnote 12 oder Norbert Brox (1975)Footnote 13 der antiken Pseudepigraphie maßgeblich als einem literarischen oder theologischen Phänomen gewidmet.Footnote 14 Auch wenn gerade Speyer mit seiner Klärung des Begriffs der ‘literarischen Fälschung’Footnote 15 zu einer Entschärfung der pia-fraus-Diskussion beigetragen hat, hält die ethisch-moralische Diskussion über die paulinische Pseudepigraphie bis in unsere Gegenwart an.Footnote 16 Sie macht eine noch stärkere terminologische und literaturgeschichtliche Differenzierung des gemein-antiken Phänomens der literarischen Pseudepigraphie notwendig.Footnote 17
Die Auslegung des 2 Thess ist mit dem in den Klassischen Altertumswissenschaften und in der Theologie geführten Diskurs über paulinische Pseudepigraphie untrennbar verknüpft. Vice versa aber können Einsichten in die Entstehungsverhältnisse des 2 Thess auch zu einer differenzierten Betrachtung von frühchristlicher Pseudonymität bzw. PseudepigraphieFootnote 18 oder Orthonymität führen. Diesem Anliegen ist der vorliegende Beitrag verpflichtet. Der 2 Thess erweist sich für diese Fragestellungen als geradezu paradigmatisch: Während andere sog. deutero- oder tritopaulinische Schreiben wie der Kol und Eph sowie die Pastoralbriefe bei der Mehrheit der Exegeten inzwischen als pseudepigraph gelten,Footnote 19 wird die Frage nach der Authentizität des 2 Thess in der jüngeren und jüngsten Forschung durchaus kontrovers diskutiert.Footnote 20 Hier stehen Exegeten wie Werner Georg KümmelFootnote 21 und Abraham J. Malherbe,Footnote 22 die die Authentizität des 2 Thess voraussetzen, Exegeten wie Willi MarxsenFootnote 23 oder Margaret M. MitchellFootnote 24 gegenüber, die von einer pseudepigraphen Abfassung des 2 Thess ausgehen.Footnote 25 Wie ist diese Divergenz hinsichtlich der Beurteilung der Authentizität, d.h. der literarischen ‘Echtheit’ des 2 Thess zu erklären? Die Divergenz basiert vor allem auf der unterschiedlichen Einschätzung des literarischen Verhältnisses von 1 Thess und 2 Thess, die die Forschung seit William Wredes Untersuchung von 1903 bestimmt.Footnote 26 Der Dissens, der bei der Verhältnisbestimmung von 1 Thess und 2 Thess entsteht, schlägt sich besonders in Datierungsfragen nieder: Die Befürworter der Authentizität rechnen mit einer Abfassungszeit des 2 Thess in zeitlicher Nähe zum 1 Thess (z.B. Kümmel; Robert Jewett).Footnote 27 Die Befürworter der pseudepigraphen Abfassung des 2 Thess hingegen rechnen überwiegend mit einer zeitlich späten Abfassung des Briefes (Ende des 1. Jhs.: z.B. Udo Schnelle; G. S. Holland).Footnote 28 Daneben findet sich—gleichsam als tertium—auch die Annahme, der 2 Thess sei als ältester erhaltener deuteropaulinischer Brief (Philipp Vielhauer),Footnote 29 vielleicht noch zu Lebzeiten des Paulus (Otto Merk),Footnote 30 geschrieben worden.Footnote 31
Nun hat Martin Dibelius im Blick auf die Frage der Authentizität des 2 Thess zu Bedenken gegeben: Wir haben kein ‘Recht, einen Brief nur deshalb dem Apostel abzusprechen, weil uns die besonderen Umstände seiner Entstehung nicht völlig durchschaubar sind’.Footnote 32 Diese Einschätzung ist methodisch bedeutsam, zeigt sie doch, dass Echtheitskritik und Pseudepigraphie-Forschung nicht von Fragen historischer Rekonstruktion zu trennen sind. So muß die Exegese des 2 Thess besonders darauf konzentriert sein, die Entstehungsverhältnisse dieses Briefes nicht nur im Verhältnis zum 1 Thess, sondern auch unabhängig davon zu erhellen. In diesem Zusammenhang scheint in 2 Thess 2.2 der SchlüsselFootnote 33 zum Verstehen des Briefes zu liegen.Footnote 34 Diese Vermutung läßt sich—wie Robert Jewett gezeigt hat—besonders durch eine rhetorische Briefanalyse stützen:Footnote 35 Denn wenn man in 2.1-2 die partitio des Briefes erkennt, so dient dieser Briefabschnitt der Einleitung in die im Folgenden zu diskutierenden Fragstellungen oder Probleme,Footnote 36 nimmt also gleichsam die Vor- und Entstehungsgeschichte des Briefes in den Blick. Die nun folgenden exegetischen Beobachtungen sind daher in besonderem Maße auf die Analyse von 2 Thess 2.2 konzentriert.
2. Exegetische Beobachtungen zu 2 Thess 2.2
2 Thess 2.2 zeigt zunächst unabhängig von der Frage, ob der 2 Thess authentisch ist oder nicht, d.h. orthonym oder pseudonym verfaßt wurde, dass das Phänomen frühchristlicher Pseudepigraphie existierte und bekannt war. Denn 2 Thess setzt sich in 2.2 unter anderem mit dem Phänomen literarischer ‘Fälschung’ auseinander: Hier begegnet im Zusammenhang der Diskussion um ‘rechte’ und ‘falsche’ Lehre über die Parousie des Kyrios (2 Thess 2.1) explizit der Gedanke, es könnte zu einer ‘fälschlichen’ Inanspruchnahme des paulinischen Wirkens und Briefeschreibens (ὡς δι᾽ ἡμῶν) gekommen sein:Footnote 37
1 Wir bitten euch aber, Brüder, was die Parousie unseres Herrn Jesus Christus und unsere Zusammenführung mit ihm betrifft, 2 dass ihr euch nicht schnell in {eurem} Sinn ins Wanken bringen noch erschrecken laßt—weder durch Geist, noch durch Wort, noch durch einen Brief, scheinbar (ὡς δι᾽ ἡμῶν) durch uns {gewirkt} –, wie (ὡς) (ὅτι): ‘Der Tag des Herrn ist schon gegenwärtig.’
‘Fälschung’ bedeutet hier eine aus der Sicht des Autors bestehende sachlich-verfälschende Inanspruchnahme paulinischer Autorität und apostolischer Lehre. Nun ist die Deutung von 2 Thess 2.2 in der Forschung vor allem dadurch bestimmt, dass dieser Vers gemeinhin in einen unmittelbaren Zusammenhang zum 1 Thess gestellt wird. Wie ist das zu erklären, und was folgt aus dieser Deutung?
2.1. Jüngere und jüngste Deutungsvorschläge: 2 Thess 2.2 als Verweis auf den 1 Thess
Die Mehrzahl der Exegeten versucht, den in 2 Thess 2.2 durch ὡς δι᾽ ἡμῶν benannten Brief konkret auf der Basis der uns erhaltenen Paulus-Briefe zu identifizieren. Ihrer Meinung nach ist 2 Thess 2.2 als Verweis auf den 1 Thess zu verstehen.Footnote 38 Doch wie wäre dieser Sachverhalt zu deuten, und in welcher Weise könnte sich 2 Thess 2.2 auf den 1 Thess beziehen? In der jüngeren Forschung werden vor allem drei Interpretationen vorgeschlagen:
(1.) Die Vertreter der Authentizitäts-Annahme für den 2 Thess—wie Kümmel—verstehen 2 Thess 2.2 zusammen mit 2.15 als einen direkten, d.h. expliziten Verweis auf den 1 Thess. Demnach wollte Paulus seine in 1 Thess 4-5 vorgetragenen Überlegungen zur Parousie des Kyrios explizieren.Footnote 39 Die Partikel ὡς wäre also als eine komparativ-demonstrative Konjunktion (‘so wie’),Footnote 40 nicht aber modal (‘als ob’)Footnote 41 aufzufassen. Diese Deutung dient der Vermeidung der Pseudepigraphie-Annahme für den 2 Thess. Unklar bleibt, warum Paulus im 2 Thess dem literarischen Schema des 1 Thess weitgehend folgt und nicht—wie etwa in der korinthischen Korrespondenz (z.B. 2 Kor 1.12-14)—auf einen früheren Brief im Zuge einer neuen und eigenständigen Argumentation meta-textuell hinweist.
(2.) Andreas Lindemann und Willi Marxsen werten den 2 Thess als pseudepigraphen Paulus-Brief. Ihrer Meinung nach versucht der pseudo-paulinische Schreiber mit dem Anspruch auf Orthonymität den 1 Thess als eine ‘Fälschung’ zu deklarieren und theologisch zu ersetzen,Footnote 42 d.h. selbst an seine Stelle zu treten. Auch dieser Deutung zufolge bezieht sich 2 Thess 2.2 explizit auf den 1 Thess. So würde also der 2 Thess—selbst pseudepigraph—den 1 Thess zu einem Pseudepigraphon stilisieren. Diesem Deutungsvorschlag liegt ein Konfliktmodell zugrunde: Der deuteropaulinische 2 Thess sieht sich im theologischen Streit mit dem 1 Thess, d.h. mit Paulus. Unklar bleibt hier, warum und wie der Autor des 2 Thess gleichzeitig zwar im Namen des Paulus, sachlich aber gegen Paulus gerichtet agieren kann.
(3.) Auch Eckart Reinmuth, Jürgen Roloff und Hanna Roose halten den 2 Thess für pseudepigraph. Sie schlagen—in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung im Unterschied zu Lindemann (s.o.) aber vor –, den 2 Thess als eine theologische Aktualisierung des 1 Thess zu verstehen: Reinmuth meint, ὡς δι᾽ ἡμῶν sei mit ‘wie er von uns geschrieben wurde’ zu übersetzen: ‘Der Vers bringt zum Ausdruck, daß die eschatologisch irrige Haltung, die anschließend korrigiert wird, sich zu Unrecht auf einen Brief des Paulus berufen würde’.Footnote 43 Der 2 Thess fungiert hier also—wie Jürgen Roloff formuliert—als ‘Leseanweisung’ für den 1 Thess.Footnote 44 Hanna Roose vermutet ähnlich hinter 2 Thess 2.2 eine bewußte, intertextuell zu erschließende Ambivalenz: Zwar weise der 2 Thess auf den 1 Thess hin, verstehe sich selbst aber als eine authentische Darstellung paulinischer Lehre und fungiere somit als ‘reading instruction’ für den 1 Thess.Footnote 45 Auch dieser Deutung zufolge nimmt 2 Thess 2.2 explizit auf den 1 Thess Bezug. Ähnlich spricht Gerd Theißen zuletzt und in Anlehnung an die Untersuchung von Annette Merz zu den PastoralbriefenFootnote 46 von einer ‘fiktiven Selbstauslegung des Paulus’ in den deuteropaulinischen Schriften.Footnote 47 Dieser Deutungsvorschlag verfolgt ein harmonisierendes Interesse, insofern er der paulinischen Pseudepigraphie im 2 Thess die Funktion einer fortschreibenden Aktualisierung und Deutung paulinischer Theologie beimißt. Unklar bleibt jedoch, warum sich der Autor des 2 Thess zur Abfassung einer solchen ‘reading instruction’ genötigt sieht bzw. an oder gegen welche Adressaten-Gruppe der 2 Thess gerichtet ist.
2.2. Vorschlag zur Modifikation: Thess 2.2 als Verweis auf einen verlorenen Brief
Aus meiner Sicht ist eine andere, so bisher noch nichtFootnote 48 diskutierte Interpretation von 2 Thess 2.2 weiterführend, die ich zunächst thetisch formuliere: 2 Thess 2.2 ist nicht auf den 1 Thess, sondern auf einen uns nicht bekannten, d.h. verloren gegangenen paulinischen oder pseudo-paulinischen Brief zu beziehen. Diese Einsicht resultiert zunächst aus exegetischen Beobachtungen zu 2.2, die besonders auf der philologischen Analyse der Satzstruktur beruhen, und bezieht später 2 Thess 3.17 sowie 2.15 sowie Überlegungen zum Inhalt dieses verlorenen Briefes (unter 3.) mit ein. Im Einzelnen:
(a.) Die Wendung ὡς δι᾽ ἡμῶν in 2 Thess 2.2 ist—wie mit Berufung auf Erasmus schon Ernst von Dobschütz betont hatFootnote 49—auf den gesamten μήτε-Satz zu beziehen.Footnote 50 So ist ‘Fälschung’ nicht allein als ein briefliches Phänomen, d.h. als literarische Fälschung zu verstehen, sondern bezieht zugleich pneumatische und kerygmatische sowie schriftliche Aspekte (μήτε διὰ πνεύματος μήτε διὰ λόγον μήτε δἰ ἐπιστολῆς) des apostolischen Wirkens mit ein.Footnote 51 Der Brief begegnet also nur als eine mögliche Form apostolischer Lehre und apostolischen Wirkens. Es geht in 2 Thess 2.2 also insgesamt um ‘richtiges’ (διά, vgl. 2.15) und ‘falsches’ (ὡς διά, 2.2) apostolisches Wirken, nicht allein um die Frage einer verfälschenden Lehre in brieflich-literarischer Form. Für den Verfasser des 2 Thess existiert eine ‘richtige’, d.h. sachgemäß an Paulus anknüpfende, und eine ‘falsche’, d.h. sachlich gegen Paulus gerichtete Fortführung des paulinischen Erbes.
Wichtig für die Deutung von 2.2 schließlich ist die Bestimmung der Konjunktion ὡς innerhalb der Konstruktion ὡς δι᾽ ἡμῶν: Wie oben gesehen, deuten Kümmel, aber auch z.B. Reinmuth ὡς komparativ-demonstrativ (‘so wie’), d.h. sie verstehen die ὡς-Konstruktion als einen direkten Verweis auf 1 Thess. Auch Lindemann mißt der Konjunktion zuerst eine komparativ-demonstrative Funktion bei, die den Bezug zu 1 Thess herstellt, sieht dann aber auch eine modale Funktion vorliegen: Demnach enttarnt ὡς den 1 Thess als einen nur ‘scheinbar von uns geschriebenen’, d.h. letztlich ‘gefälschten’ Brief. Ich dagegen meine, dass ὡς in erster Linie modal zu verstehen ist und dem Leser einen ‘scheinbar von uns’ geschriebenen Brief als Fälschung vor Augen führen will. Höchstens in zweiter Linie ist ὡς komparativ-demonstrativ zu deuten, sofern es auch einen konkreten Hinweis auf diesen Brief gibt (s.u.).
(b.) Des weiteren ist zum Verständnis von 2 Thess 2.2, auch 3.17 heranzuziehen: Hier insistiert der Autor des 2 Thess auf den apostolischen Autograph (ὁ ἀσπασμὸς τῇ ἐμῇ χειρσὶ Παύλου, ὅ ἐστιν σημεῖον ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ οὕτως γράφω). Gerade mit diesem Topos, nämlich dem vehementen Anspruch auf Autographie, scheint der Autor einerseits zwar als pseudonymer Verfasser durch,Footnote 52 beansprucht aber andererseits, ein ‘authentisches’ Schreibinteresse zu verfolgen. Wie ist diese Ambivalenz aufzulösen und zu erklären? Offenbar kämpft der Verfasser gegen die seiner Meinung nach ‘falsche’ apostolische, d.h. ‘falsche’ paulinische Lehre über die Parousie und bedient sich dabei—seines Erachtens zu Recht—der Form des paulinischen Briefes.
Diese Funktionsbestimmung des autographischen Topos in 3.17 wird im Folgenden für die Deutung von 2.2 relevant werden: So setzt sich der Verfasser des 2 Thess in 2.2 nicht mit dem 1 Thess, sondern mit einer—seiner Meinung nach—‘falschen’ in Umlauf geratenen schriftlichen Interpretation dieses früheren paulinischen Briefes an die Gemeinde in Thessaloniki explizit kritisch auseinander. Diese fälschliche Interpretation von 1 Thess könnte unter anderem in einem literarisch gefälschten Brief ihren Niederschlag gefunden haben.Footnote 53 Denkbar wäre freilich auch, dass jener Verweis auf einen gefälschten Brief (…μήτε δι᾽ ἐπιστολῆς) seinerseits auf reiner literarischer Fiktion basiert und apologetischen Interessen dient, insofern er die Legitimationsbasis für die Abfassung des 2 Thess darstellen soll.Footnote 54
Die Abfassung des 2 Thess hat also eine doppelte Stoßrichtung: Der Brief tritt einem eventuellen früheren, verfälschenden Schreiben, in jedem Fall aber einer—nach Meinung des Verfassers—vielfältigen (pneumatisch, kerygmatisch, epistolographisch) Fehlinterpretation paulinischer Lehre, explizit entgegen (2 Thess 2.2) und gibt zugleich eine ‘Leseanweisung’ für das ‘rechte’ Verstehen des 1 Thess (2 Thess 2.15). Der Bezug des 2 Thess auf 1 Thess stellt sich dabei nicht unmittelbar von 2.2, sondern höchstens von 2.15 (s.u.) her. Diese Überlegungen setzen meines Erachtens nicht zwingend voraus, dass der 2 Thess konkret und ausschließlich an die Gemeinde in Thessaloniki gerichtet war. Sollten bereits der 1 Thess und die darauf folgende, nicht mehr erhaltene literarische Fehldeutung dieses Briefes über Thessaloniki hinaus bekannt geworden sein (vgl. ähnlich Kol 4.16), so würde der 2 Thess in diesen Diskurs mit überregionaler Bedeutung eingreifen.Footnote 55
(c.) Die bisherige Analyse [besonders (a.)] hat gezeigt, dass ὡς δι᾽ ἡμῶν zuerst modal und erst dann komparativ-demonstrativ zu verstehen ist, d.h. in erster Linie eine Fehldeutung paulinischer Lehre enttarnt (modales ὡς). Entgegen der vorherrschenden Deutung meine ich nun aber nicht, dass 2 Thess 2.2 auf den 1 Thess hinweist und—wie Lindemann vorschlägt—diesen Brief als Fehldeutung paulinischer Lehre zu enttarnen sucht: Dass sich 2.2 nicht auf den 1 Thess beziehen kann, wird gerade von 2.15 her deutlich. Oder anders formuliert: Die von mir vorgeschlagene Deutung von 2 Thess 2.2 läßt sich sinnvoll mit der Deutung von 2 Thess 2.15 vereinbaren. Dieser Umstand ist wichtig, weil die verschiedenen oben genannten Deutungsvorschläge (s. 2.1.) zu keiner homogenen Interpretation von 2 Thess 2.15 im Verhältnis zu 2.2 einerseits und zum 1 Thess andererseits geführt haben.Footnote 56
Wie also verhalten sich 2 Thess 2.2 und 2.15 sowie 1 Thess zu einander? Zunächst ist 2 Thess 2.15 meines Erachtens sachlich und im Blick auf den implizierten Referenzrahmen von 2.2 zu unterscheidenFootnote 57—soweit ist z.B. Lindemann tendenziell zuzustimmen.Footnote 58 Allerdings bezieht sich 2.15 nicht auf den 2 Thess (gegen Lindemann). Vielmehr erfolgt in 2.15 die Aufforderung an die Adressaten, an der bereits vermittelten Lehre festzuhalten (στήκετε καὶ κρατεῖτε τὰς παραδόσεις): Hier aber wird an die bereits ergangene ‘rechte’ paulinische Lehre positiv angeknüpft. In 2.15 ist damit der 1 Thess gemeint—soweit ist z.B. Reinmuth zuzustimmen.Footnote 59 Die ‘rechte’ paulinische Lehre ist nach Meinung der pluralen Verfassergruppe den Adressaten wörtlich und schriftlich, genauer: durch einen zeitlich früheren Brief mitgeteilt worden (… ἃς ἐδιδάχϑητε εἴτε διὰ λόγου εἴτε δι᾽ ἐπιστολῆς ἡμῶν).
So ergibt sich als Fazit: Der Verfasser des 2 Thess nimmt erst in 2.15, nicht aber in 2.2 auf den 1 Thess und die darin formulierte paulinische Unterweisung explizit Bezug.Footnote 60 Daher sind die Prä-Texte, auf die 2 Thess 2.2 einerseits und 2 Thess 2.15 andererseits Bezug nehmen, zu unterscheiden: 2 Thess 2.2 setzt sich kritisch mit einer Fehlinterpretation paulinischer Lehre auseinander, die unter Umständen auch in einem (uns nicht mehr erhaltenen) Brief erfolgte, der realiter vielleicht paulinischen, wohl eher aber pseudo-paulinischen Ursprungs war. 2 Thess 2.15 hingegen knüpft positiv an die Inhalte des zeitlich deutlich früher geschriebenen 1 Thess an.
2.3. Ergebnis des Vorschlags und weitere Perspektiven
Fassen wir diese Überlegungen zusammen: Der Verfasser des 2 Thess wählt eine mit 1 Thess 1.1 identische superscriptio (2 Thess 1.1), in der Παῦλος als erstgenannter Co-Sender erscheint.Footnote 61 In 3.17 verstärkt er den Eindruck, orthonym und autographisch zu schreiben. Aus der Sicht des Verfassers des 2 Thess ist der in 2.2 genannte Brief Gegenstand der Auseinandersetzung mit ‘falscher’ Lehre. Der Verfasser bewertet diesen Brief als pseudepigraph. Für uns hingegen ist die Beurteilung der literarischen Authentizität des verlorenen Briefes, auf den 2 Thess 2.2 anspielt, kaum zu leisten—der Brief könnte paulinischen oder pseudo-paulinischen Ursprungs sein. Die Beurteilung von dessen Authentizität oder Pseudepigraphie kann daher nicht auf der Basis von 2.2 erfolgen.Footnote 62 Daneben können sich ‘rechte’ oder ‘falsche’ paulinische Lehre auch in pneumatischen Zeichen oder kerygmatisch artikulieren. Wenn sich der Verfasser des 2 Thess des paulinischen Briefformulars bedient, nutzt er dieses legitim zur Durchsetzung der in seinen Augen ‘richtigen’ paulinischen Lehre. Das Phänomen der Pseudepigraphie ist für den Verfasser des 2 Thess also nicht von der Person des Autors her, sondern von der sachlichen ‘Richtigkeit’ her zu verstehen. Es findet vor dem Hintergrund des Streits um ‘rechte’ Lehre und ‘Irrlehre’ statt. Die Berufung auf Παῦλος dient der Erinnerung der ‘rechten’ apostolischen Lehre. So gibt es für den Verfasser des 2 Thess insgesamt drei Typen von Paulus-Lehre und -Briefen, nämlich:
• ‘rechte’ Paulus-Lehre und authentische Briefe (= 1 Thess; s. 2 Thess 2.15);
• ‘rechte’ und authentisch fortgeführte Paulus-Lehre und-Briefe (wie sein eigenes Schreiben; s. 2 Thess 3.14, 17)Footnote 63 sowie;
• verfälschte und verfälschende Paulus-Lehre und -Briefe (nicht mehr erhalten; s. 2 Thess 2.2).
Der 2 Thess dient—so meine ich—der Zurückweisung einer als verfälschend geltenden literarischen und mündlichen Deutung des 1 Thess, die nicht (mehr) erhalten ist.Footnote 64 Diese Differenzierungen machen deutlich, dass sich das Verhältnis von theologischer ‘Richtigkeit’ und literarischer Authentizität bzw. Pseudepigraphie auf der Basis der Auslegung des 2 Thess komplex darstellt. Dieses Verhältnis kann wie folgt bestimmt werden:
• ‘richtige’ Paulus-Lehre (1 Thess) kann in literarisch authentischer, d.h. orthonymer Form vorliegen (vgl. 2 Thess 2.15);
• ‘richtige’ Paulus-Lehre (2 Thess) kann in literarisch nicht-authentischer, d.h. pseudepigrapher Form vorliegen (vgl. 2 Thess 3.17);
• ‘falsche’ Paulus-Lehre (verlorener Brief) könnte in literarisch authentischer oder nicht-authentischer, d.h. orthonymerFootnote 65 oder pseudepigrapher Form vorliegen (vgl. 2 Thess 2.2).
So fallen die Beurteilung literarischer Authentizität und theologischer ‘Richtigkeit’ eines Briefes nicht zusammen, sondern sind phänomenologisch und sachlich zu unterscheiden.
3. Ausblick: Der 2 Thess als Beitrag zu einem ‘Paulus-Diskurs’
Norbert Brox hat in der Diskussion über die theologiegeschichtliche Stellung der paulinischen Pseudepigraphen den 2 Thess als eine ‘Gegenfälschung, die vorhandene Fälschungen unschädlich machen will, indem sie vor ihnen als Fälschungen warnt und dazu selbst das Mittel der Täuschung einsetzt’,Footnote 66 charakterisiert. Brox führt hier im Sinne der pia-fraus-Debatte das ethische Moment in die Beurteilung literarischer Authentizität oder Pseudepigraphie wieder ein. Damit werden letztlich auch die wenig sachgemäßen Kategorien ‘orthodoxer’ oder ‘heterodoxer’ Lehrbildung vorbereitet.Footnote 67 Zugleich bleibt die neutestamentliche Pseudepigraphie-Forschung damit auf die eingangs erwähnte kanonkritische Funktion beschränkt (s.o. 1.).
Aus meiner Sicht jedoch gibt der 2 Thess im Sinne einer literarischen und geschichtlichen Quelle Einblick in die theologischen und theologiegeschichtlichen Konflikte um die Sicherung, Fortschreibung und Diskussion der paulinischen Lehre.Footnote 68 Dabei ist der 2 Thess selbst auch ein theologiegeschichtlicher Beitrag zu einem ‘Paulus-Diskurs’, der freilich innerhalb dieses Diskurses beansprucht, zur ‘richtigen’ Paulus-Deutung beizutragen. Diskurstheoretisch betrachtet und aktualisiert, müßten Walter Bauers Überlegungen zur Ketzerbekämpfung im 2. Jh.,Footnote 69 d.h. zur diffizilen Unterscheidung von ‘Kirchenlehre’ und ‘Häresie’,Footnote 70 also bereits in die Zeit des 2 Thess vordatiert werden. Das aber bedeutet: Der Kampf um die Durchsetzung und Fortschreibung der ‘richtigen’ paulinischen Lehre kann kaum ethisch-moralisch beurteilt werden, sondern stellt sich vielmehr als ein religiöser Diskurs in der Geschichte der frühen Paulus-Rezeption dar,Footnote 71 der für uns kaum allein durch die Beurteilung von literarischer Authentizität oder Pseudepigraphie durchsichtig gemacht wird. Die Fragen, wo genau dieser Diskurs angesiedelt ist und gegen wen bzw. gegen welche Form der Paulus-Rezeption sich der 2 Thess konkret richtet, könnten als weitere Überlegungen hier angeschlossen werden.Footnote 72 Plausibel wäre, die Wendung ὡς ὅτι ἐνέστηκεν ἡ ἡμέρα τοῦ κυρίου in 2 Thess 2.2b als einen palintextuellen Footnote 73 Hinweis auf den Inhalt und die These des zuvor erwähnten pseudo-paulinischen Briefes zu verstehen: Es könnte sich daher hier durchaus um eine Allusion oder gar ein Zitat aus diesem Brief handeln. Demnach greift ὡς den modalen Charakter des vorhergehenden ὡς auf, und ὅτι ist gleichsam als ein ὅτι-recitativum zu lesen, das den Inhalt oder gar Wortlaut der ‘falschen’ Lehre wiedergibt: Nach dieser Lehre ist der ‘Tag des Herrn schon da’.Footnote 74
An dieser Stelle aber sei vorerst betont: Der 2 Thess führt uns als pseudepigrapher Paulus-Brief literatur- wie theologiegeschichtlich in die Anfänge einer frühchristlichen Deutungs- und Diskurskultur, die als Streit über die ‘richtige’ Paulus-Interpretation übrigens bleibendFootnote 75 unabgeschlossen ist.