Die Forschung hat die Annahme einer reichsweiten Christenverfolgung unter Domitian hinter sich gelassen.Footnote 1 Die Herrschaft des letzten Flaviers ist dadurch als Ansatz zur zeitlich-situativen Verortung vieler urchristlicher Schriften fraglich geworden und die Exegese steht vor der Aufgabe, von dieser These abhängige Datierungen erneut zu prüfen.Footnote 2 Aus einem Wegfallen der Verfolgungsthese müssen aber nicht notwendigerweise Umdatierungen resultieren, sondern andere Datierungsargumente neu gewichtet werden. Wenn Domitian als Christenverfolger erinnert wurde (Tert.apol. 5.3–4; Lac.mort.pers. 3.2–3), obwohl er nie systematisch Christen verfolgt hatte, ist zu fragen, wo eine solche Tradition ansetzte und wie sie sich im Christentum festigen konnte.
Der vorliegende Beitrag versucht die Erklärungslücke zu schließen: Ein die konventionellen Datierungen in domitianische Zeit unterstützendes Argument ist in der typologischen Parallelführung zwischen Nero und Domitian erkennbar, die intensiver verlief als bislang beachtet. Besonders prägnant zeigt sich diese Tradition in der Johannesapokalypse (Offb): Dort wurden die Erinnerungen an Nero und Domitian so eng miteinander verbunden, dass Domitian zu einem zweiten Nero wurde.Footnote 3
1. Nero und Domitian – Schnittfelder der Erinnerung
Um die negative Darstellung Domitians im frühen Christentum zu verstehen, müssen die Erinnerungstraditionen seines Vorgängers Nero näher untersucht werden. Nero bietet sich nicht nur deshalb an, weil er der erste auch durch pagane Traditionen belegte Christenverfolger, sondern auch – wie Domitian – der Letzte seiner Herrscherdynastie war. Per se scheinen beide Herrscher viele Gemeinsamkeiten zu haben, denen im Folgenden nachgegangen wird.
1.1. Gleichheiten in literarischer Erinnerung und im Tyrannenbild
Die nachfolgende Grafik (Tab. 1) zeigt, wie sich hinsichtlich Domitians zum ersten Mal im Abfassungszeitraum der neutestamentlichen Schriften ein negatives Erinnerungsmuster wiederholt.Footnote 4
Anhand dieser Analogien kann man erkennen, dass Domitian in der Tradition historiographischer Schriften in einem Atemzug mit Nero als schlechter Kaiser genannt wurde, an dem sich künftige Herrscher kein Vorbild nehmen sollten (vgl. SHA.Comm. 19.2).Footnote 14 Gerade die senatorische Historiographie und adulatorische Poesie beschrieben den letzten Flavier nach dessen Tod mit ähnlicher Motivik, wie zuvor den letzten Julier (vgl. Tab. 2).Footnote 15
Auch wenn diese Ähnlichkeiten den meisten Bewohnern des Reiches nur bedingt vertraut gewesen sein mögen, stellten die Kalenderreformen beider Herrscher auch eine außerhalb senatorischer Kreise erfahrbare Parallele dar: Domitian benannte September und Oktober in ‘Domitianus’ und ‘Germanicus’ um,Footnote 16 wie Nero zuvor den April in ‘Neroneus’ umbenannt hatte.Footnote 17 Beide Kaiser zeichneten sich – ebenfalls weithin wahrnehmbar – durch eine sakrale Herrscherimago aus, die zumindest im Fall Domitians auch ‘religionspolitisch’ folgenreich war (vgl. Suet.Dom. 8.3–4).
Ein für die parallel verlaufende Erinnerung an Nero und Domitian wichtiger Umstand ist ihre Wahrnehmung als Tyrannen. In der römischen Literatur wird Nero immer mehr zum Typus eines Tyrannen, dessen Merkmale auch für nachfolgende Kaiser aufgegriffen werden konnten.Footnote 18 Er galt bald als Urbild eines tyrannischen Herrschers, wobei zu beachten bleibt, dass für die verschiedenen Erinnerungsgruppen ‘Römer’, ‘Juden’ und ‘Christen’ der Begriff Tyrann jeweils anders gefüllt war.
Während für die senatorische Historiographie – vereinfacht gesprochen – die Stilisierung als sakraler Herrscher nach hellenistischem Vorbild, das aggressive Vorgehen gegen die senatorische Elite, ein dekadenter Lebensstil und autokratische Manier einen Tyrannen ausmachten,Footnote 19 waren es bei einem jüdisch erinnerten Tyrannen Sanktionen und Verfolgungen gegen das Gottesvolk oder eine Missbilligung des Monotheismus.Footnote 20 Beide Erinnerungsfelder konnten sich überschneiden, aber auch erheblich divergieren.Footnote 21 Das Christentum scheint sich, aus jüdischen Denkkontexten stammend, in der römischen Welt noch einmal anders eingeordnet zu haben: Es bediente sich römischer wie jüdischer Erinnerungsmuster und erinnerte einen Tyrannen als gottlästernden Autokraten und selbsternannte Gottheit, der – gerade deshalb – Züge eines Verfolgers tragen musste. Ein solches Tyrannenbild ließ sich im Christentum zuerst auf Nero anwenden (vgl. Euseb.h.e. 2.25).
Nero füllt somit als Verfolger und Despot gleichermaßen den Tyrannenbegriff in allen Wahrnehmungskreisen aus.
Der erste Herrscher, der nach Nero wieder von römischen Historiographen, Juden und Christen umfassend als Tyrann wahrgenommen wurde, ist Domitian: Wie Nero wurde er als pessimus princeps erinnert. Die römischen Autoren der frühen nachdomitianischen Zeit ließen keine Gelegenheit aus, um den Herrscher in Kontrast zu seinen guten Nachfolgern posthum als Bestie darzustellen.Footnote 22 Auch wenn die senatorischen Berichterstatter die Umstände gezielt übertrieben,Footnote 23 scheint der negative Tonus auf historischen Grundlagen zu fußen.
Gerade weil die negative Sicht auf Domitian historisch fragwürdig bleibt, wurde der letzte Flavier zwiespältig wie kaum ein anderer Herrscher beschrieben.Footnote 24 Als Grund für die negative Erinnerung Domitians durch die römischen Autoren wird vor allem die Unmöglichkeit politischer Teilhabe unter seiner Herrschaft angeführt.Footnote 25
Im Judentum scheinen sich die Erinnerungen sehr zu widersprechen: Mal wird Domitian neutral blass (vgl. OrSib 5.40), mal sogar eher positiv gesehen (vgl. unter Vorbehalt christlicher Bearbeitung OrSib 12.124–142). Diese Stellen zeugen von einer Pluralität von Sichtweisen auf den Kaiser, wobei allerdings (wie bei den paganen Traditionen) die positiven durch die negativen Erinnerungsmomente überdeckt werden.
Als Beispiel für eine negative Wahrnehmung Domitians im Judentum kann das später auch im christlichen Bereich populär gewordene vierte Esrabuch dienen.Footnote 26 Es ist jüdischer Provenienz und weist Domitian eine Schlüsselstellung in der sogenannten Adlervision (4 Esr 11–12) zu. Gegen das letzte Haupt des Adlers richtet sich der Zorn Gottes.Footnote 27 Der Untergang dieses Hauptes, welches oft als Domitian gedeutet wird,Footnote 28 kündigt das Ende der Herrschaft Roms an (4 Esr 12.1–3; vgl. 11.45). Als direkter Adressat des Zornes des Messiaslöwen (vgl. 4 Esr 11.45–12.2) wird Domitian als eschatischer Widersacher und gefallener Herrscher beschrieben, der sich als Feind des Gottesvolkes erweist.
Mit Domitian ist folglich in der römischen wie in der jüdischen Erinnerungstradition ein negatives Bild verbunden – ein Zustand, der sich auf diese Weise zuvor nur bei Caligula und Nero gezeigt hatte. Das Christentum griff, wie noch gezeigt wird, auf dieses Muster zurück und beschrieb Domitian als Abbild des Tyrannen Nero.
Nero und Domitian sind damit die ersten gleichermaßen pagan, jüdisch und christlich als Tyrannen erinnerten Kaiser. Sie schufen ein Klima der Angst,Footnote 29 das auch durch die Sanktionierung oppositionellen Denkens entstand (für Nero: Suet.Nero 39.3; für Domitian: Suet.Dom. 10.2–4).Footnote 30 Ähnlichkeiten zwischen Nero und Domitian finden sich auch über ihren Tod hinaus: Statuenzerstörungen und Eradierungen von Inschriften sind für beide bezeugt.Footnote 31 Auch die unklare Nachfolgeregelung trug zu einem Klima der Angst bei.Footnote 32
Diese nur bruchstückartige Übersicht zeigt die Vielfalt der Gleichsetzungen auf, die sich literarisch festigten und in den einzelnen Erinnerungsgruppen unterschiedlich rezipiert wurden. Literarisch und in ihrer politischen Stellung als Monarchen gegen den Senat sind beide Kaiser als sich ähnelnde Tyrannen erinnert.
1.2. Medial vermittelte Gleichheiten
Nicht nur literarisch und politisch sind Ähnlichkeiten zwischen Nero und Domitian zu erkennen, sondern auch visuell und medial. Inschriften, Münzen und Statuen boten ein sichtbares Programm herrschaftlicher Propaganda und waren in den Reichsprovinzen oft die einzigen Wahrnehmungsfaktoren neben kursierenden Marktgerüchten. Vor allem Statuen dienten als Medien,Footnote 33 die in hohen Auflagen hergestellt wurden. Wegen der hohen Materialkosten wurden viele dieser Statuen auch wiederverwendet.Footnote 34 Bei diesen umgearbeiteten, palimpsestähnlichen Statuen ist die Physiognomie des aktuellen Herrscherbildes stark durch die vorher abgebildete Herrscherfigur beeinflusst, was eine genaue Typisierung schwer durchführbar macht.Footnote 35 Solche Umarbeitungen wurden bei einigen Bildern sogar mehrfach durchgeführt.Footnote 36 In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass einige Porträts Domitians charakteristische Merkmale Neros aufweisen und allem Anschein nach aus ehemaligen Nero-Statuen umgearbeitet worden sind.Footnote 37 Bergmann und Zanker resümieren: ‘Bezeichnenderweise sind wohl auch alle bisher bekannten Domitianporträts des ersten Typus aus Nerobildnissen gewonnen.’Footnote 38 Auch das den Kaiser in heroischer Nacktheit als gottgleich darstellende Domitianbildnis der Münchener GlyptothekFootnote 39 weist starke Überarbeitungsspuren auf (siehe Abb. 1.).Footnote 40
Bei der Umarbeitung von Nero auf Domitian spielten die Ähnlichkeit der Kopfform und der Frisur eine maßgebliche Rolle,Footnote 41 was vermuten lässt, dass der erste wahrnehmbare Bestand von umgearbeiteten Nerobildnissen aus der Zeit Domitians stammt.Footnote 42 Der regelrechte ‘Statuenboom’ unter Domitian (ab ca. 85 n.Chr.) überstieg die Produktionskapazitäten, so dass ein Rückgriff auf Bestandsmaterial unausweichlich wurde.Footnote 43
Nicht nur hinsichtlich der Statuen ist die domitianische Stilisierung der neronischen in vielen Punkten ähnlich: So führte Nero die Strahlenkrone, ein Attribut des Sonnengottes, ein, um sich als Gott zu stilisieren.Footnote 44 Die Flavier übernahmen das Motiv auf Münzbildern.Footnote 45
Zudem wird eine Gleichsetzung mit dem Göttervater auf Münzen und InschriftenFootnote 46 vollzogen: Das häufigste Sesterzbild Domitians war Jupiter bzw. Domitian mit den Attributen des Jupiter.Footnote 47 Zuvor hatte sich Nero als letzter Princeps offensiv als Zeus Eleutherios stilisiert (vgl. Cass.Dio 62.26.3–4).Footnote 48 Die in mancher Hinsicht vergleichbare, hellenistischen Vorbildern folgende Herrschaftspropaganda Domitians und NerosFootnote 49 wurde folglich durch unterschiedliche Medien wie Münzen und Statuen bis in die Provinzen getragen.
Visuell, medial, literarisch und politisch scheint eine gleichartige Erinnerungsgrundlage zwischen Nero und Domitian zu bestehen: Durch senatorische Stilisierungen und äußerliche Ähnlichkeiten wurde der letzte Flavier dem letzten Claudier in römischer und jüdischer Erinnerung immer ähnlicher, was nicht ohne Auswirkungen für das Christentum bleiben sollte.
2. Die Verschmelzung von Nero- und Domitianbild in der Johannesapokalypse
Auf diesem durch mündliche Erzählungen und visuell wahrnehmbare Medien in den Reichsprovinzen erfahrbaren Hintergrund ist ein Blick auf die Bildwelt der Offb lohnend. Hier scheinen pagane und jüdische Tyrannenerinnerung zusammenzulaufen: Das Römische Reich und sein Kaiser werden als gieriges, verschwenderisches Tier (Offb 17–18), das Anbetung fordert (Offb 13.1–10) und das Gottesvolk bedrängt (etwa Offb 2.2–3, 9; 3.8, 10), vorgestellt.
Offb ist als Werk eines judenchristlich geprägten Autors in unterschiedlichen sozialen Milieus Kleinasiens beheimatet (vgl. Offb 1–3). Der Seher greift als verbindendes Moment die drohende Assimilation an eine – in seinen Augen – verderbte Welt herausFootnote 50 und scheint vor allem auf den Herrscherkult als sichtbares Merkmal antiker Herrschaftsrepräsentation anzuspielen.Footnote 51 Dass gerade in Kleinasien der Herrscherkult seit Beginn der römischen Kaiserherrschaft wirkmächtig war, ist immer wieder Thema monographischer Untersuchungen gewesen.Footnote 52 Die herrschaftskritische Theologie des Sehers durchzieht das gesamte Werk und fällt insbesondere in den Visionskapiteln 12, 13 und 17 ins Auge. In ihnen wird der eschatische Gegenspieler Gottes und des Lammes als dreigestaltiges Monstrum beschrieben, das zusammen mit der Hure Babylon gemeinhin zeitgeschichtlich als Bild für das Kaisertum und das Römische Reich gedeutet wird.Footnote 53
Gerade in diesen Visionskapiteln scheint eine Verbindung zwischen der Erinnerung an Nero und der Herrschaftsrepräsentation Domitians erkennbar zu sein: Die todbringende Wunde (Offb 13.3–4), welche das Tier als negatives Spiegelbild des Lammes stilisiert,Footnote 54 wurde in der Auslegungsgeschichte häufig als Anspielung auf die Todeswunde Neros verstanden.Footnote 55 Wie Christus von den Toten auferstand, so der Auslegungsduktus, erstand auch sein Widerpart, der Anti-Christus Nero, zu neuem Leben. Diese Deutung ist plausibel, da das Gerücht, dass Nero noch oder wieder lebe, noch lange Zeit nach dessen Tod kursierte.Footnote 56
Es ist vor allem das frühjüdische Schrifttum, das die Legende um eine Wiederkunft Neros vielseitig rezipiert: Das 4. Buch der Sibyllinen (entstanden um 79 n.Chr.) berichtet etwa von einer Flucht Neros zu den Parthern (vgl. OrSib 4.124, später auch OrSib 5.147–9)Footnote 57 und einer Rückkehr als Rächer gegen Rom (OrSib 4.138–9). In OrSib 4 wird Nero noch gänzlich ohne gegenspielerisch-widergöttliche Motivik gedeutet und als lebendig wiederkehrend gedacht. Anders dagegen das 5. Buch der Sibyllinen (entstanden ca. 70–100 n.Chr.):Footnote 58 Darin wird Nero zunehmend dämonisiert und als wiederkehrender eschatischer Gegenspieler dargestellt (vgl. OrSib 5.28–34, 93–110, 138–146, 361–384).Footnote 59 Die Nero-Legende machte folglich eine Entwicklung durch, die den Kaiser immer mehr als endzeitlichen Rivalen Gottes bzw. des Lammes zu erinnern pflegte. Innerhalb dieser Legendengenese verbinden sich Reichs- und Herrscherkritik.Footnote 60
In Zusammenhang mit diesen Wiederkehrphantasien um Nero mögen die zwischen 69 und 88 n.Chr. auftauchenden PseudonerosFootnote 61 zu erklären sein, die auch in Kleinasien auftraten und sich zudem als Bildvorlage für antichristliche Gegenspielermotivik geeignet haben könnten.Footnote 62
Die Deutung der Todeswunde als Anspielung auf diese kursierenden Wiederkehrmythen ist, zusammen mit der Deutung der Zahl des Tieres (Offb 13.18) auf Nero nach gematrischer MethodeFootnote 63 ein Indiz dafür, dass der Seher ein neronisches Kaisertum beschreibt. Folgt man Collins’ Theorie der Genese der Nerolegende,Footnote 64 ergibt sich für Offb eine Position zwischen den beiden Beschreibungsmustern der Sibyllinen: dem frühen Wiederkehrmotiv aus OrSib 4 und dem Gegenspielermotiv aus OrSib 5. Die in Offb relevanten Stellen für das Nero redivivus-Motiv (vgl. Offb 13.3, 12; 17.11) tragen keine Züge einer realen Wiederkunft des historischen Nero wie in OrSib 4 in sich und liegen näher an der Darstellung von OrSib 5. Der Übergang vom Nero redux zum Nero redivivus als eschatischer Widerpart konnte in letzter Konsequenz erst erfolgen, als alle Pseudoneros verschwunden waren – also ab dem Jahr 88.Footnote 65 Diese inhaltliche Position der Offb zwischen der Abfassung von OrSib 4 und 5 hinsichtlich der Nerolegende lässt vermuten, dass es sich nicht nur typologisch, sondern auch mit Blick auf die Datierung um eine Zwischenstellung handelt. Anhand des Entwicklungsstadiums der Nerolegende ist somit die Spätzeit der Regierung Domitians als Abfassungszeit der Offb durchaus plausibel.Footnote 66
Hinzu kommt noch, dass sich das antichristliche Kaisertum, wie die Königsliste in Offb 17.9–11 andeutet, erst in einem neuen Herrscher, einem zweiten Nero, zu konkretisieren scheint: Der in der Endzeit auftauchende achte König wird einer von den sieben sein, und ist doch individuell – eine Art ‘alter Bekannter’ in neuem Gewand (vgl. Offb 17.10–11). Der Seher hat hier womöglich einen bestimmten Kaiser als Reinkarnation Neros vor Augen. Für diese Rolle scheint Domitian der am besten geeignete Kandidat zu sein,Footnote 67 wofür neben dem Entwicklungsstand der Nerolegende auch andere Gründe sprechen:
(1) Intensiver wahrgenommene Kultpolitik in der Provinz Asia
Domitian ist ein zweiter Nero – weil er seinen eigenen und den offiziellen, paganen Kult forciert.
Zunächst ist anzunehmen, dass auch in Kleinasien Gerüchte über beide Kaiser in Umlauf waren, durch welche sich ihre ‘ähnliche Regierungsweise’ artikulieren konnte.Footnote 68 Diese zeigte sich auch hinsichtlich der Kultpolitik: Durch den städtebaulich zentralen Sebastoi-Tempel Domitians in EphesusFootnote 69 (erbaut 88–91 n.Chr.) wurde die Provinz Asia zum ersten Mal nach Nero wieder als Kultort wahrnehmbar.Footnote 70 Die damit verbundenen Ehrentitel zeichneten den Bau besonders ausFootnote 71 und der (lebende) Kaiser war vermutlich auch selbst Teil dieses dynastischen Kultes.Footnote 72 Domitian kreierte auf diese Weise ähnlich wie seine Nachfolger – aber nach einer Vakanz von etwa 20 Jahren ohne die Einsetzung eines neuen Kultes deutlich exponierter wahrgenommen – ein auffallend sakrales Bild seines Kaisertums und versuchte durch zahlreiche Baumaßnahmen und InschriftenFootnote 73 eine omnipräsente Position zu erlangen. Diese Kultintensivierung unter Domitian gab dem Seher die Möglichkeit, Lokalkolorit Kleinasiens und Herrschaftskritik in Form der Nero-Typologie zu verbinden.
(2) Neromotivik als Form typisierter Herrscherkritik
Domitian ist ein zweiter Nero – weil Nero als typische Grundlage für Herrscherkritik fungierte.
Das in Offb gezeichnete Nerobild scheint Teil einer herrscherkritischen Typologie zu sein. Anders als die senatorische Historiographie es später tat, opponierten der Seher und die christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte nicht durch direkte Anklage, sondern durch eine bildreich-verzerrte Sprache, die sich primär der eigenen Bezugsgruppe erschließen sollte.Footnote 74 Der Seher schöpfte für seine Art der Kritik neben dem Danielbuch u.a. aus der Nerolegende und beschreibt Nero somit bereits als ‘typisch schlechten Kaiser’, dessen Charaktermerkmale aktualisierend auf Domitian übertragen werden konnten.
(3) Mythen als Teil neronischer wie domitianischer Herrschaftsrepräsentation
Domitian ist ein zweiter Nero – weil sich beide Kaiser zu Gott machen, doch in Wahrheit Ungeheuer sind.
Im Zuge typisierter Herrschaftskritik erschließen sich Bilder wie jene aus Offb 12 anders: So erkennt van Henten in Offb 12 eine Adaption des Leto-Mythos.Footnote 75 Dieser Mythos handelt davon, wie Leto nach der Geburt Apolls vom Ungeheuer Python verfolgt wird – aber noch auf den Armen seiner Mutter erlegt der junge Gott das Ungeheuer.Footnote 76 Neben dieser religionsgeschichtlichen Parallele zu Offb 12.4, 13–17Footnote 77 wird bei der Auslegung des Drachen zusätzlich der Typhon-Mythos herangezogen.Footnote 78 Beide Mythen sind miteinander verwandt und auch im ägyptischen (dort als Seth-Mythos) und vor allem kleinasiatischen Raum in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten bekannt.Footnote 79
Dieser Mythenkreis lässt sich nun auch auf die Herrschaftsstilisierung Neros und Domitians beziehen: Von Nero ist hinlänglich bekannt, dass er sich als neuer Apollon stilisierte (vgl. Sen.apoc. 4.1–2).Footnote 80 Nero entspricht dem ‘verfolgten Siegreichen’ – Apollon im Mythos und dem Himmelskind auf der Bildebene von Offb 12. Es existiert allerdings auch eine Tradition, in der Nero als Typhon bezeichnet wird, der von Zeus vernichtet wird – auf der Bildebene der Offb also als Drache.Footnote 81 Der Kaiser bedient folglich beide Bildebenen: positiv wie negativ.
Bei Domitian ist eine zweifache Auslegung des Bildes ebenfalls möglich: Einerseits negativ als Tyrann mit typhonischer Ähnlichkeit,Footnote 82 andererseits als Besieger Typhons. Der Obelisk an der Piazza Navona betitelt Domitian als Horus, den Sohn des Osiris, der Seth (≙Typhon) tötete.Footnote 83 Zahlreiche Münzdarstellungen zeigen Domitian als Typhon-Bezwinger Jupiter Footnote 84 und auch apollinische Eigenschaften prägten ihn.Footnote 85
Domitian steht somit auch bezüglich einer Stilisierung als Bezwinger mythischer Monster in einer Traditionslinie mit Nero: Der selbststilisiert gute Gott-Kaiser wurde in beiden Fällen zum fremdstilisierten, typhonischen Monstrum – eine Erinnerungsleistung, die vom Seher u.U. bewusst konstruiert wurde.
(4) Visuelle Gleichheit Neros und Domitians durch umgearbeitete Statuen
Domitian ist ein zweiter Nero – weil in Domitian Nero auch visuell ‘aufersteht’.
Für solche rein literarischen Umbesetzungen gab es in Kleinasien aber vermutlich auch einen visuellen Rahmen: Die erwähnte Methode der Umarbeitung von Nero- zu Domitianstatuen erhellt das rätselhafte Bild der verschiedenen Köpfe des Tieres bei gleichbleibendem Körper ebenso wie das Herrschen der Häupter nacheinander (vgl. Offb 17.10). In diesem Bild scheint die Kontinuität des Kaisertums samt seinen wechselnden Herrschern dargestellt zu sein. Der auffällige Umstand, dass es gerade Domitianbildnisse sind, in denen Neros Büsten ‘auferstehen’, hinterließ literarische Spuren in Offb 17.11. Ein archäologischer Beleg steht für Kleinasien allerdings noch aus und die damnatio memoriae Domitians erschwert den Nachweis zusätzlich.Footnote 86
Plausibilisiert wird diese These zusätzlich dadurch, dass Dan 7 als Bezugstext zu Offb 13 keine sprechenden Häupter, sondern nur ein (meist als Antiochus iv. gedeutetes) sprechendes Horn kennt (vgl. Dan 7.8, 11, 20). Das Bildrepertoire wurde also abweichend zur Vorlage geändert: In Offb 13 sprechen nicht die ebenfalls erwähnten Hörner (13.1), sondern die Köpfe, und zwar aus einem Mund (vgl. στόμα, Offb 13.5–6). Die Häupter sind individuell, agieren aber kollektiv. Genauso wie Kollektivität, Individualität und Austauschbarkeit das Bild in Offb 13 prägen, folgten auch Herrscherstatuen kollektiv-wiedererkennbaren Mustern, waren aber, wie man an den Umarbeitungen der Köpfe erkennen kann, individuell-austauschbar.
Aufgrund der in der breiten Wahrnehmung notierten Ähnlichkeiten zwischen beiden Kaisern kann das negativ überlieferte Nerobild dem Seher dazu gedient haben, das Tier neronisch zu beschreiben und Domitian zu meinen. Er wird zum Tier, ‘das war und nicht ist … und doch eines aus den sieben’ ist (Offb 17.11).Footnote 87 Ähnlich wie später in 4 Esra wird der Kaiser zum Gegenspieler des Guten (vgl. 4 Esr 11.45–12.2 mit Offb 19.11–21). In dem unter Domitian forcierten Herrscherkult und der mythischen und medial austauschbaren Ähnlichkeit zwischen Domitian und Nero lag für den Seher der motivische Grundbestand, um seine auf die Gegenwart gerichtete Opposition gegen das Römische Reich auszudrücken. Unabhängig davon, ob der Seher die römische Wahrnehmungs- oder Erinnerungsstrategie der Verbindung Domitians mit Nero kannte, konnte er die Herrschaftsrepräsentation des letzten Flaviers mit derjenigen des letzten Claudiers anhand der in der Provinz zugänglichen Medien und Gerüchte korrelieren. Der Seher musste seine Adressaten von dieser Sichtweise nicht überzeugen, sondern lediglich ihren Blick dafür schulen, dass gegenwärtiges und vergangenes Herrschaftsübel eins sind.
3. Folgerungen für die Datierung und Gründe für die negative Nachgeschichte Domitians
Die genannten Übereinstimmungen zwischen Nero und Domitian lassen eine Datierung der Offb zur Spätzeit der Regierung Domitians aus textinternen Gründen plausibel erscheinen.Footnote 88 Im Text der Offb wird die Nerotypologie zur Mahnung: Die Hörer sollten erkennen, dass der gegenwärtige Tyrann Domitian voll und ganz Nero ist.
Abgegrenzt wird der Abfassungszeitraum zusätzlich durch die unklare politische Situation vor den Partherkriegen Trajans: Setzt die Schrift die Zerstörung Jerusalems voraus, ergibt sich als Terminus post quem 70 n.Chr.Footnote 89 Eine Bedrohung, die an vielen Stellen der Offb immer wieder präsent wird, ist die Furcht vor einem Parthereinfall.Footnote 90 Diese Angst wird unter anderem in Offb 6 durch das Bild der apokalyptischen Reiter reflektiert.Footnote 91 Eine permanente Unruhe war vor allem zur flavischen Zeit spürbar, nachdem Vespasian sich mit dem Partherkönig überworfen hatte.Footnote 92 Die Provinz Kleinasien liegt zudem militärisch empfindlich zwischen Rom und dem Partherreich und vieles deutete zur domitianischen Zeit auf einen geplanten Militärschlag hin.Footnote 93 Dies alles erhärtet zwar die Vermutung einer Datierung zur domitianischen Zeit, beweist sie aber nicht, denn durch das ‘geöffnete Zeitfenster’Footnote 94 bis in die trajanische Zeit hinein ist eine genauere ‘äußere’ Datierung unmöglich und nur unter Hinzuziehung der verwendeten textinternen Motivik möglich.
Neben der textinternen Stärkung des Datierungsarguments ist durch die Nerotypologie auch die christliche Entwicklung des Domitianbildes besser zu verstehen: Da Nero als schlechter Kaiser und Verfolger des GottesvolkesFootnote 95 erinnert wurde, nahm das frühe Christentum in Folge unter Hinzuziehung der Offb und pagan-senatorischer SchriftenFootnote 96 Domitian als schlechten Herrscher und zweiten Nero wahr. Dies führte zwangsläufig dazu, dass dieser Nero secundus Christen verfolgt haben musste.Footnote 97 Offb hatte somit entscheidenden Anteil daran, dass sich Theorien über eine domitianische Verfolgung entwickeln konnten. Diese Theorien basieren aber nicht auf historischen Tatsachen, sondern vielmehr auf den Erinnerungstraditionen Neros, die bereits in Offb auf Domitian bezogen worden waren.
4. Fazit
Die Untersuchung hat durch eine Zusammenschau des medial wahrnehmbaren und literarischen Umfelds aufgezeigt, dass Nero und Domitian pagan wie christlich als ähnliche Herrschertypen erinnert wurden. Diese Ähnlichkeiten bündeln sich in Offb: Textinterne Hinweise wie das Stadium der Nerolegende und die vielfältig beschriebenen Gleichheiten zwischen Nero und Domitian legen in Verbindung mit äußeren Umständen wie der Furcht vor einer militärischen Auseinandersetzung mit den Parthern die Vermutung nahe, dass die Abfassung der Offb noch im ersten Jahrhundert – vermutlich in der Spätzeit der Regierung Domitians verfasst wurde. Nachfolgende Herrschergestalten wie Nerva, Trajan oder Hadrian werden in der christlichen und römischen Rezeption wesentlich positiver als Domitian erinnert und bieten im Text der Offb anders als Domitian keine Anknüpfungspunkte an den ‘Urtyrannen’ Nero.
Aufgrund der beschriebenen Gleichheiten in Offb wurden Nero und Domitian aber auch in ihrer auffälligen ‘Nachgeschichte’ als (erinnerte) Christenverfolger miteinander in Beziehung gesetzt. Diese hinsichtlich Domitian überwundene Aussage verrät, wie wichtig die motivische Verbindung zum Erzverfolger Nero war. Die sog. domitianische Verfolgung kann als weitreichende Erinnerungskonsequenz im Zuge der Verbindung von Nero- und Domitianerinnerung verstanden werden und fußt somit nicht auf historischen Grundlagen. Sie ist vielmehr eine Weiterführung der in Offb begonnenen Erinnerungs-Syzygie.
Die christliche Sicht auf Domitian wurde von der Neromotivik folglich zuerst inspiriert, dann allerdings bis ins Letzte beeinflusst – Offb ist dafür ein erster Indikator. Auch ohne das Verfolgungsargument spricht somit viel für eine Datierung in die domitianische Ägide. Text und Rezeption erhellen in der Zusammenschau, wie aus dem letzten Flavier ein flavischer Nero wurde.