So sehr die Frage der Entwicklung des neutestamentlichen Kanons auf verschiedenen Ebenen neu diskutiert wird,Footnote 1 so sehr scheint ein doch recht weitgehender Konsens darin zu bestehen, dass nach ersten Impulsen, die bereits auf das 2. Jahrhundert zurückgehen, spätestens im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in vielen christlichen Kreisen so etwas wie ein in seinen Grundlinien festgesetzter Kanon des Neuen Testaments anerkannt war und auch vorlag.Footnote 2 Natürlich waren auch nach dem 4. Jahrhundert noch nicht in allen Teilkirchen alle Fragen zu allen Schriften des Neuen Testaments abschließend geklärtFootnote 3 und sicher mag es auch noch weit über das 4. Jahrhundert hinaus Gruppen von Christusanhängern gegeben haben, die entscheidende Teile dessen, was wir Neues Testament nennen, nicht anerkannten: Ich denke hier z.B. an die Pauluspolemik jüdischer Christusanhänger, an „gnostische“ Gruppierungen oder auch an Anhänger Marcions. Mir geht es jedoch nicht darum, anhand konkreter Einzelbeispiele die Frage nach konkreten Kanonausformungen in unterschiedlichen Gruppierungen differenzierter als bisher zu formulieren, ich möchte stattdessen einer anderen, zwar nahe liegenden, m.E. jedoch viel zu selten gestellten Frage nachgehen, die meist zurücktritt, wenn von der Geschichte des Kanons die Rede ist:Footnote 4 Welche Bedeutung bzw. welche Rolle hatte der Kanon des Neuen Testaments in verschiedenen Kontexten antik-christlichen Lebens?Footnote 5
Hierzu eine Vorbemerkung: Wenn wir bedenken, dass ein großer Teil antiker Christusanhänger nicht oder wenigstens nicht in der Weise lesen und schreiben konnte, wie wir das – zumindest (gar als Akademiker) in westlichen Welten – heute selbstverständlich tun, wenn wir uns zudem bewusst machen, dass Bücher in der Antike nicht in der Weise reproduzierbar und verfügbar waren,Footnote 6 wie dies heute der Fall ist, und wenn wir uns schließlich vor Augen führen, dass bis heute viele Menschen, auch wenn sie gelernt haben zu lesen und zu schreiben, aufgrund der Tätigkeiten, mit denen sie sich ihr Brot verdienen müssen, nicht die Möglichkeit haben, umfangreichere Bücher zu lesen, sie zu memorieren, zu studieren oder gar zu diskutieren, dann stellt sich die Frage, welche Bedeutung denn die Entscheidung für einen bestimmten Kanon für die große Zahl von antiken Christusanhängern gehabt haben mag, die aus den eben genannten und vergleichbaren Gründen keinen oder zumindest keinen regelmäßigen Zugang zu Bibeln (oder Sammlungen biblischer Bücher) als geschriebenen Texten hatten.
Die Frage nach der Bedeutung des biblischen bzw. – enger gefasst – des neutestamentlichen Kanons berührt ein sehr grundlegendes Problem: Ist das (antike) Christentum in erster Linie eine „ReligionFootnote 7 des Buches“ oder eine „Religion (vergegenwärtigter) Erinnerungen“,Footnote 8 innerhalb derer Bücher zwar eine gewisse, aber eben doch nur eine je nach Kontext sehr begrenzte Rolle spielen? Eine Antwort auf diese Frage hängt natürlich entscheidend davon ab, ob ich mich als Historiker in erster Linie für einige große Gelehrte des frühen Christentums und ihre theologischen Konzepte interessiere oder eben auch für die Mitglieder der von Ramsay MacMullen so genannten „Second Church“Footnote 9 – m.E. der wahren Mehrheitskirche, deren religiöses Leben und Denken allzu lange mit dem pejorativ gebrauchten Label „Volksfrömmigkeit“ abgetan wurde.Footnote 10
Natürlich ist damit ein ganzes Forschungsprogramm angerissen, und so kann eine derart grundlegende Frage nicht in einem Beitrag in Aufsatzform beantwortet werden. Ich konzentriere mich deswegen auf einen Aspekt: Spätestens mit dem 4. Jahrhundert, in einigen Fällen jedoch schon früher, lässt sich in verschiedenen Regionen und Städten wie auch in Verbindung mit ganz konkreten Orten die Konstruktion christlicher „Erinnerungsorte“ bzw. „Erinnerungslandschaften“Footnote 11 beobachten, einer Kombination von konkret greifbaren Orten, Gebäuden oder Räumen, an denen Erzählungen, die wenigstens teilweise in verschriftlichten Texten greifbar werden, aber auch Riten hängen, durch die „Erinnerung“ aktualisiert werden kann, ja „präsentiert“ wird, d.h. durch die Vergangenes vergegenwärtigt und somit zur für die gegenwärtige Identität bedeutsamen „Geschichte“ wird. Die Rede von „Erinnerungslandschaften“ (bzw. „Erinnerungsorten“) geht natürlich auf das Konzept der Lieux de mémoire zurück, das Pierre Nora im Zusammenhang mit der Geschichte Frankreichs entwickelt hatFootnote 12 und dem der Gedanke des französischen Soziologen Maurice Halbwachs zugrunde liegt, dass unsere Erinnerungen der Vergangenheit in engem Bezug zu den sozialen Strukturen stehen, an denen wir teilhaben.Footnote 13 Während Nora die Vorstellung von „Erinnerungsorten“ nicht nur an reale geographische Orte bindet, sondern auch an Ereignisse, Institutionen oder grundlegende Begriffe denkt,Footnote 14 möchte ich mich im Folgenden mit nur wenigen Ausnahmen auf die Verbindung von konkreten, realen Örtlichkeiten (direkt oder indirekt in schriftlicher Weise niedergelegten) Erzählungen sowie (wenigstens im Ansatz) damit verbundenen Riten konzentrieren. Damit ergibt sich auch die konkrete Detailfrage, der ich im Folgenden nachgehen werde:
Welche Rolle spielt der Kanon bzw. spielen kanonische Texte für die Konstruktion und Weiterentwicklung „christlicher Erinnerungsorte“ bzw. „Erinnerungslandschaften“ im oben skizzierten Sinne? Welche Funktion kommt anderen, nicht-kanonischen Schriften bzw. sich auf sie zurückführenden Erzählungen zu? Und wie sind diese in ein größeres Konstrukt eingewoben?
Natürlich sind auch diese Fragen nicht einfach global zu beantworten – ich möchte deswegen an zwei Beispielen, die exemplarisch für andere stehen können, Linien einer möglichen Antwort vorzeichnen.
1. Das Zeugnis apokrypher Apostelakten
Meine erste Argumentationslinie geht von konkreten Texten aus, deren Funktion wenigstens unter anderem darin besteht, Ansprüche konkreter Teilkirchen (und ihrer konkreten Kirchenorganisation), als „heilig“ verstandener Orte und damit verbundener Traditionen (wie etwa Wallfahrten und den damit verbundenen Liturgien) zu rechtfertigen. Das Verhältnis dieser Texte zu Schriften des Neuen Testaments (bzw. in ihnen enthaltenen Erzählungen) ist sehr unterschiedlich zu bestimmen.
Dass die apokryphen Barnabasakten im Dienste der Verteidigung des Anspruchs der Kirche Zyperns verfasst wurden, sich als vom Patriarchat von Antiochien unabhängige apostolische Gründung zu etablieren, ist mehr oder minder Allgemeingut der wenigen Studien zu diesem weitgehend unbekannten Text. Die bereits auf R. A. Lipsius zurückgehende These, der Text sei konkret in engsten Zusammenhang mit der zweiten Phase der Auseinandersetzung in der Zeit Kaiser Zenos des Isauriers (474–5, 476–91 n.Chr.) zu setzen, in der die Kirche Zyperns den Beweis zu führen suchte, nicht nur apostolische Gründung zu sein, sondern auch ein Apostelgrab ihr Eigen zu nennen, ist m.E. in ihrer üblichen Form kaum haltbar.Footnote 15 Weder das Martyrium noch die Rettung der Reliquien des Barnabas spielen eine größere Rolle im Text. Vor allem aber werden diese am Ende versteckt, ohne dass ein genauerer Ort angegeben werden könnte, wo sie zu finden seien. Der Text zeigt – umgekehrt – eher, dass die Lage der Barnabasreliquien nicht angegeben werden kann:
Ich aber [= Johannes Markus, der Erzähler] fand einen günstigen Zeitpunkt in der Nacht und konnte dies [d.h. das Tuch, in dem sich die Reliquien des Barnabas befinden] mit Timon und Rhodon wegtragen. Wir kamen an einen gewissen Ort, wo wir eine Höhle fanden, und brachten ihn dort hinab, wo früher das Volk der Jebusiter wohnte. Wir fanden aber einen geheimen Ort in ihr und legten ihn mit den Lehren, die er von Matthäus empfangen hatte, dort ab. Es war aber die vierte Stunde der zweiten Nacht der Woche. (Kap. 24)Footnote 16
Eine Verbindung zwischen (erinnerndem) Text, realem Ort und Ritus ist hier nicht erkennbar – und trotzdem können die Barnabasakten wohl im übertragenen Sinne als für die Kirche Zyperns bedeutsamer „Erinnerungsort“ gelesen werden, der gleichzeitig in seiner Beschreibung der Wanderungen des Barnabas und des Markus reale Orte Zyperns streift: Thematisiert wird der apostolische Ursprung der Kirche Zyperns, der mit Widerständen zu kämpfen hat, welche schließlich im Tod des Barnabas und der Flucht seines Begleiters, Johannes Markus, nach Alexandria enden. Die Reliquien des Barnabas werden zwar gerettet, verbleiben an einem verborgenen Ort, den jedoch niemand genau zu benennen weiß. Mit der kanonischen Apostelgeschichte als Bezugspunkt wird dabei in hoch kreativer, ja spannungsvoller Weise umgegangen: Obwohl es sich angeboten hätte, an Apg 13,4–13 anzuknüpfen und somit gleich zwei Apostel, Barnabas und Paulus, für die Gründung der Kirche Zyperns verantwortlich zu machen, ist der Text nicht daran interessiert. Aus Apg 13,4–13 begegnet in erster Linie die Figur des Juden Barjesus, der zum Gegenspieler des Barnabas wird und schließlich am Tod des Apostels entscheidend mit beteiligt ist. Stattdessen ist (in ausführlicher Ausmalung von Apg 15,37–9) von einem geradezu unüberwindbaren Gegensatz zwischen Paulus und Johannes Markus, ja von einem Zerwürfnis zwischen Paulus und Barnabas in Antiochia die Rede (Kap. 8), das nur deswegen überwunden werden kann, weil Christus (in einer Vision) selbst eingreift (Kap. 10). Während Johannes Markus und Barnabas so Seite an Seite zu Missionaren Zyperns werden, thematisiert der Text eine von Christus gewollte Trennung von Paulus und Barnabas:
9. … Paulus stöhnte auf und weinte, genauso aber auch Barnabas, sie sagten zueinander: „Zwar wäre es schön, wenn wir, wie den Anfang so auch das Ende unter den Menschen gemeinsam zu machen. Weil es aber nun einmal dir so schien, Vater Paulus, bete für mich, damit meine Mühe vollendet werde zum Lob. Denn du weißt, wie sehr ich dir gedient habe zur Gnade Christi, die uns gegeben wurde. Denn ich gehe nach Zypern, um eilends vollendet zu werden, denn ich weiß, dass ich dein Gesicht nicht mehr sehen werde, Vater Paulus.“ Und auf den Boden zu seinen Füßen fallend, weinte er sehr.
10. Paulus aber sagte zu ihm: ‚Auch bei mir stand der Herr in dieser Nacht’. Er sagte: ‚Halte Barnabas nicht zurück, nach Zypern zu gehen. Dort nämlich ist ihm bestimmt, viele zu erleuchten. Du aber geh in der dir geschenkten Gnade nach Jerusalem, um am Heiligen Ort zu beten; dort wird dir gezeigt werden, wo dir das Martyrium bestimmt ist. Wir aber grüßten einander, und Barnabas nahm mich [d.h. Johannes Markus, den Erzähler] zu sich’.Footnote 17
Diese scheint ihm so wichtig zu sein, dass damit der auf den ersten Blick nahe liegende Bezug zu Apg 13 deutlich zurück tritt. Das so entstehende Problem lässt sich vielleicht anhand der Beobachtung lösen, dass die Barnabasakten jeden der drei Apostel mit einem Ort verbunden sein lässt: Wir begegnen Paulus (im Anschluss an Apg 15,35) in Antiochien, wo auch die von Christus gewollte Trennung der Apostel stattfindet,Footnote 18 Barnabas steht für Zypern, während Johannes Markus nach dem Tode des Barnabas zum Apostel Alexandrias wird.Footnote 19 Versucht der Text damit die Situation seiner Zeit, die Rolle Zyperns zwischen zwei großen Patriarchaten, Antiochia und Alexandria, die Trennung von Antiochia und ein gutes Verhältnis zu Alexandria, das gleichwohl als spätere Gründung aufgefasst wird, narrativ zu thematisieren? Dann spiegelt der Text nicht nur die apostolische Gründung Zyperns, sondern verlegt das für die Identität der sich als unabhängig definierenden Kirche Zyperns wichtige Verhältnis zu den Mächten seiner Zeit in die apostolische Vergangenheit. Dies wiederum wird als so wichtig verstanden, dass dabei der kanonische Text Apg 13,4–13, in dem wir Paulus und Barnabas noch Seite an Seite erleben, für die Barnabasakten praktisch vollkommen zurücktritt.
In einer frühen Phase des Ringens um die Unabhängigkeit der Kirche Zyperns vom antiochenischen Patriarchat macht ein solcher Text durchaus Sinn; in den von Lipsius thematisierten Auseinandersetzungen unter Kaiser Zeno jedoch, in denen ein Apostelgrab – und damit ein realer Erinnerungsort – vorgewiesen werden musste, entstanden neue Texte, in denen die wohl älteren Barnabasakten noch einmal korrigiert werden mussten: Während jene noch alleine von der Rettung der Reliquien des verbrannten Leichnams des Barnabas sprechen, die jedoch an einem unbekannten Ort ruhen, berichtet das dritte Kapitel des (üblicherweise in die hagiographische Literatur eingeordneten) Barnabas-Enkomiums des Mönches Alexander wohl gegen Ende des 5. Jahrhunderts davon,Footnote 20 dass der gesamte Leichnam des Barnabas auf wunderbare Weise aufgefunden wird. Erkennbar ist er dabei durch ein Exemplar des Matthäusevangeliums auf seiner Brust, von dem auch die Barnabasakten berichten.Footnote 21
Eine solche Markierung konkreter, realer Orte spielt auch in anderen apokryphen Apostelakten eine Rolle: So erzählen etwa die Titusakten Kretas nicht nur vom (friedlichen!) Tode des Titus und seinem Begräbnis, sondern beschreiben gleichzeitig auch den Ort, an dem Titus begraben ist, als eine Stätte, von der, durch Votivgaben markiert, heilende Kräfte ausgehen:
10. … Als Titus also eine Vielzahl wunderbarer Taten vollbracht hatte, sah er die heiligen Engel ausgesandt zu ihm, um ihn zu empfangen, und als das Haus sich mit wohlriechendem Rauch und einer Wolke, die heller als die Sonne leuchtete, füllte, wurde sein Antlitz glänzend und voll Freude brachte er ein sehr großes Lachen hervor, streckte die Hände zum Himmel und rief: „Herr, ich habe den Glauben an dich aufrecht bewahrt und das Volk unverletzlich behütet. In deine Hände lege ich meinen Geist. Und dein Volk festige selbst.“ Er sagte „Amen“, gab mit Freuden den Geist auf und lebt in Ewigkeit. 11. Nachdem man seine (sterblichen) Überreste mit Ölen und wohlriechenden Kräutern gesalbt hatte, trug man ihn in einem weißen Gewand zum Begräbnis. Und siehe, die Götzentempel stürzten ein, die in ihnen (Befindlichen) jedoch entkamen unverletzt und sahen die (sterblichen) Überreste des Heiligen. Seine verehrte Grabstätte ist freilich ein Altar, an dem sich Handfesseln befinden, mit denen man die, die unter der Wirkung von unreinen Geistern stehen, bindet. Dort erlangen auch alle, die würdig sind, den Ort der letzten Ruhe des Heiligen zu umarmen, Heilung. (Act. Tit. 10–11)Footnote 22
Die im Text erwähnte Grabstätte des Titus wiederum lässt sich historisch tatsächlich lokalisieren – es handelt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um die (heute in Ruinen liegende) spätantike Basilika von Gortys, in der die dem Titus zugeschriebenen Reliquien bis zu arabischen Eroberung Kretas im Jahr 823 ruhten, bevor sie in die Markuskirche von Venedig überführt wurden. Andere Beispiele zeigen anhand weiterer Facetten, dass vielen einst gerne als reine Unterhaltungsliteratur abgetanen apokryphen Apostelakten ein Wert für die Konstruktion von Erinnerungsorten wie den erwähnten zukam: Im konkreten Fall der Akten des Paulus und der Thekla lässt sich die Markierung eines Ortes tatsächlich auch umgekehrt mit dem Zeugnis konkreter Frömmigkeit in Bezug auf diesen Ort verbinden: Der Ort Seleucia in Isaurium (das heutige Silifke)Footnote 23 spielt für den Plot der Akten eigentlich keine Rolle. Erst im letzten Vers des Textes lesen wir davon, dass Thekla von ihrer Heimat Iconium, wo sie ein letztes Mal auf ihre Mutter Theoklia trifft, nach Seleucia zieht, wo sie schließlich „eines sanften Todes entschlief“ (V. 43). Rein narrativ ist der Ortswechsel nach Seleucia innerhalb der Theklaakten unbegründet, er markiert jedoch das in späteren Schriften wieder erwähnte Grab der Thekla: So gelangt etwa Egeria, die erste Frau, die uns ein ausführliches Zeugnis ihrer Pilgerreise ins Heilige Land hinterlassen hat,Footnote 24 auf dem Rückweg von ihrer wohl um das Jahr 400 zu datierenden Reise zu den heiligen Stätten auch nach Tarsus in Kilikien, von wo aus sie einen Abstecher nach Isaurien unternimmt, um das Martyrium der Heiligen Thekla zu besuchen. Sie reist nach Seleucia und von dort aus zum außerhalb des Ortes gelegenen Martyrium. Sie schreibt:
Als ich also dorthin im Namen Gottes gekommen war, wurde ein Gebet am Martyrium gesprochen, auch die gesamten Akten der hl. Thekla gelesen, und ich dankte unendlichmal Christus, unserem Gott, der mich Unwürdige und Verdienstlose gewürdigt hatte, in allem meine Wünsche zu erfüllen. (Itin. Eg. 23,5).Footnote 25
Der reale Ort des Martyriums der Thekla bei Seleucia, das nicht nur von Egeria beschrieben und besucht werden kann, sondern wenige Generationen später im Leben und Wunder der hl. Thekla des Basilius von Seleucia (gest. 468) eine noch größere Rolle als in den ursprünglichen Akten des Paulus und der Thekla spielt, wird hier verbunden mit einem Text, der die Person Thekla (und damit die Erinnerung an eine gerade für die Frau Egeria bedeutsame Figur der apostolischen Zeit) vergegenwärtigt. All dies ist schließlich zwar nicht mit einem konkret an den Ort gebundenen Ritus, doch immerhin mit dem Verharren im Gebet verknüpft. Das Urteil eines altkirchlichen Autors wie Tertullian, die Akten des Paulus (und damit auch die Akten des Paulus und der Thekla) seien als Fälschung abzulehnen (De baptismo 17), scheint in diesem Kontext keinerlei Rolle zu spielen. Auch wenn die Akten des Paulus und der Thekla wohl mehr und mehr durch Leben und Wunder der hl. Thekla verdrängt worden sein dürften, kann der Text in diesem konkreten Kontext kaum als „apokryph“ im Sinne von „geheim“ oder „verborgen“ verstanden werden. Die in dem von Egeria beschriebenen Kloster um das Martyrium lebenden Mönche und Nonnen sind zudem sicherlich nicht als Mitglieder einer häretischen Gruppierung zu verstehen. Dass Egerias Verehrung der Thekla kein Einzelfall gewesen ist, zeigt schließlich nicht nur eine Reihe von antiken Phiolen mit dem Bild Theklas,Footnote 26 Miniaturcodices mit den Akten des Paulus und der Thekla,Footnote 27 sondern – viel mehr – auch die Tatsache, dass der Kult der Thekla nicht auf Seleucia beschränkt blieb, sondern sich in Spätantike und Mittelalter an einer Vielzahl von Orten zwischen Katalonien, Ägypten und Armenien, z.T. in Verbindung mit Reliquien der Thekla, ausbreitete.Footnote 28
Zu den regelmäßig wiederkehrenden Motiven apokrypher Apostelakten, im Grunde jedoch schon auch der kanonischen Apostelgeschichte (vgl. z.B. Apg 19,21–40) gehört die Darstellung der Auseinandersetzung des Apostels mit paganen oder jüdischen Gegenspielern. Immer wieder lesen wir davon, wie Götterbilder oder Tempel auf wunderbare Weise zu Fall kommen und zerstört werden. Wenn apokryphe Apostelakten die Erinnerung an das Handeln eines Apostels an einen konkreten Ort binden, der wenigstens in einigen Fällen dann auch konkret greifbar – herzeigbar – ist wie im Falle des Martyriums der Thekla, dann hat der damit entstehende Erinnerungsort häufig auch die Funktion deutlich zu machen, wie das Christentum an die Stelle alter Kulte tritt und diese – häufig auch auf aggressive Weise – ablöst.Footnote 29 Beispiele dafür lassen sich etwa an den Akten des Philippus (wohl des 5. Jahrhunderts) fest machen.Footnote 30 In deren 13. Akt – die Akten 8–15 bilden eine besonders eng verknüpfte literarische Einheit – finden wir den Apostel zusammen mit seinen Begleitern Bartholomäus und Mariamne sowie sprechenden Tieren, d.h. einem Leoparden und einem Zicklein, die sich zum Christentum bekehrt haben, auf dem Weg in die Stadt Ophioryme („Schlangengasse“), die durch die Überschrift sowie aufgrund einiger Passagen des Martyriums des Philippus jedoch mit Hierapolis in Phrygien, dem heutigen Pamukkale, zu identifizieren ist. Vor der Stadt begegnen ihnen sieben Männer, auf deren Schultern Schlangen sitzen und deren Aufgabe es ist, festzustellen, ob Fremde, die sich der Stadt nähern, Anhänger des dortigen Schlangenkults sind. Wer nicht als Anhänger des Kults identifiziert werden kann, wird gebissen und so gehindert, die Stadt zu betreten. In diesem Falle jedoch haben die Schlangen keine Macht über die Apostel und ihre tierischen Begleiter, bei deren Anblick auch zwei große Drachen am Stadttor, die normalerweise alleine durch ihren Atem Fremde erblinden lassen, tot umfallen. In der Stadt angekommen, übernehmen die Christen eine dort befindliche leere Arztpraxis (oder Apotheke?), von wo aus sie, ausgestattet mit einem Kästchen voller Medikamente, welche sie noch von Christus selbst erhalten haben, die Kranken der Stadt heilen – darunter als erstes Stachys, den früheren Hohenpriester der Schlangenkults, einen früheren Christenverfolger, der seit 40 Jahren erblindet ist (Akt 14). Auf den ersten Blick scheint eine derartige Erzählung das klassische Urteil Otto Bardenhewers zu bestätigen, der in seiner großen Geschichte der altkirchlichen Literatur (1913 in zweiter Auflage erschienen, 2007 jedoch nachgedruckt) von der „Absonderlichkeit, Abenteuerlichkeit und Abgeschmacktheit des Inhalts“Footnote 31 vieler apokrypher Schriften sprach und dabei besonders auf apokryphe Apostelgeschichten zielte. Bereits vor einigen Jahren hat jedoch Frédéric Amsler eine Deutung dieses Textes geboten, die ihn interessant für unsere Fragestellung werden lässt:Footnote 32 Amsler interpretiert in Aufnahme einer Beobachtung von Alfred von Gutschmid (1864)Footnote 33 die Passage als Erzählung, in der die Überwindung des Kults der Kybele in Phrygien, in dem die Schlange als heiliges Tier galt, narrativ verarbeitet und dabei gleichzeitig in die apostolischen Ursprünge des Christentums verlegt wird. Da auch das Zicklein als Attribut des Attis, des Geliebten der Kybele, belegbar ist (vgl. Plutarch, Hellenica 7,17,10 und Arnobius, Adversus nationes 5,6) sowie der Leopard (wie auch andere Raubkatzen) ikonographisch mit Kybele verbunden werden kann,Footnote 34 ergibt die Erzählung in ihrer Gesamtkonstellation Sinn: In Hierapolis selbst ist in der Zeit der Christianisierung der Kult der Kybele bereits durch den des Apollo ersetzt, der jedoch aufgrund seines Sieges über den Python ebenfalls mit Schlange und/oder Drache in Bezug gesetzt werden konnte. Hans-Josef Klauck, der Amslers Interpretation der Philippusakten aufgenommen hat, fasst zusammen: „Die Schlangenmutter ist Kybele, die ins Verderben geht; ihre Lieblingskatze und ihr Schoßtier bekennen sich zum Christentum. Apollo gilt mit seinen Schlangen und Drachen als erledigt. Was bei heidnischer Inkubation herauskommt, zeigt das Beispiel des Stachys, der wortwörtlich davon geblendet wird. Die verwaiste Arztpraxis in Hierapolis machen erst die christlichen Boten wieder auf, die wundersame Heilung bringen.“Footnote 35
Bereits der Text selbst könnte so im Sinne der Einleitung als „übertragener Erinnerungsort“ verstanden werden, der für das christliche Hierapolis zu einer Grunderzählung wird, die erklärt, wie die den Ort früher bestimmenden, als Leben zerstörend verstandenen Kulte von Kybele und (ihr folgend) Apollo der Macht des christlichen Gottes weichen mussten, dessen Anhänger nun auch die (für Hierapolis mit seinen heißen, mineralischen Quellen wichtige) Krankenpflege übernahmen. Dies jedoch ließ sich, soweit wir aus archäologischen Funden erkennen können, auch mit konkreten Orten in Hierapolis verbinden – zunächst dem bereits auf die Zeit vor der Stadtgründung im 3. Jh. v.Chr. zurückgehenden Plutonion, einem Eingang in die Unterwelt, von dem, wie Strabo (Geogr. 13,4,14) erwähnt, giftige Dämpfe ausgingen, die für jedes Lebewesen außer den Galli, den Eunuchenpriestern der Kybele, tödlich waren. Dieses lässt sich bis heute in unmittelbarer Nachbarschaft eines Apolloheiligtums lokalisieren.Footnote 36 Vor allem aber lässt sich ab der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert – ich zitiere wiederum Klauck – „etwas außerhalb der Stadt Hierapolis ein grandioses Martyrium des Philippus“ belegen, „als Oktogon mit eingeschriebener Kreuzform angelegt und im Quadrat umgeben von kleinen Räumen, die den nach Hilfe suchenden Pilgern als Schlaf- und Inkubationsräume dienten. Hier ist das Wort, das Heilung verspricht, förmlich zu Stein geworden.“Footnote 37
Was lässt sich aus diesen ersten Beispielen im Hinblick auf unsere grundlegende Frage sagen? Zunächst einmal wird bereits jetzt klar, dass eine Gleichsetzung der Begriffe „kanonisch“ und „autoritativ“ zu kurz greift: Allen genannten Schriften kommt (wenigstens in konkreten Kontexten) eine hohe Autorität zu, ohne dass sie deswegen kanonisch wären oder dies beanspruchen würden.Footnote 38 Ihre Rezeption von Schriften, die wir heute als kanonisch anerkennen, verläuft zudem auf sehr unterschiedlichen Weisen. Während die Akten des Paulus und der Thekla tatsächlich bei einer Lücke in der (später) kanonischen Apostelgeschichte – nämlich dem Besuch des Paulus in Iconium (Apg 13,52–14,5) – einsetzen, dann aber eine Erzählung bieten, die kaum einfach nur die Funktion hat, Lückenfüller zu bleiben, sondern mit Thekla eine ganz neue Figur der apostolischen Zeit einführt, ja „kreiert“, drängen – in einer Zeit, in der üblicherweise schon von einem etablierten Kanon des Neuen Testaments ausgegangen werden kann – die Akten des Barnabas eine Szene wie Apg 13,4–13 zugunsten der Erzählung einer identitätsstiftenden Missionierung Zyperns unter Barnabas an die Seite. Die Akten des Titus wiederum lassen sich wenigstens in ihren ersten Kapiteln als Epitome wichtiger Passagen der Apostelgeschichte lesen, in die jedoch Passagen der Paulusakten (und eventuell der Johannesakten) eingewoben werden, um eine Erzählung apostolischer Ursprünge zu kreieren, für die jedoch offenbar die Grenze des Kanons keine entscheidende Rolle spielt. Mit welchem Recht soll man Schriften wie diese als „apokryph“ bezeichnen? Zumindest in den Rezeptionskontexten, in denen sie uns begegneten, macht dieses Attribut wenig Sinn. Soll man deswegen das vor wenigen Jahren durch Francois Bovon in die Diskussion eingebrachte Attribut „useful for the soul“ – „wertvoll für die Seele“ (ψυχωϕελῆ) – heranziehen?Footnote 39 Ich würde dem nur zum Teil zustimmen: Wenn wir die Akten des Paulus und der Thekla und ihre Verwendung durch Egeria betrachten, dann scheint dieses Attribut (zumindest für Egeria) höchst sinnvoll zu sein. Doch ist es ausreichend im Zusammenhang mit Texten wie den Titusakten und den Barnabasakten Auch diese Texte mögen für antike Leser und Leserinnen durchaus erbaulichen Zwecken gedient haben, zumindest die Titusakten dürften, ähnlich wie wir das für Egerias Besuch in Seleucia erfahren, beim Besuch der Kathedrale von Gortys gelesen, vielleicht auch einzelne Szenen aus ihnen erzählt worden sein. Und trotzdem sind diese Schriften in ihrer Bedeutung für die Identitätsbildung konkreter, regionaler Kirchen so wichtig, dass man geneigt ist, dem vereinzelt in byzantinischen Manuskripten belegten „wertvoll für die Seele“ das (heutige) Attribut „wertvoll für die Kirche“ bzw. „wertvoll für eine Kirche“ hinzuzufügen.Footnote 40
2. Palästina
Ita sanctam Scripturam lucidius intuebitur, qui Judaeam oculis contemplatus est, et antiquarum urbium memorias, locorumque vel eadem vocabula, vel mutata cognoverit. (Hieronymus, Praef. in Lib. Paralip. (PL 29,401))
Mein zweites Beispiel wiederum dreht die Perspektive um: In den Mittelpunkt gestellt sei nun eine „Erinnerungslandschaft“ aus konkret benennbaren realen Orten, welche sich mit Texten und damit verbundenen Riten in Bezug setzen lässt. Ich wähle in diesem Zusammenhang das sicherlich am besten bekannte (und gleichzeitig auch am besten belegte) Beispiel, „Jerusalem und Palästina“, aus, muss mich dabei natürlich auf einige wenige Beispiele konzentrieren und verweise gleichzeitig darauf, dass bereits für die Antike auch andere ausgezeichnete Beispiele wie etwa Rom,Footnote 41 aber auch das sich Schritt für Schritt entwickelnde Itinerar der Heiligen Familie in ÄgyptenFootnote 42 spannend wären.
Erneut ist ein Blick in das bereits erwähnte Itinerar der Egeria in hohem Maße lohnend. Der in seinem Beginn nur fragmentarisch erhaltene Text setzt mit den Worten „zeigte man uns gemäß der Schriften“ (ostendibantur iuxta scripturas) ein. Damit ist ein für den Text höchst bedeutsames Motiv angesprochen: Egeria durchwandert Palästina, aber auch Teile Ägyptens, Syriens und Kleinasiens anhand der Schrift – oder präziser: mit der Schrift in der Hand. Ihr Interesse gilt – man könnte sagen, einzig und allein – Orten, die sich mit Szenen der Schrift verbinden lassen. Dieses Interesse bestimmt ihren Bericht so sehr, dass sie nur zu sehen scheint bzw. uns als Leser nur sehen lässt, was für das Anliegen bedeutsam ist, Orte, die mit der Schrift in Bezug stehen, zu beschreiben: Diese jedoch beschreibt sie häufig in einer Dichte, dass dem Leser die von ihr besuchten Orte geradezu „vor Augen geführt“ werden;Footnote 43 dabei ist der Fokus des Dargestellten immer auf dem als „heilig“ erfahrenen Ort bzw. Gegenstand, darüber hinaus begegnen kaum „Illustrationen“ ihrer „berichteten“ bzw. „erzählten Welt“.Footnote 44 Gleicherweise wird sie aufgrund ihrer Beschreibungen zur entscheidenden Quelle für die mit konkreten Orten verbundenen Liturgien Jerusalems.Footnote 45 An den Orten, die sie besucht, ist es ihr – ähnlich vielen Pilgern unserer Zeit – wichtig, die entsprechende Schriftpassage zu lesen und dabei zu beten bzw. an ausführlicheren, mit dem Ort verbundenen Liturgien teilzunehmen. Für unsere Frage besonders interessant ist dabei einerseits das Zueinander von – hier – der Lektüre eines schriftlichen Texts, die manchmal (wie z.B. im Palast des Abgar von Edessa, Itin. Eg. 19) durch Erzählungen ergänzt werden kann, Gebet bzw. liturgischer Handlung und realem Ort. Aspekte des Berührens dieses realen Orts treten bei Egeria, anders als etwa beim Pilger von Piacenza, zurück.Footnote 46 Andererseits spielen auch für sie, die an Büchern interessierte Intellektuelle, die Grenzen des Kanons in den von ihr besuchten Erinnerungslandschaften keine ganz entscheidende Rolle: Wie wir bereits gesehen haben, kann sie in Seleucia auch die Akten der Thekla heranziehen, Ähnliches finden wir in Edessa, wo sie am Martyrium des Thomas aus den Schriften des Apostels liest (19,2) sowie den Palast König Abgars besucht, sich eine Version der Abgar-Legende erzählen lässt (Itin. Eg. 19,6–14) und schließlich den (apokryphen) Briefwechsel zwischen König Abgar und Jesus kopiert (Itin. Eg. 19,19).
Das hier skizzierte Zueinander von schriftlich niedergelegtem Text, Erzählung, ritueller Handlung und realem Ort ist bei unterschiedlichen Zeugnissen differenziert zu beurteilen. Auch das Verhältnis zwischen Kanon und Konstruktion der Erinnerungslandschaft ist in verschiedenen Zeugnissen unterschiedlich zu bestimmen. In seinem Epitaphium Sanctae Paulae (Epistula 108 ad Eustochium), der Vita seiner langjährigen spirituellen Freundin, beschreibt Hieronymus um das Jahr 404, also kurz nach dem Tod Paulas, eine Pilgerreise Paulas in das Heilige Land. Die Perspektive der Erzählung ist natürlich eine andere als im Falle der Egeria, Hieronymus blickt auf ein Ereignis zurück, das beinahe zwanzig Jahre zurückliegt, und kann die Reise so nicht als „Ich-Erzähler“ schildern. Anders als bei Egeria spielen in der von ihm konstruierten Erinnerungslandschaft apokryphe Schriften keine Rolle. Stattdessen werden an verschiedenen Orten exegetische Traditionen reflektiert (z.B. in der Erwähnung von Jes 1,3 in Betlehem in Epit. 10,2) oder spiegeln sich Texte anderer altkirchlicher Autoren (z.B. bei der Beschreibung einer Vision der Paula beim Besuch der Gräber von Elisha und Obadja; Epit. 13,4–5)Footnote 47 . Doch auch die von Hieronymus konstruierte Topographie ist nicht alleine vom biblischen Kanon bestimmt, als Hochgebildeter lässt er auch Aspekte der Bildungstraditionen seiner Zeit einfließen.Footnote 48 So schreibt er etwa in Kapitel 7: „Zwischen Scylla und Charibdis hindurch vertraute sie [Paula] sich dem Adriatischen Meere an und gelangte, als ob es über ein stilles Wasser ginge, nach Methone, wo sie ihrem Körper etwas Ruhe gönnte und von ihrer Salzflut triefend den Leib am Gestade hinstreckte. Längs der Kykladen, verstreut in die See, Cythere, Malea und die Sunde vorbei, wildtosend an häufigen Landen, erblickte sie nach Rhodos und Lycia endlich Cypern.“Footnote 49 Mit anderen Worten: Die Straße von Messina ist hier mit Scylla und Charibdis aus dem 12. Gesang der Odyssee identifiziert, im Weiteren folgt eine Komposition zweier Zitate aus der Aeneis (1,173 und 3,124–7).Footnote 50
Auch wenn sich ausführliche Pilgerberichte erst aus der Zeit nach der konstantinischen Wende fassen lassen, bin ich davon überzeugt, dass die Wurzeln der Kreation mit biblischen Szenen verbindbarer „Erinnerungsorte“ im Heiligen Land deutlich vor die Zeit Egerias oder Paulas zurückreichen,Footnote 51 auch wenn ein systematisches Interesse, wie es sich im Onomastikon des Eusebius von Caesarea zeigt, nicht nachweisbar ist.Footnote 52 Doch bereits Origenes (Cels. 1,51) bezeugt um die Mitte des 3. Jahrhunderts eine Höhle der Geburt Jesu in Betlehem; eventuell noch älter ist das parallele Zeugnis in Protevangelium Jacobi 18,1; 19,2; vgl. aber auch Justin, Dial. 78,5). Origenes selbst schien in Einzelfällen die Bedeutung realer Orte für so hoch einzuschätzen, dass er, um reale Orte und biblischen Text miteinander in Einklang zu bringen, Eingriffe in den biblischen Text vornahm: Ein schönes Beispiel dafür zeigt sich etwa in der Lesart „Betabara auf der anderen Seite des Jordan“ (statt „Betanien auf der anderen Seite des Jordan“) in Joh 1,28, die er in seinem Kommentar zum Johannesevangelium als ursprünglich einschätzt (Comm in Joh. 6,204).Footnote 53
Eine Konzentration auf die Heilige Schrift als Begleiter durch die „Erinnerungslandschaft“, welche sich auf dem Pilgerweg zu den Heiligen Stätten Palästinas ergibt (und welche über die Schriften ins Gedächtnis des Westens „transportiert“ wird), und damit verbunden, eine Konzentration auf den Kanon als konstitutiv, wie sie bei Hieronymus und (mit Abstrichen) Egeria erkennbar ist, spielt in anderen Pilgerschriften der Spätantike jedoch eine deutlich geringere Rolle. Ich kann in diesem Zusammenhang nur zwei Beispiele erwähnen, in denen Ortstraditionen vorgestellt werden, ohne zu reflektieren, ob diese sich an kanonische oder an nicht-kanonische Schriften anlehnen:
(1) Das Itinerarium des Pilgers von Bordeaux (Itin. Burdig.; etwa 333–4 n.Chr.) beschreibt in seinem 18. Kapitel den Ölberg. Der Pilger schreibt: „Von da aus steigst du auf den Ölberg, wo der Herr vor der Passion die Apostel lehrte. Dort ist auf den Befehl Konstantins eine Basilika errichtet worden. Nicht weit davon entfernt ist ein kleiner Hügel, auf den der Herr stieg, um zu beten: Da erschienen Mose und Elija, als er Petrus und Johannes bei sich hatte.“Footnote 54 Während die erste Information sich klar mit einem kanonischen Text, nämlich Mk 13,3–37 par., verbinden lässt, und auf einen Ort verweist, der (zudem als Ort der Himmelfahrt) durch die Errichtung der im Jahr 325 begonnenen Eleona-Basilika Konstantins markiert wurde,Footnote 55 ist die zweite zumindest auf den ersten Blick mysteriös, ist doch die hier sicherlich angesprochene Verklärung in der synoptischen Tradition (vgl. Mk 9,2–8 par.) in Galiläa angesiedelt. Trotzdem muss der Pilger hier nicht notwendigerweise einem Irrtum unterliegen,Footnote 56 da neben der synoptischen Verklärungstradition eine zweite existiert, die sich in der apokryphen Apokalypse des Petrus erhalten hat, wo Endzeitrede Jesu (Apk. Petr. 1–2) und Verklärung (15–17), allerdings offenbar in Anwesenheit aller Jünger, nicht nur verbunden, sondern beide auf dem Ölberg lokalisiert sind. Wenn man bedenkt, dass noch Sozomenos (h.e. 7,19,9) um die Mitte des 5. Jahrhunderts die liturgische Verlesung der Petrusapokalypse in einigen christlichen Gemeinden Palästinas am Karfreitag bezeugt,Footnote 57 dann wird die Möglichkeit einer Lokaltradition, die sich gegen das Zeugnis der Synoptiker auf einen „apokryph gewordenen“ Text beruft, durchaus wahrscheinlich.
(2) Knapp eineinhalb Jahrhunderte nach dem Pilger von Bordeaux ist die Reise des Pilgers von Piacenza, festgehalten im Antonini Placentini Itinerarium (Plac. Itin.; etwa 570 n.Chr.) einzuordnen. Anders als etwa bei Hieronymus oder Egeria liegt die Konzentration des Pilgers darauf, möglichst viele Reliquien vorzustellen, während gleichzeitig sein Interesse an konkreten biblischen Passagen zurücktritt. Zu den faszinierendsten Szenen seines Berichts gehört der folgende Abschnitt aus Kapitel 5, in dem er seinen Aufenthalt in Nazaret beschreibt:
Dann kamen wir zur Stadt Nazareth, in der es viele Wunderdinge gibt. Dort befindet sich in der Synagoge ein Blatt, auf das der Herr das ABC gesetzt hat. In derselben Synagoge ist auch ein Balken, auf dem er mit anderen Kindern saß. Dieser Balken wird von den Christen bewegt und hochgehoben, die Juden aber können ihn auf keine Weise bewegen; er lässt sich auch nicht hinaustragen. Das Haus der hl. Maria ist eine Basilika, und von ihren Kleidern gehen dort viele Wohltaten aus. In jener Stadt sind die hebräischen Frauen so reizend, wie unter den Hebräerinnen des Landes schönere nicht angetroffen werden. Sie sagen, die hl. Maria habe ihnen das verliehen; denn sie halten sich für ihre Verwandten. Und während die Hebräer die Christen sonst nicht mögen, sind sie voller Freundlichkeit.Footnote 58
Diese Passage, die vor Kurzem ausführlich auch von Steven J. Davis untersucht wurde,Footnote 59 ist in vielerlei Hinsicht hoch interessant: Zwar erzählt das Lukasevangelium von der Weisheit des zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41–52); davon, dass Jesus eine Schule in Nazaret besucht habe, hören wir jedoch erst in den Paidika, besser bekannt als Kindheitsevangelium des Thomas. Einen konkreten Verweis auf diese Schrift bietet der Pilger leider nicht, ihn interessieren jedoch zwei greifbare Objekte, das Blatt aus dem „Schulheft“ Jesu und der Balken mit den wunderbaren Eigenschaften. Vor allem das Blatt lässt sich mit den Paidika in Verbindung setzen, in denen Jesus immer wieder als Lernender und gleichzeitig seinen Lehrern überlegener Schüler begegnet (Kap. 14–15); besonders interessant ist etwa folgende Szene aus Kapitel 6:
Ein Lehrer namens Zachaeus … trat an Joseph heran und sagte ihm: „Du hast einen klugen Jungen. Er hat Verstand. Überlass ihn mir doch, damit er Lesen und Schreiben lernt! Ich werde ihm zusammen mit den Buchstaben (auch) alles (weitere) Wissen beibringen und alle älteren Menschen zu grüßen und sie zu achten wie (die eigenen) Großväter und Väter und die Gleichaltrigen freundlich zu behandeln …’Footnote 60
Spannend ist zudem nicht nur die (vielleicht für den heutigen Leser nahe liegende, vom Pilger jedoch mit keinem Wort berührte) Frage, wie sich die Tatsache erklären lässt, dass sich der Balken nur von Christen bewegen ließ, sondern (vor allem) auch die Beobachtung, dass sich die beiden Gegenstände offenbar in der Synagoge von Nazaret befinden. Will man nicht davon ausgehen, dass es sich hierbei um eine judenchristliche Synagoge gehandelt haben muss, so kann der Text als Zeugnis dafür gelesen werden, dass sich hier Juden explizit an der (sicherlich lukrativen) Kreation eines für Christen interessanten Erinnerungsortes beteiligt haben müssen. Will man dem Pilger Glauben schenken, scheinen sie ihren Versammlungsort nicht nur christlichen Pilgern geöffnet zu haben, sondern dort bewusst Objekte christlicher Verehrung ausgestellt, ja (wohl) kreiert zu haben. Während das Interesse an Nazaret selbst bereits über die kanonischen Evangelien vermittelt sein kann, lassen sich konkrete Objekte aber erst über die eben erwähnten Erzählungen der Paidika entwickeln. Dass der Pilger darüber hinaus die Frauen Nazarets, die sich als Verwandte Mariens ausgeben, für besonders „reizend“ hält, weil er in ihnen das Bild Mariens zu erkennen glaubt, ist ein besonders schönes Beispiel dafür, dass der Erinnerungsort Nazaret nicht nur aus (hier sicherlich erzähltem) Text und greifbaren Objekten bestand, sondern – zumindest aus der Sicht des Pilgers, die in seine Darstellung einfließt – lebte.
Dies sind nur zwei von mehreren Dutzend Beispielen, in denen spätantike Pilgerberichte ins Heilige Land von Orten berichten, an denen Ereignisse erinnert werden, die sich nicht mit den kanonischen Schriften vereinbaren oder in Bezug setzen lassen. Die rasant entstehende und sich dabei ausdifferenzierende Erinnerungslandschaft „Heiliges Land“ wird komplexer, als die Schriften des Neuen Testaments – v.a. Evangelien und Apostelgeschichte – dies erwarten lassen.
3. Fazit
Obwohl der gesteckte Rahmen es nur zugelassen hat, einige wenige Beispiele „anzureißen“, werden bereits jetzt Konturen deutlich, die ein erstes Fazit ermöglichen.Footnote 61
(1) Wie nicht anders zu erwarten, spielen kanonische Schriften für die Konstruktionen der hier vorgestellten „Erinnerungsorte“ bzw. „Erinnerungslandschaften“ des antiken Christentums in vielen Fällen eine wichtige Rolle. Manches Mal setzen sie den Ausgangspunkt, von dem ausgehend aufgrund von Spekulationen und schöpferischen Interpretationen neue Erzählungen geschaffen werden, die sich an konkrete reale oder auch „übertragene“ Orte anbinden lassen. In vielen Fällen stellt sich jedoch die Frage, ob kanonischen Texten diese Rolle zukommt, weil sie kanonisch sind – oder weil sie aus anderen Gründen Bedeutung gewinnen. Wie wir gesehen haben, wird in den Barnabasakten eine kanonische Szene um einer neuen Konstellation der Mission Zyperns willen zurückgedrängt, während in den Titusakten verschiedene Schriften, die sich auf apostolische Zeit beziehen – Apostelgeschichte und Akten des Paulus – kreativ ineinander verwoben werden, um die Basis der weiteren Erzählung zu bilden. In einem Text wie den Akten des Philippus und ihren Hierapolis-Traditionen schließlich treten kanonische Schriften fast vollkommen zurück. Auch bei den Pilgertexten zeigen sich unterschiedliche Zugänge. Verschiedene Autoren beschreiben die zum Teil gleichen Orte, konstruieren ihren Bezug zu kanonischen Schriften jedoch auf unterschiedliche Weise: Während Hieronymus die Kanongrenzen recht strikt achtet, jedoch gleichzeitig allgemein-antikes Bildungsgut – etwa aus Homer und Vergil – einfließen lässt, ist Egeria zwar laut eigener Aussage an der Lektüre der Heiligen Schrift interessiert, liest jedoch in gleicher Weise Apokryphen wie die Akten des Paulus und der Thekla, für andere Autoren wie den Pilger von Piacenza tritt die Differenzierung zwischen Kanon und außerkanonischen Erzählungen bzw. Schriften aufgrund ihres Interesses an greifbaren Hinterlassenschaften, Reliquien, fast vollkommen zurück. Immer wieder jedoch zeigt sich die Verbindung zwischen geschriebenen Texten, mündlicher Erzählung, (in vielen Fällen) greifbaren und mit den Sinnen erfassbaren Orten sowie häufig Ritualen als entscheidend. Eine solche Verbindung, in der neutestamentliche Erzählungen bzw. das Neue Testament bzw. auch die Bibel als Buch eine (jeweils unterschiedliche) Rolle gespielt haben mag, dürfte für viele antike Christusanhängerinnen und Christusanhänger eine wichtigere Rolle gespielt haben als die Idee eines Kanons.
(2) Gleichzeitig geraten einige unserer üblicherweise verwendeten Kategorien ins Schwimmen. Vor allem stellt sich in vielen der genannten Fälle die Frage, ob Schriften, die wie im genannten Sinne für die Konstruktion wenigstens regional akzeptierter christlicher Erinnerungslandschaften von Bedeutung waren (und sind), wirklich sinnvoll als „Apokryphen“ bezeichnet werden sollen. Selbst wenn man aus pragmatischen Gründen, z.B. für die Zusammenstellung von Quellensammlungen, dieses Attribut beibehalten möchte, ist doch deutlich zu machen, dass Texten wie den Genannten in konkreten historischen, aber auch kirchengeographischen Kontexten, manches Mal für spezifische Gruppen wie auch konkrete Lebenskontexte eine wichtige Funktion, ja eine hohe Autorität zukam. Gleichzeitig wird deutlich, dass der – mehr und mehr schwammig und unzureichend werdende – Begriff „apokryph“ nicht einfach an sich ein Gegenkonzept zu „Kanon“ darstellt, sondern dass sich verschiedene, heute als „apokryph“ eingeordnete, z.T. sich jedoch auch selbst als „apokryph“ bezeichnende Schriften sich in unterschiedliche Verhältnisse zu kanonischen bzw. heute als kanonisch anerkannten Schriften bzw. zum Kanon setzen. Die Suche nach neuen, z.T. bis in die Antike zurückreichenden Bezeichnungen, die den Begriff „apokryph“ aufbrechen können, kann hier weiterhelfen, um unser Kategoriendenken zu differenzieren. Noch vor wenigen Jahren hat François Bovon mit dem bereits auf die byzantinische Zeit zurückgehenden Begriff „wertvoll für die Seele“ einen wichtigen Schritt getan. Wie wir gesehen haben, kommt einigen heute als „apokryph“ verstandenen Schriften jedoch nicht nur die Funktion zu, der Erbauung kleiner Gruppen oder Einzelpersonen für sein (bzw. ihr) Seelenheil zu dienen, sie spielen eine wichtige Rolle in der Identitätskonstruktion ganzer Kirchen (bzw. Teilkirchen) – vielleicht könnte man diese Schriften auch als „wertvoll für die Kirche“ bzw. „wertvoll für eine Teilkirche“ beschreiben?
(3) Schließlich erlauben uns die wenigen, nur skizzenhaft vorgebrachten Beobachtungen den Schluss, vom antiken Christentum zumindest auch als einer „Religion der Erinnerungen“ – oder vielleicht der „präsent gemachten Erinnerungen“ – zu sprechen, in der Bücher, unter ihnen in besonderer Weise natürlich das Neue Testament, und mit ihnen verbundene Erzählungen natürlich eine wichtige Rolle spielen, aber nicht die einzige. Auch deswegen konnte das (nicht nur antike) Christentum auch Kreise erreichen, in denen Lesen und Schreiben keine oder kaum eine Rolle spielten und spielen konnten, und ihnen komplexe, z.T. auch gruppenspezifisch, historisch und regional zu differenzierende Strukturen von Glaubensidentität vermitteln. Dies hat letztendlich auch Auswirkungen auf das Verhältnis der Fächer, die wir vertreten: Wo wir Exegese des Neuen Testaments betreiben, beschäftigen wir uns mit der Auslegung eines Buches bzw. einer Büchersammlung (in ihren verschiedenen Kontexten), wenn wir uns jedoch für das frühe Christentum interessieren, genügt es m.E. nicht einfach nur, noch einige Bücher mehr zu untersuchen – wir müssen uns mit dem komplexen Zueinander von Schrift, gesprochenem Wort, Ort und Objekt,Footnote 62 Ritual und menschlicher Erfahrungswelt auseinandersetzen, das uns in den erhaltenen Quellen z.T. nur schemenhaft entgegentritt.