1. Zur Fragestellung
Die Frage nach dem Menschen im Neuen Testament war in der deutschsprachigen Exegese des 20. Jahrhunderts stark von Analysen zur paulinischen Anthropologie bestimmt. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Interpretation von Röm 7, mit der insbesondere Luthers Paulusverständnis zur Debatte stand.Footnote 1 In diesem Zusammenhang und darüber hinaus bot vor allem der anthropologische Interpretationsansatz von Rudolf Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testaments den Ausgangspunkt für die Analyse anthropologisch relevanter Paulustexte.Footnote 2 Abgesehen von einigen überblicksartigen SkizzenFootnote 3 blieb in Folge dessen die deutschsprachige Forschung zur neutestamentlichen Anthropologie stark auf Paulus fixiert. In der internationalen Forschung wurde diese Konzentration der Paulusinterpretation auf die Anthropologie im Zuge der „New perspective on Paul“ dagegen massiv in Frage gestellt.Footnote 4 Schon in einem Aufsatz von 1963 hatte Krister Stendahl gegenüber dem „introspective conscience of the west“ auf die paulinische Völkermission als Ursprungszusammenhang der paulinischen Rechtfertigungsaussagen hingewiesen.Footnote 5 Zwar hat sich die Debatte um die „New perspective on Paul“ inzwischen weiterentwickelt, und die anfängliche Frontstellung gegenüber einer angeblich ‚lutherischen’ Paulusinterpretation wurde weitgehend aufgegeben, aber das bedeutet nicht, dass anthropologische Themen weiter im Mittelpunkt der Paulusforschung stehen. Die Diskussion konzentriert sich heute eher auf den ‚apokalyptischen’ PaulusFootnote 6 und auf Israel im Rahmen der paulinischen Theologie.Footnote 7
Ich möchte im Folgenden den Versuch machen, diese stark auf Paulus zugespitzte Sicht auf die neutestamentliche Anthropologie in den Zusammenhang mit anderen Menschenbildern im Neuen Testament und seiner Umwelt zu stellen.Footnote 8 Meines Erachtens wird bei einem solchen Ansatz die Sicht des Paulus nicht verwässert, sondern ihre Eigenart tritt umso deutlicher hervor. Indem die paulinische Anthropologie nicht verabsolutiert, sondern im besten Sinne relativiert wird, können Relationen erfasst werden, in denen Paulus sein Menschenbild verankert. Es gründet im Glauben an den einen Gott Israels, der Welt und Menschen geschaffen und sein Volk aus allen Völkern erwählt hat. Es ist endzeitlich neu bestimmt durch das Jesus-Christus-Geschehen, in dem Gott allen Menschen neues Leben anbietet. Es erhält seine Konturen durch Ausrichtung an Grundimpulsen Jesu, die in österlicher Transformation in den frühen christlichen Gemeinden aufgenommen und weiterentwickelt wurden. In diesen drei Relationen liegt das strukturell Verbindende zwischen der paulinischen Anthropologie und anderen anthropologischen Ansätzen im Neuen Testament, auch wenn keiner von ihnen so konsequent theologisch reflektiert und sprachlich ausgestaltet worden ist wie der paulinische.
Eine solche dezidiert theologische Fragestellung gehört auch heute zu den Aufgaben biblischer Exegese, ohne dass dabei die religions-, kultur- und sozialgeschichtlichen Zusammenhänge übersehen werden, in denen die neutestamentlichen Texte stehen. Die Zuwendung unseres Fachs zu religionsgeschichtlichen Themen und Forschungsansätzen hat in jüngerer Zeit wieder stärker zur Kooperation mit den Altertumswissenschaften und den Kulturwissenschaften geführt. Solche Tendenzen müssen in die theologische Reflexion einbezogen werden, damit unser Fach davon ebenso profitieren kann wie die geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen.
Mein Interpretationsansatz soll im Folgenden zunächst am Jakobusbrief entfaltet werden. Der Jakobusbrief ist in der neueren Forschung aus seinem theologischen Schattendasein herausgetreten, vor allem aus dem paulinischen Schatten, der in der protestantischen Exegese die theologische Eigenart des Briefes lange Zeit überdeckt hat.Footnote 9 Die Anthropologie ist dabei bisher nur selten thematisiert worden, abgesehen von einer pauschalen Zuweisung des Briefes zur frühjüdischen Weisheit.Footnote 10 Dabei verdient das Menschenbild, das im Jakobusbrief entfaltet wird, besondere Beachtung. Es ist in frühjüdischen anthropologischen Vorstellungen verwurzelt und durch popularphilosophische Topoi der hellenistisch-römischen Welt beeinflusst.Footnote 11 Zugleich verweist aber der Brief durch die Verfasserzuschreibung im Präskript seine Leser in kanonischer Perspektive auf Jakobus, den Bruder Jesu, ob diese Verfasserschaft nun historisch wahrscheinlich ist oder nicht.Footnote 12 Schon von daher legt sich die Frage nahe, ob nicht auch das Menschenbild des Briefes im Glauben an Jesus Christus verankert ist, auch wenn diese christologisch-soteriologische Grundlage im Brief nicht näher entfaltet wird.Footnote 13
Damit ist die These der folgenden Ausführungen benannt: Jakobus bringt ein theologisch reflektiertes ‚christliches’ Menschenbild zur Sprache, das unabhängig von und eigenständig gegenüber Paulus entfaltet wird, aber aufgrund der gemeinsamen Verwurzelung im Jesus-Christus-Geschehen strukturelle Übereinstimmungen mit der paulinischen Anthropologie aufweist. Die Jakobus und Paulus gemeinsame Basis dieses Menschenbildes liegt im frühjüdischen Gottesverständnis. Reflektiert wird es jeweils in der Sprache und mit den geistigen Mitteln hellenistisch-römischer Popularphilosophie. Eine gemeinsame Zielrichtung beider besteht in der endzeitlichen Ausrichtung von Ethik und Anthropologie. Auch in der Bewertung der Existenz des Menschen als von Sünde beherrscht und erlösungsbedürftig lassen sich Strukturparallelen zwischen Paulus und Jakobus erkennen. Der Bezug auf Jesus bzw. das Christusgeschehen verbindet beide, wenngleich Paulus diesen Bezug ungleich stärker als Jakobus für seine theologischen Argumentationen fruchtbar macht.
Der wichtigste Unterschied liegt dort, wo Paulus ausdrücklich – bedingt durch Herausforderungen seiner Völkermission – die Differenz zwischen Israel und den Völkern angesichts des Christusgeschehens reflektiert und anthropologische Konsequenzen daraus zieht. Bei Jakobus ist das kein Thema, und folglich braucht er solche Konsequenzen auch nicht zu ziehen. Daraus darf aber kein Gegensatz zwischen Paulus und Jakobus abgeleitet werden. Vielmehr erweisen sich beide als reflektierte Theologen, die aus ihren im Frühjudentum verwurzelten theologischen Grundüberzeugungen und den für sie maßgeblichen Impulsen des Christusgeschehens die ihrer Überzeugung nach sachgemäßen anthropologischen Folgerungen gezogen haben.Footnote 14
Der skizzierten Fragestellung entsprechend werde ich im Folgenden nicht Jakobus von Paulus her interpretieren, sondern umgekehrt zuerst charakteristische Merkmale des Menschenbildes im Jakobusbrief herausarbeiten. Dazu werde ich zwei Textabschnitte des Briefes genauer analysieren (1,2–18; 3,13–18). Anschließend werde ich zum Vergleich zwei exemplarische Textzusammenhänge aus hellenistisch-jüdischer und römischer popularphilosophischer Ethik und Anthropologie heranziehen (Sapientia Salomonis und Epiktet). Am Ende werde ich in einem kurzen Blick auf Röm 7 einen klassischen Textzusammenhang paulinischer Anthropologie von hier aus in anderer Beleuchtung zu erfassen versuchen.
2. Das Menschenbild im Jakobusbrief
Für wenige neutestamentliche Textzusammenhänge ist das Modewort ‚Ganzheitlichkeit’ so geeignet wie für den Jakobusbrief.Footnote 15 Auf vielfältige Weise bringt der Brief gleich zu Beginn die Ganzheitlichkeit des Menschen in semantischen Gegensatzpaaren zum Ausdruck: Sie ist bestimmt von glauben und zweifeln (1,6), bitten und empfangen (1,5f.7), Niedrigkeit und Hoheit, Reichtum und Erniedrigung (1,9f.) und eben auch durch den Gegensatz zwischen den „vollkommenen und ganzheitlichen“ Adressaten (τέλειοι καὶ ὁλόκληροι, 1,4) und dem „zwei-seeligen Zweifler“ (διακρινόμενος, ἀνὴρ δίψυχος, 1,6.8). Eine Klimax des Glaubenslebens (1,2–4) führt aus Anfechtung über Erprobung und Ausdauer zum „vollkommenen Werk“ (ἔργον τέλειον) und zu „Ganzheitlichkeit“ (ὁλόκληροι). Ein Makarismus gilt dem „ganzen Mann“ (μακάριος ἀνήρ, 1,12),Footnote 16 der seine Anfechtung erträgt und am Ende den Siegerkranz des Lebens empfängt. Allerdings kann die Einsicht in seine Sündenverfallenheit und Hilflosigkeit angesichts der auf ihn einstürmenden Zweifel (1,6) und verlockenden und verstrickenden Begierden (1,14) diesem „ganzen Mann“ auch zu schaffen machen und ihn schließlich – wieder in einer Klimax – durch die von Begierden geschwängerte Sünde hindurch in den Tod hinein entbinden (ἡ δὲ ἁμαρτία ἀποτελεσθεῖσα ἀποκύει θάνατον, 1,15).
2.1. Exegese Jak 1,2–18
Auffällig zentral für das Menschenbild des JakobusbriefesFootnote 17 ist der Glaube (πίστις).Footnote 18 Er bildet die Mitte der Eingangsmahnung 1,2–4, definiert die gegenüber Gott geforderte Grundhaltung des Bittens anstelle des Zweifelns (1,6), ebenso die Haltung gegenüber dem Herrn Jesus Christus (2,1).Footnote 19 Dieser Glaube rückt aus der Perspektive der Erwählung durch Gott die Maßstäbe von arm und reich zurecht (2,5). Er prägt den Gedankengang des Briefes bis zum Schluss (5,15). Lange bevor im Jakobusbrief die Einheit von Glaube und Werken begründet wird, sind die theologischen, soteriologischen, christologischen und ethischen Koordinaten seines Glaubensverständnisses festgelegt. Dort, wo das soteriologische Zentrum des Briefes liegt (1,12–25),Footnote 20 ist nicht der Gegensatz von Glaube und Werken bestimmend, sondern die Haltung des Empfangens (1,12.21), Hörens und Tuns (1,22f.). In theozentrischer Ausrichtung wird denen, die Gott lieben, der Siegerkranz des Lebens verheißen (1,12), die gute Gabe Gottes versprochen, die von oben auf den Menschen herabkommt (1,17). Vom Wort der Wahrheit ist hier die Rede, durch das wir geboren wurden als Erstlingsgabe seiner Geschöpfe (1,18), vom eingepflanzten Wort, das Seelen retten kann (1,21), und davon, sich dauerhaft zu vertiefen in das vollkommene Gesetz der Freiheit, das zum Tun des Wortes allererst befähigt und zur Seligkeit führt (1,25). Glaube und Werke in ihrem Verhältnis zueinander (2,14–26) werden erst näher betrachtet, nachdem zuvor die Grundhaltung des Empfangens, der vollkommenen Passivität auf Seiten des Menschen bei der Heilszuwendung von Gott her klargestellt ist.Footnote 21
Die Aufforderung zur Glaubensfreude angesichts von allseits bedrängenden Versuchungen (1,2–4) und der Zuspruch des Lebenskranzes für diejenigen, die sie bestehen (1,12), bilden im Briefeingang eine inclusio. Thema und Wirkabsicht des Briefes werden hier vorab benannt in dem eschatologisch motivierten Aufruf, angesichts von gegenwärtigen Bedrängnissen zur Vollkommenheit des Glaubens und Lebens zu gelangen. Eingeklammert von dieser inclusio ist eine digressio, die aus zwei kleinen Texteinheiten besteht (VV. 5–8 und 9–11).Footnote 22 Zwei Fallbeispiele sollen den konstatierten Mangel näher bestimmen: als Mangel an Weisheit und falsche Bewertung des Reichtums.Footnote 23 Angesichts ihres mangelhaften Glaubens fordert der Autor die Adressaten zum Beten auf, zunächst indem er Gott als vorbehaltlosen Geber der Weisheit charakterisiert (V. 5), sodann indem er die rechte Weise des Betens bzw. die rechte Beschaffenheit des Beters beschreibt (VV. 6–8). Das Gebet um Weisheit im Glauben erhält die Zusage, dass dem Bittenden Weisheit gegeben wird (V. 5c). Dem entspricht antithetisch, dass dem Zweifelnden versagt wird, etwas von Gott zu empfangen, denn er ist ein „zwei-seeliger Mann“, ungeordnet auf allen seinen Wegen.Footnote 24 Deshalb bleibt dieser Mensch ein ‚Mangelwesen‘. Im zweiten Teil der digressio wird die falsche Bewertung des Reichtums in einem antithetisch aufgebauten Mahnspruch artikuliert (VV. 9f.) und durch ein Beispiel illustriert, das prophetische Motive des Aufblühens und Verdorrens aufgreift (V. 11). Der Mahnspruch ist von der semantischen Opposition ‚hoch‘ (bzw. ‚reich‘) vs. ‚niedrig‘ durchzogen. Der Akzent liegt auf der Ermahnung an den Reichen. Der die Texteinheit abschließende Mahnspruch V. 11fin unterstreicht (wieder mit prophetischen Motiven) den gleich gestalteten Satz aus V. 10, der ebenso an den Reichen gerichtet war. Die beiden Fallbeispiele sind strukturell und textgrammatisch eng miteinander verknüpft. Gott zu bitten und etwas von ihm zu empfangen, sind Haltungen, zu denen die Adressaten angesichts von Zweifel und Mangel an Weisheit aufgefordert werden.
In 1,13–18 wird die Frage nach dem Woher der Versuchungen gestellt und in einer anthropologisch-theologischen Reflexion beantwortet.Footnote 25 Ihre Ursache liegt nicht bei Gott, sondern im Innern des Menschen.Footnote 26 Der Mensch ist von Begierde und Sünde bestimmt, was ihm den Tod einbringt. Von Gott, und das heißt: von außen und oben, kommt dagegen das rettende Wort der Wahrheit, das in einer Art Neuschöpfung vom Menschen empfangen wird.Footnote 27 V. 13 greift das Eingangsthema der Versuchungen wieder auf,Footnote 28 wendet den Blick nun aber von den äußeren Haltungen der Versuchten hin zu den inneren Ursachen ihrer Versuchungen. Ab V. 14 ist der Trieb, die ἐπιθυμία, Handlungssubjekt.Footnote 29 Es steht in semantischer Opposition zu Gott, der mit den Versuchungen nichts zu tun hat.Footnote 30 Wenn der Trieb in V. 14 als ἡ ἰδία ἐπιθυμία bezeichnet wird, dann wird die Geschichte von Begierde, Sünde und Tod, die ab V. 15 die Aussagen bestimmt, nicht nur auf den Menschen bezogen, sondern zugleich in sein Inneres verlegt.Footnote 31 In ihm spielen sich dramatische Ereignisse ab, geradezu ein kleiner Roman: Die Begierde (femininum) verlockt, ködert, ja, verführt den Menschen (ἐξελκόμενος καὶ δελεαζόμενος). Er hat nichts mehr zu sagen, wenn die Begierde, so verführend verführt, selbst schwanger wird (συλλαβοῦσα) und die Sünde (femininum) austrägt (τίκτει), bis schließlich die Sünde den Tod (masculinum) gebiert (ἀποκύει).Footnote 32 Der Subjektwechsel in V. 15 markiert also einen ‚Herrschaftswechsel’ im Innern des Menschen. Trieb und Sünde werden ihm, der als Person nicht mehr selbständig agieren kann, zum Todesverhängnis.Footnote 33 Im Innern des Menschen (des Mannes, vgl. VV. 5.8.12!) herrscht zwar reges Treiben, aber nicht mehr er selbst! Wenn zuvor vom δίψυχος (V. 8)Footnote 34 und vom μακάριος ἀνήρ (V. 12) die Rede war, so ist nunmehr klar, um welchen dieser beiden ‚ganzen Männer‘ es geht, um den ganz und gar ungefestigten, unordentlichen Mann.Footnote 35
Zu einem Perspektivwechsel werden die Leser in V. 16 aufgefordert:Footnote 36 Im Blick ist nicht mehr die im Innern des Menschen regierende Begierde, sondern der Blick soll sich jetzt nach außen und oben richten, auf den „Vater der Lichter“ (V. 17). Er ist vor allem Geber jeglicher guter Gabe, Schöpfer und Ordner des Kosmos und greift von oben und außen in das Innere des Menschen ein. Dabei wird die Metaphorik der Prokreation beibehalten und Gott selbst als „Gebärender“ charakterisiert: „Er hatte den Willen, uns zur Welt zu bringen (βουληθεὶς ἀπεκύησεν ἡμᾶς) durch ein Wort der Wahrheit, damit wir so etwas wie eine Erstlingsgabe von seinen Geschöpfen seien“ (V. 18).Footnote 37
Damit ist offenkundig der Heilswille und das Heilswirken Gottes am Menschen benannt, also ‚Soteriologie‘.Footnote 38 Ebenso deutlich ist, dass dieses Heilsgeschehen zwar vom Schöpfer der Welt und der Menschen ausgeht, aber der Schöpfungsvorgang nicht lediglich nacherzählt wird. Vielmehr geht es um das Neugeschaffenwerden des Menschen durch ein Wort der Wahrheit mit endzeitlicher Orientierung,Footnote 39 also um ein eschatologisches Geschehen, das freilich im Aorist ausgedrückt wird, somit bereits geschehen ist.Footnote 40 Wo anders als in frühchristlichen Texten gibt es so strukturierte, endzeitlich ausgerichtete Heilsaussagen?Footnote 41 In Jak 1,18 wird somit das bereits geschehene Rettungshandeln Gottes in Jesus Christus thematisiert. Freilich kann der Verfasser dieses endzeitliche Handeln Gottes zur Sprache bringen, ohne (hier) explizit auf Christus zu verweisen.Footnote 42 Das muss auch theologisch ernst genommen werden.Footnote 43
Der Abschnitt 1,19–27 zieht die paränetischen Folgerungen aus dem Heilsgeschehen. Imperative bestimmen jetzt die Aussagen, der Gegensatz bzw. Zusammenhang von Tun und Hören, die Mahnung, alles Schlechte abzulegen, die Aufforderung, als „Täter des Worts“ das empfangene, eingepflanzte Wort, das Seelen retten kann, im täglichen Leben wirksam werden zu lassen.Footnote 44 Eine Toraparänese (VV. 23–5), die in einen weiteren Makarismus mündet, beschließt mit Skizzen des „Hörers“ und des „Täters“ den Briefeingang und unterstreicht dessen Hauptintention: Wer von Gott das heilsame Wort empfangen hat, der kann auch künftig Versuchungen ertragen und Gottes Willen im Glauben erfüllen. Konkretisiert wird das mit Mahnungen zum rechten Sozialverhalten (VV. 26f.).Footnote 45
Als anthropologisches Hauptproblem in Jak 1,2–18 ergibt sich damit der Mangel an Glaube und Weisheit, der zu Anfechtung, Unordnung und Fremdherrschaft im Menschen und, als Resultat dessen, zum Widerspruch zwischen seinen Worten und Taten führt. Als Lösung verweist der Autor auf das Gebet um Weisheit, umfassender auf die Grundhaltung des Bittens und Empfangens, die sich selbst nichts, Gott aber, dem Geber guter Gaben, alles zutraut.
2.2. Exegese Jak 3,13–18
Die kleine Texteinheit Jak 3,13–18 greift das im Prolog angeschnittene Stichwort Weisheit (1,5) auf.Footnote 46 Will man im Briefkorpus einen confirmatio-Teil (1,19–3,12) von einem confutatio-Teil (3,13–5,6) unterscheiden, dann leitet der Abschnitt die confutatio ein und hat damit eine ähnliche Funktion wie die propositio (1,19–27) gegenüber der confirmatio.Footnote 47 Ihm kommt damit besonderes Gewicht im Brief zu. Mit dem näheren und ferneren Kontext ist er durch Stichwortbezüge verknüpft. Besonders eng ist die Verbindung zu 2,14–26 und über diesen Abschnitt hinaus auch zur Grundthese in 1,2–4.Footnote 48 Das Wortfeld ἀλήθεια, ἄνωθεν κατερχομένη, ἀγαθός weist auf die propositio zurück. Auch zum unmittelbaren Kontext in 3,1–12 finden sich Stichwortbezüge.Footnote 49 Diese enge Einbindung in den näheren und ferneren Kontext ist bei der Interpretation im Blick zu behalten.
Der Aufbau des Abschnitts ist bestimmt vom Gegensatz ‚oben‘ vs. ‚unten‘ (V. 15: ἡ σοφία ἄνωθεν – [ἡ σοφία] ἐπίγειος). Ihm entspricht die Gegenüberstellung von positiven und negativen Verhaltensweisen der Adressaten in VV. 13f. Die beiden Arten von WeisheitFootnote 50 werden durch je einen kleinen Katalog näher beschrieben.Footnote 51 Der Abschnitt mündet in eine feierliche, durch wertbestimmte Substantive getragene,Footnote 52 vom passivum divinum regierte Aussage: „Frucht der Gerechtigkeit in Frieden ist denen gesät (σπείρεται), die Frieden schaffen“ (V. 18). Die textgrammatische und semantische Analyse zeigt: Weisheit wird definiert und in ihrem Wert bestimmt durch menschliche Verhaltensweisen, gute Werke (V. 13), bzw. durch ihr Fehlen.Footnote 53 Mangel an Weisheit ist erkennbar an negativem Verhalten, ihr Vorhandensein an positivem. Dennoch wird Weisheit nicht einfach mit dem Tun des Menschen identifiziert oder gar durch es bewirkt. Sie ist und bleibt vielmehr Gabe Gottes. Mangel an Weisheit führt nicht bloß zu ethisch verfehltem Handeln, sondern entzieht jeder Lebensordnung den Boden und liefert den Menschen widergöttlichen Mächten aus.Footnote 54 Wem Weisheit fehlt, der muss (und darf!) sie im Glauben „von oben“ erbitten.Footnote 55
Wie im Prolog so diagnostiziert der Jakobusbrief auch in 3,13–18 das Fehlen bzw. Vorhandensein von Weisheit an den Gemeindeverhältnissen, vor allem an Streitigkeiten in ihr. Wenn es in der Gemeinde Entzweiung gibt, widerspricht das der Einheit/Ungespaltenheit Gottes.Footnote 56 Die Weisheitsaussagen des Briefes stehen damit unmittelbar im Zusammenhang mit seiner Aussageabsicht. Weisheit wird durch die Elemente ‚Gabe Gottes‘ und ‚Tun der Glaubenden‘ semantisch näher bestimmt.Footnote 57 Zu diesem eng auf die Adressatensituation bezogenen Sinnzusammenhang tritt mit der Gegenüberstellung ἄνωθεν – ἐπίγειος ein umfassender, kosmischer Horizont der Weisheit hinzu. In dem die Texteinheit abschließenden Satz werden diese beiden Sinnzusammenhänge in einem eschatologischen Ausblick zusammengeführt: Dem Frieden schaffenden Tun der Gemeinde entspricht ihr durch Gott bewirktes künftiges Ergehen.Footnote 58 Weisheit, wie sie im Jakobusbrief vor Augen tritt, ist nicht bloß Maßstab und Antrieb, sondern Ursprung und Quelle menschlichen Tuns. Sie kommt „von oben“, als gute Gabe Gottes, und ermöglicht so erst das Tun des Gerechten. Der Jakobusbrief predigt nicht ‚Werkgerechtigkeit‘, sondern verspricht „Frucht der Gerechtigkeit“ als Geschenk an die, die sich dem Frieden zuwenden, den Gott ihnen schenkt.
Während in 1,13–18 das Menschenbild von dem semantischen Gegensatz ‚innen‘ – ‚außen‘ geprägt war, ist für 3,13–18 eher die Opposition ‚oben‘ – ‚unten‘ charakteristisch. Verbunden sind beide Abschnitte aber durch den Grundgedanken, dass die Fähigkeit des Menschen zum Tun des Guten darauf beruht, dass Gott auf seine Willensentscheidungen Einfluss nimmt und ihn zum rechten, dem Willen Gottes entsprechenden Handeln führt.
3. Gotteserkenntnis und rechtes Tun in der Sapientia Salomonis und bei Epiktet
Im folgenden Abschnitt möchte ich die Frage nach dem Menschen in seinen ethischen Entscheidungen, wie sie im Jakobusbrief erkennbar geworden ist, in Beziehung bringen mit zwei zeitgenössischen Konzeptionen. Die methodischen Schwierigkeiten eines solchen Vergleichs sind mir bewusst.Footnote 59 Sie sind nicht zuletzt in der Kürze des Jakobusbriefes begründet, bei dessen ethischen und anthropologischen Argumentationen weit mehr an Argumenten vorausgesetzt werden muss, als im Text explizit entfaltet und begründet wird. Es geht mir aber nicht um die Rekonstruktion von einzelnen Argumentationen im Jakobusbrief oder um ihre genealogische Ableitung aus frühjüdischen oder paganen Konzeptionen. Vielmehr sollen die anthropologischen Aussagen des Briefes lediglich in Relation zu frühjüdischen und popularphilosophischen Texten gestellt werden, um sie in wechselseitiger Wahrnehmung genauer erfassen und interpretieren zu können.Footnote 60
3.1. Die Bitte um Weisheit in der Sapientia Salomonis
Für die Weisheit, die von Gott kommt und von ihm erbeten sein will, steht im Frühjudentum exemplarisch König Salomo. Die Sapientia Salomonis vergegenwärtigt ihn als Mahnredner für die Herrscher der Welt und Modell eines in Gott gegründeten, durch die Tora geführten Lebenswandels. Sprachgestalt, Darstellungsmotive und popularphilosophische Topoi der Schrift belegen, wie im Judentum in hellenistisch-römischer Zeit biblische Vorgaben mit den intellektuellen Mitteln der Zeit und Umwelt aktualisiert und transformiert werden konnten.Footnote 61
So wenig wie in der Sapientia der Name Salomo genannt zu werden braucht, um den Lesern dessen Rolle als König Israels und Beter um Weisheit in Erinnerung zu rufen (vgl. 1Kön 3,5–15), so wenig brauchen auch die Leser des Jakobusbriefes im Text den Namen Jesus zu lesen, um in den Mahnungen des Briefes die Stimme ihres Herrn zu vernehmen. Und so wie in der Sapientia das Mosegesetz weitgehend ‚verschwiegen‘ wird, und doch praktisch in jedem Satz mitschwingt, so wird auch im Jakobusbrief die endzeitliche Rettung durch Christus weitgehend ‚verschwiegen‘, und ist doch im Hintergrund seiner Aussagen allgegenwärtig. Daher kann es für die Interpretation des Jakobusbriefes hilfreich sein zu sehen, wie nach der Sapientia der Mensch zu sachgemäßen Lebensentscheidungen und Glaubenseinsichten kommt. Als alternative Konzeption dazu wird sich das Streben nach rechter Lebenshaltung und Lebensführung bei Epiktet erweisen.
- Sap 1,1–15
In seiner ersten Rede an seine Herrscherkollegen verankert König Salomo seine Mahnungen in seinen theologischen Grundüberzeugungen: Gott hat das All geschaffen, hält es zusammen und sucht es heim mit seiner überführenden Gerechtigkeit (1,7–10.14). Den Tod dagegen hat er nicht geschaffen und auch nicht gewollt. Er kam durch den Neid des Teufels in die Welt:Footnote 62
Die Menschen ziehen sich den Tod zu (1,12.16), wenn sie den Plänen der Gottlosen folgen und gegen das Gesetz verstoßen, was dem „eifersüchtigen Ohr“ Gottes nicht verborgen bleibt (1,9f.). Gegen solches „Gift des Verderbens“ gibt es nur ein Mittel: Gerechtigkeit, die unsterblich ist und zur Unsterblichkeit führt. Denn „er schuf ja zum Sein alles, und auf Heil hin angelegt sind die Geschöpfe der Welt“.Footnote 64
Als Gegenmodell stellt König Salomo die Gottlosen vor Augen (2,1–20). Mit Motiven antiepikuräischer Polemik, wie sie auch in der zeitgenössischen stoisch oder platonisch gefärbten Popularethik begegnen,Footnote 65 schildert er ihren hedonistischen Lebensstil (2,6–9), der in einer defätistischen, rein innerweltlichen Selbst- und Lebenseinschätzung wurzelt:
Eine solche a-soziale Lebenseinstellung führt auch zu a-sozialem Verhalten, das sich in der Unterdrückung der Bedürftigen und der Misshandlung des Gerechten niederschlägt (2,10–20). Entgegen der Erwartung der Gottlosen wird aber Gottes Gericht über alle kommen, die Gottlosen wie die Gerechten (3,1–4,20):
Maßgeblich für die Sapientia ist die Intention, zu einer Lebenshaltung nach dem Willen Gottes zu ermahnen, was die Verwendung philosophischer Motive und Argumente nicht ausschließt. Das religiöse Anliegen der schroffen Gegenüberstellung von Gerechten und Gottlosen ist geleitet durch die Glaubensperspektive des Autors, durch seinen Verweis auf „Gottes Hand“, in der die Seelen der Gerechten ruhen (3,1), und auf die „Unsterblichkeit“, auf die sie ihre Hoffnung setzen (3,4), damit letztlich auf Gottes Willen, dem sie in ihrem Lebenswandel treu bleiben sollen (3,9).
- Sap 6,15–21; 7,7–15
In seiner zweiten Mahnrede (6,1–21) unterstellt Salomo die Herrscher der Völker Gottes Gericht, weil sie, obwohl „Diener seiner Königsherrschaft“, nicht recht gerichtet und das Gesetz nicht bewahrt haben.Footnote 68 Dennoch lädt er sie ein, seinen Ermahnungen zu folgen und sich der Weisheit zuzuwenden. Die ‚Dame Sophia‘ lässt sich gern betrachten von denen, die sie lieben, und von denen finden, die nach ihr suchen (6,12). In einer Klimax beschreibt Salomo seinen Weg mit der Weisheit, der ihn zu rechter Königsherrschaft geführt hat:
Das Verlangen (ἐπιθυμία) nach Weisheit wird hier positiv bewertet und dem Menschen auch zugetraut. Es wird verknüpft mit der Einhaltung „ihrer Gesetze“ (τήρησις νόμων αὐτῆς) und der Aussicht auf Unvergänglichkeit (ἀφθαρσία). Ziel aller Bemühung um Weisheit ist Nähe zu Gott (ἐγγὺς εἶναι θεοῦ), die irgendwo ‚oben‘ zu suchen ist (ἀνάγει).
Anschließend preist Salomo die Weisheit als Ursprung und Basis für jede verständige und erfolgreiche Königsherrschaft (6,22–8,18). Darin war er selbst vorbildlich, dass er von Gott Weisheit erbeten und sie allem irdischen Wohlstand vorgezogen hat (7,7f.). Zum Lohn dafür fielen ihm mit der Weisheit auch alle übrigen Güter zu (7,11). So wurde er zum Modellfall dafür, dass von Weisheit geleitete Menschen zu „Freunden Gottes“ erhoben werden, die nach dem Grundsatz der amicitia von Gott auch Freundschaftsgeschenke empfangen können.Footnote 70 Die erste und wichtigste Erkenntnis Salomos besteht also darin, dass Weisheit eine Gabe Gottes ist und jede „Erkenntnis der seienden Dinge“Footnote 71 von ihm kommt:
Zweifellos schwingen in solchen Formulierungen auch popularphilosophische Konzeptionen mit.Footnote 73 Zugleich ist jedoch der Aussagezusammenhang durchsetzt mit Motiven aus biblischen und frühjüdischen Schöpfungstexten: Gott liebt die Weisheit, die schöner ist als die Sonne und strahlender als jedes Licht (7,29); sie „erstreckt sich von Ende zu Ende voller Kraft“ und „(verwaltet) das All in guter Weise“.Footnote 74 Ebenso zahlreich sind aber Begriffe, Motive und Argumente aus dem Fundus hellenistisch-römischer popularphilosophischer Bildung.Footnote 75 Biblisch begründetes Gottesverständnis, aus der Tora abgeleitete Lebensmaximen und auf das Endgericht ausgerichtete Zukunftserwartungen bestimmen – bei allen philosophischen Einschlägen – die theologische Grundorientierung der Schrift.
- Sap 14,22–15,3
Im Zusammenhang mit dem Exkurs über den Götzendienst (12,23–15,9) kommt die Sapientia auch auf den Zusammenhang von rechtem Tun und rechter Gotteserkenntnis zu sprechen. Leitwort ist hier der Grundsatz:
Dass verfehlte Gotteserkenntnis zu verfehlter Ethik führt, wird zunächst grundsätzlich gesagt:
Dann wird dieser Gedanke in einem Lasterkatalog entfaltet (14,23–26). Der Grundsatz wird in V. 27 wieder aufgegriffenFootnote 78 und der Lasterkatalog mit einer Gerichtsankündigung abgeschlossen.Footnote 79 Am Ende steht ein Gebet zum gütigen Gott, der „in Erbarmen das All durchwaltet“ (15,1–3). Sündenerkenntnis und Vertrauen auf Gott führen so zur Erkenntnis seiner Gerechtigkeit, und Gottes Stärke zu erkennen ist Wurzel der Unsterblichkeit.
In der Sapientia ist die von Menschen geforderte Gerechtigkeit begründet in Gott, dem Schöpfer, von dem sie als Kraftquelle und Maßstab ethischen Verhaltens erbeten und als gute Gabe empfangen werden will. Rechte Gotteserkenntnis richtet sich auf den einen Gott Israels und Schöpfer der Welt, der in seiner Tora dem Menschen Weisungen erteilt hat, die ihn zu einem ‚ganzen‘, erfüllten, vollendeten Leben führen. Dass das jüdische Gesetz in der Sapientia in Gestalt der ‚Frau Weisheit‘ daher kommt, macht die hier vertretene Ethik nur umso attraktiver. Unter ihrem Gewand verbirgt sich, wie die zahlreichen Bezüge ihrer ethischen Forderungen zur frühjüdischen Toraparänese und die massive Polemik gegen nichtjüdische Religion erkennen lassen, für einen jüdischen Leser erkennbar die Tora.Footnote 80
3.2. Der Ursprung sittlichen Handelns nach Epiktet
Wenden wir uns nun mit der Frage nach dem Ursprung sittlichen Handelns und der Verhältnisbestimmung zwischen inneren Regungen im Menschen und dem Einwirken Gottes auf ihn einer charakteristischen Stimme aus der zeitgenössischen Popularphilosophie zu. Dass Religion und Philosophie für kaiserzeitliche Autoren zusammengehören und die Frage nach Gott bei ihren Reflexionen um den Ursprung ethischer Entscheidungen nicht ausgeblendet wird, haben Untersuchungen zur stoischen und mittelplatonischen Philosophie gezeigt.Footnote 81 Als Beispiel wähle ich eine der von Arrian aufgezeichneten Diatriben Epiktets: „Wie man gegen seine Vorstellungen ankämpfen muss“ (Diss. ii 18).Footnote 82 Als römischer Autor der zweiten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. kann Epiktet in unserem Zusammenhang exemplarisch für die Ausprägung hellenistisch-römischer Moralphilosophie stehen, die im Umfeld des Jakobusbriefes und des Paulus populär war. Als Schüler des Musonius Rufus gilt Epiktet neben Seneca als wichtigster Vertreter stoischer Ethik der frühen Kaiserzeit,Footnote 83 wenngleich hinsichtlich der Überlieferung seiner Lehre manche Fragen offen bleiben müssen.Footnote 84
- Epiktet, Diss. ii 18
In Diss. ii 18 diskutiert Epiktet die Leitfrage: Wie entstehen im Menschen sittliche Handlungen und Entscheidungen? Seine Antwort stellt er thetisch voran:
Jede Veranlagung und jede Fähigkeit wird durch die ihr entsprechende Tätigkeit erhalten und gefördert. (ii 18,1)Footnote 85
Die Disposition zum Handeln und das Vermögen, Handlungen auszuführen, werden also dadurch entwickelt, dass durch Einüben entsprechender Taten die bereits vorhandene Veranlagung gestärkt wird. Daraus leitet Epiktet die Maxime ab:
Überhaupt – wenn du etwas [sc. deiner Disposition Entsprechendes] tun willst, mach eine Gewohnheit daraus. Wenn du etwas nicht tun willst, dann tue es auch nicht, sondern gewöhne dich daran, statt dessen etwas anderes zu tun. (ii 18,4)
Auch im Blick auf seelische Vorgänge gilt: Aus Gewohnheit entwickeln und verfestigen sich gute wie schlechte Haltungen. Eine einzelne Verfehlung kann als Niederlage (ἧττα) angesehen werden. Erst wenn sie durch Wiederholung oder durch die mentale Vorstellung des verfehlten Tuns (φαντασία) genährt wird, wächst sie sich zur „Schwäche“ (ἀκρασία) aus:
Denn es ist zwangsläufig der Fall, daß sich die Eigenschaften und Fähigkeiten durch entsprechende Handlungen entwickeln, wenn sie vorher nicht vorhanden waren, oder sich steigern und verstärkt werden. (ii 18,7)
Bei nur einmaliger Verfehlung (z.B. Geldgier oder sexueller Begierde) wird das die Handlungen und Entscheidungen steuernde Organ (τὸ ἡγεμονικόν) in seiner ursprünglichen sittlichen Leitfunktion wiederhergestellt, sobald der Logos das Übel erkannt hat. Wenn das Vergehen aber nicht sofort durch den Logos therapiert wird, kann das ἡγεμονικόν nicht mehr in seine Ausgangsstellung zurückkehren, sondern wird durch eine der Tat entsprechende mentale Vorstellung (φαντασία) immer neu entzündet und zur Begierde (ἐπιθυμία) angereizt (ii 18,8f.).Footnote 86 Deshalb soll man seiner Veranlagung zum Bösen (ἕξις) durch Verfehlungen keine Nahrung geben, damit sie nicht heranwächst. Vielmehr soll man sich Tag für Tag darin üben, Verfehlungen zu vermeiden. Auf diese Weise kann die böse Veranlagung geschwächt und letztlich ganz beseitigt werden. Wem das nicht nur ein oder zweimal, sondern dreißig Tage nacheinander gelingt, der kann dem Gott ein Dankopfer darbringen (ii 18,13).
Diesen Gedanken entfaltet Epiktet anschließend am Beispiel der Enthaltsamkeit bei Verführung durch eine Frau (ii 18,14–18). Ihr zu widerstehen sei schwieriger, als die kompliziertesten sokratischen Schulprobleme zu lösen, aber gleichwohl bei entsprechender Willensanstrengung möglich. Wieder steht am Beginn eine Maxime:
Du musst den Willen haben, dir selbst zu gefallen und vor Gott dich als anständig und tüchtig zu erweisen. Habe den Wunsch, rein zu werden in Gemeinschaft mit dir selbst und mit Gott. (ii 18,19)Footnote 87
Ein Problem für die ethische Vervollkommnung stellen nach Epiktet allerdings die mentalen Vorstellungen (φαντασίαι) von der Verfehlung dar. Schon nach Platon könne, um sie zu besiegen, ein apotropäisches Opfer für die Götter helfen. Hilfreicher noch sei aber die Ausrichtung am Vorbild vortrefflicher Menschen, sei es lebender oder schon gestorbener wie z.B. Sokrates. Wer seiner Vorstellung von Verfehlungen reine Gedanken entgegenstelle, der werde sie besiegen und nicht von ihr verführt werden (ii 18,23). Der Anziehungskraft schmutziger Phantasien könne man sich dadurch entziehen, dass man sie zwar sorgfältig prüft, aber anstatt sie sich auszumalen, solle man sich besser eine schöne und vortreffliche Vorstellung ‚einbilden‘ (ἀντεισάγειν), die schmutzige dagegen hinauswerfen. Das erfordere allerdings Übung/Training (γυμνάζεσθαι):
Wer sich gegen derartige Vorstellungen wappnet, ist der wahre Kämpfer … Groß ist der Kampf, göttlich der Lohn: Wahres Königtum, Freiheit, Glück, Seelenruhe. Denk an Gott, ruf ihn als Helfer und Beschützer an (τοῦ θεοῦ μέμνησο, ἐκεῖνον ἐπικαλοῦ βοηθὸν καὶ παραστάτην), wie die Seeleute im Sturm die Dioskuren. (ii 18,27–9)
Mentale Vorstellungen können also zwar durchaus Stürme im Innern des Menschen auslösen, die sein vernünftiges Denken (λόγος) überwältigen. Aber solche Stürme sind nichts weiter als φαντασίαι. Wer die Furcht vor dem Tod überwindet, wird sich auch vor ihnen nicht mehr fürchten, sondern in seinem ἡγεμονικόν Seelenruhe und Heiterkeit finden (ii 18,30). Die Gewöhnung an Verfehlungen führt dagegen dazu, diese nicht einmal mehr als solche zu erkennen (ii 18,31). Deshalb müssen alle schmutzigen Phantasien vermieden werden und schöne an deren Stelle treten. Wer auf diesem Wege siegt, der kann den Göttern danken.
Fragen wir nach dem Ursprung ethischer Entscheidungen im Menschen, dann ergibt sich nach Epiktet ein klares Bild.Footnote 88 Seine Konturen werden durch das Wollen als Folge der Erkenntnis des Guten, aber auch durch das Einwirken von Verführungen von außen sowie insbesondere durch im Innern des Menschen wirkende mentale Vorstellungen bestimmt. Konkrete Handlungen sind das Ergebnis von Disposition (ἕξις), Fähigkeit (δύναμις) und Wille zum Tun (θέλησον καλὸς φανῆναι τῷ θεῷ, ii 18,19). Die Disposition ist eine innere Grundeinstellung (‚Neigung‘) des Menschen zum Tun, sei es zum Guten oder zum Bösen. Diese Grundeinstellung ist nicht unveränderlich. Sie kann durch Einüben des Guten oder durch wiederholtes und dauerhaftes Meiden des Bösen erhalten und vervollkommnet werden.Footnote 89 Durch jede Verfehlung wird die Disposition aus ihrer Grundeinstellung verrückt, durch wiederholte Verfehlungen auf Dauer, sofern diese nicht sofort mit Hilfe der Vernunft korrigiert werden, aber ebenso durch regelmäßiges Einüben des Guten. Demnach kommt es darauf an, das seiner Neigung zum Guten Entsprechende immer wieder zu tun und seiner Neigung zur Verfehlung immer wieder entgegenzutreten. Gefährdungen entstehen von außen durch Versuchungen zum Tun des Bösen sowie im Innern durch Vorstellungen von der Verfehlung (φαντασίαι), die sich im Menschen ausbreiten und verfestigen und seine Neigung zum Guten zerstören. Solchen Verführungen und Phantasien zu widerstehen hat der Mensch seinen Willen, der ihn mit Hilfe der Vernunft zur Bedachtsamkeit im Handeln führt. Der Mensch soll sich selbst und Gott gefallen wollen,Footnote 90 wofür er sich Gott zum Beistand und berühmte Menschen zum Vorbild nehmen kann. Wem das gelingt, der kann im Nachhinein dem Gott ein Dankopfer darbringen.Footnote 91
4. Das Menschenbild in Röm 7
Das Menschenbild, das Paulus in Röm 7 entfaltet, ist in jüngerer Zeit aus der Perspektive hellenistisch-römischer Literatur und Philosophie neu beleuchtet und in wesentlichen Zügen erhellt worden. Auf die zahlreichen Untersuchungen, die zum einen von der Rezeption des Medea-Mythos,Footnote 92 zum andern von der philosophischen (platonischen) Debatte um das Problem der ἀκρασία ausgehen,Footnote 93 kann ich hier nicht näher eingehen. Ich betrachte diese Diskussion allerdings als weiterführend und bediene mich bei meiner Interpretation mancher dort gemachten Beobachtungen, ohne das im Einzelnen nachweisen zu können.
4.1. Der Zusammenhang der paulinischen Argumentation
Der Gedankengang in Röm 5 verknüpft das Geschehen der Rechtfertigung in 1,18–4,25 mit ihren Folgen für das Leben der Glaubenden in Röm 6–8.Footnote 94 Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Gott durch den Tod Jesu für die Gerechtfertigten Frieden gestiftet hat (5,1).Footnote 95 Eine Klimax von Prüfungen (5,3f.)Footnote 96 führt zur Hoffnung der Glaubenden, die in der Liebe Gottes gründet. Sie ist eine Gabe, die durch den Heiligen Geist geschenkt wurde, und zwar ins Herz (5,5). Dadurch ist an und in uns Rechtfertigung geschehen, so dass wir die endzeitliche Rettung erlangen (5,6–11). Der Abschnitt 5,12–21 ist nach Zeitstrukturen gegliedert, die durch Herrschaftsverhältnisse bestimmt sind:Footnote 97 Von Adam bis Mose herrschte der Tod (5,14), von Mose bis Christus die Sünde durch den Tod (5,21), seit Christus wegen der Gerechtigkeit die Gnade auf ewig (5,21). Das Gesetz kam dazwischen (5,20); es diente dazu, die Sünde groß zu machen, damit die Gnade umso größer würde.
Röm 6 bringt ein paränetisches Zwischenargument: Wer durch den Tod Jesu aus der Herrschaft von Sünde und Tod befreit ist, darf sich nicht mehr von Sünde und Tod beherrschen lassen (6,12–14).Footnote 98 Deshalb sollen die Getauften nicht den Begierden, der Ungerechtigkeit und der Sünde dienen, sondern ihre Glieder als Waffen der Gerechtigkeit Gott zur Verfügung stellen (6,13). Dieser Gedanke wird weitergeführt mit Blick auf die menschliche „Schwäche des Fleisches“ (6,19):Footnote 99 Während die Gerechtfertigten früher mit ihren Gliedern der Unreinheit und Ungesetzlichkeit zu Diensten waren, sollen sie nunmehr der Gerechtigkeit zur Heiligung dienen. Und so, wie der Tod Folge ihrer vergangenen Lebensweise war, ist ewiges Leben Folge der neuen (6,21–3).
Das Motiv des HerrschaftswechselsFootnote 100 verdeutlicht Paulus in Röm 7,1–6 an einem Fallbeispiel aus der Rechtspraxis. Antithetisch stellt er dem Leben einst im Fleisch, das von Sünde, Gesetz und Tod beherrscht war, die jetzt erlangte Freiheit im Herrschaftsbereich des Geistes gegenüber (7,6). Im Folgenden expliziert er zunächst nicht das neue Herrschaftsverhältnis, sondern entfaltet in einer Ich-RedeFootnote 101 den Zusammenhang von Sünde und Gesetz genauer.Footnote 102 Der erste Teil dieser Argumentation (7,7–12) hat narrativen Charakter, der zweite (7,13–25) argumentativen. Der Ich-Erzähler berichtet von seiner verhängnisvollen Begegnung mit der Sünde. Er erlag ihrem Betrugsmanöver, die sich dafür des Gesetzes bediente. Am Ende war das Ich tot, und die Sünde hatte sich mit Hilfe des Gebotes als das erwiesen, was sie ist und wirkt, als Todesmacht (7,10f.). Das Gesetz ist damit von aller Schuld freigesprochen und seiner göttlichen Bestimmung nach als heilig, gerecht und gut erwiesen (7,12). Derselbe Sachzusammenhang von Sünde, Gesetz und Tod wird anschließend argumentativ entfaltet, um auch auf diese Weise das Gesetz als gut und die Sünde als Tod bringend zu erweisen.Footnote 103 Dies geschieht nun aber mit Hilfe der Beschreibung eines inneren WiderstreitsFootnote 104 im Ich des Menschen zwischen dem Wollen des Guten und dem Tun des Bösen (7,15–21). Wieder kommt die Sünde als treibende Kraft ins Spiel, der gegenüber das Ich des Menschen hilflos ist. In ihm selbst findet sich nichts, was den tödlichen Widerstreit zu seinen Gunsten entscheiden könnte (7,18). Vielmehr hat die Sünde in ihm Wohnung genommen als „ein anderes ‚Gesetz‘ in meinem Gliedern“ (7,23). So entdeckt er sich als unter dem ‚Gesetz‘Footnote 105 stehend (7,21), „dass mir, der ich das Gute tun will, (nur) das Schlechte zur Verfügung steht“. Zwar stimmt er dem Gesetz Gottes zu gemäß dem „inneren Menschen“ (7,22),Footnote 106 sieht aber, ebenfalls in seinem Innern, „ein anderes ‚Gesetz‘ in meinen Gliedern, das dem Gesetz meiner Gesinnung (νοῦς) widerstreitet und mich in Gefangenschaft führt unter das Gesetz der Sünde“ (7,23).Footnote 107 Am Ende bleibt nur der verzweifelte Ruf nach Rettung aus diesem Todesleib (7,24), der aber gleichwohl auf Hoffnung gerichtet ist. Nach dem Muster biblischer Klagepsalmen folgt auf den Ausruf tiefster Gottverlassenheit das Bekenntnis zu dem Gott, der aus dem Tod erretten kann (7,25).Footnote 108
Anknüpfend an das Motiv des Herrschaftswechsels in Röm 7,1–6 führt Paulus in Röm 8 den Gedankengang weiter und beschreibt unter dem leitenden Gegensatz von „Fleisch“ und „Geist“ das Leben der Gerechtfertigten unter dem Gesetz, das nunmehr vom Geist des Lebens durch Christus bestimmt ist und nicht mehr von Sünde und Tod (8,2). Die Sünde, die „im Fleisch“ war, hat Gott abgeurteilt, indem er seinen eigenen Sohn geschickt hat „in Gestalt sündigen Fleisches und wegen der Sünde, damit die Rechtsforderung des Gesetzes durch uns erfüllt wird, die wir uns nicht nach dem Maßstab des Fleisches verhalten, sondern nach dem Maßstab des Geistes“ (8,4). Das Motiv des Wohnens wird wieder aufgegriffen, nun aber auf Christus und den Geist bezogen (8,11). Der Geist ist in den Glaubenden als verwandelnde Kraft wirksam, so dass aus dem Herrschaftsverhältnis ein Verwandtschaftsverhältnis wird, in dem sie Gott als Vater anrufen.Footnote 109 So sind sie nun nicht mehr „Schuldner gegenüber dem Fleisch“, sondern Gottes Kinder und Erben (8,12–17). Das Innere des Menschen hat sich also komplett gewandelt. Es wird nicht mehr bewohnt und beherrscht von Begierden und Verfehlungen, sondern von Christus und dem Geist. Es ist nicht mehr hilflos ausgeliefert den Tod bringenden Kräften, sondern lebt auf durch Gottes Leben schaffenden Geist.
Die ethischen Folgen dieses Herrschaftswechsels und der durch Christus und den Geist bewirkten Verwandlung im Innern des Menschen werden in Röm 12 entfaltet.Footnote 110 Dort werden die Gerechtfertigten ermahnt, nicht nur ihr Inneres, sondern ihre „Leiber“ (σώματα)Footnote 111 Gott als „lebendiges und heiliges Opfer“, als „vernünftigen Gottesdienst“ (λογικὴ λατρεία) zur Verfügung zu stellen (12,1).Footnote 112 Die Verwandlung, die sich in ihnen vollzogen hat, soll auch in ihrer „Sinneserneuerung“ Ausdruck finden (μεταμορφοῦσθε τῇ ἀνακαινώσει τοῦ νοός), so dass sie selbst beurteilen können (δοκιμάζειν), was Gottes Wille ist, nämlich das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene (12,2).Footnote 113
Der Mensch, der sich in Röm 7 zu erkennen gibt, erfährt sich als ausgeliefert an fremde, ihm feindlich gegenübertretende Mächte. Er ist Schauplatz und Leidtragender ihrer Aktivitäten, nicht selbst Akteur. Mag er auch Einsicht gewinnenFootnote 114 in dieses Kräftespiel, so ist er doch nicht Herr seiner selbst und muss sehend in sein Todesverhängnis laufen. Mit dem Ich des Menschen, sei es als Handlungsträger in der Erzählung oder als Gegenstand der Beschreibung in der Argumentation, sind Aussagen verbunden, die nicht dessen Aktivitäten benennen, sondern Einwirkungen von außen, denen das Ich ausgesetzt ist. Aktiv sind das Gesetz bzw. das Gebot und vor allem die Sünde. „Ich“ stehe deren Einwirkungen weitgehend passiv gegenüber. Ich kann und muss mit ihnen Bekanntschaft machen, ihre Auswirkungen an mir erkennen und erleiden, ohne mich effektiv dagegen wehren zu können. Mein eigenes Wollen und Tun kann gegen ihr Wirken nichts ausrichten. Nur und erst durch das Einwirken Gottes von außen auf das Innere des Menschen wird dieser Machtkampf zu Gunsten des Menschen entschieden.Footnote 115 Der Gott, der hier eingreift in die verhängnisvollen Machtkämpfe im Innern des Menschen, der die Mächte besiegt, die sein Denken und Trachten beherrschen, ist der Gott, der in Jesus Christus, in seinem Sterben und seiner Auferweckung am Werk ist und sich mit seinem Geist als Leben schaffend erweist (Röm 8,1–4.9–11).
4.2. Das paulinische Menschenbild im Licht Epiktets, der Sapientia und des Jakobusbriefes
Setzen wir das hier nur knapp skizzierte Menschenbild von Röm 7 in Beziehung zu den Bildern, die wir im Jakobusbrief, in der Sapientia und bei Epiktet vorgefunden haben,Footnote 116 so ergeben sich eine Reihe von Konturen und Bezügen, die ich abschließend thetisch benenne:
Das ‚Weltbild‘, in das die Menschenbilder bei Jakobus, Paulus und in der Sapientia eingezeichnet sind, ist vertikal strukturiert. Gott ist ‚oben‘, der Mensch ‚unten‘, aber immerhin – wenn es gut geht – auf dem Weg nach ‚oben‘. Der Mensch kann und soll sich ‚nach oben‘ orientieren, in seinen Gebeten, in der Haltung des Empfangens guter Gaben von Gott, in der Ausrichtung seiner Hoffnungen auf ein Leben über seinen Tod hinaus.
Die Orientierung auf Gott als auf den Menschen einwirkende und seine Lage verändernde Kraft tritt bei Epiktet zurück zugunsten seines stoischen Freiheitsverständnisses,Footnote 117 ohne dass er damit ein a-religiöses Ethos propagieren würde. Die Zuwendung zu Gott steht bei ihm aber am Ende der ethischen Besinnung. Von einem Sieg über den Tod ist bei Epiktet nicht die Rede. Gott kann zwar als Vorbild für die Suche nach der rechten Entscheidung dienen. Die Lebensentscheidungen vollziehen sich jedoch im Innern des Menschen, nicht außerhalb seiner bei und durch Gott. Sie werden geleitet durch die Vernunft, die das Einüben rechter und das Meiden verfehlter Verhaltensweisen bestimmt.Footnote 118
Jakobus und Paulus stimmen demgegenüber grundsätzlich überein und unterscheiden sich darin von Epiktet, dass der Mensch sich nicht selbst zum rechten Tun bewegen oder gar zwingen kann. Vielmehr sehen beide den Menschen hilflos ‚über-menschlichen‘ Kräften ausgesetzt, die in ihm wirksam sind und ihn beherrschen.Footnote 119 Beide finden Rettung allein darin, dass Gott (von ‚oben‘ und ‚außen‘) eingreift und einen Herrschaftswechsel im Innern des Menschen bewirkt.Footnote 120 Dieser Machtkampf im Innern des Menschen kommt in der Sapientia kaum in den Blick. Bei ihr wird, ähnlich wie bei Epiktet, stärker die ethische Orientierung durch Besinnung auf die Weisheit betont, die als Ausdruck des Willens Gottes verstanden wird, wie er für jeden in der Tora zugänglich ist.
Bei Epiktet wird dagegen ähnlich stark wie bei Jakobus und Paulus der Kampf um ethische Entscheidungen und Haltungen in das Innere des Menschen verlegt und ausdrücklich der Wille zum Tun problematisiert. Allerdings wird dieser innere Kampf bei Epiktet deutlich anders entfaltet und reflektiert. Der Stoiker setzt voraus, dass der Mensch bei allen Gefährdungen und Verführungen, die von außen auf ihn einwirken, mit Hilfe seiner Vernunft der in ihm liegenden Anlage zum Guten folgen, Fehlentscheidungen vermeiden und auf diesem Weg zur ethischen Vollkommenheit gelangen kann.Footnote 121 Demgegenüber finden Paulus und Jakobus im νοῦς gerade keine Rettung aus dem ethischen Dilemma.Footnote 122
Der Jakobusbrief und die Sapientia finden in der Weisheit den Ursprung und die Kraftquelle für ethische Entscheidungen des Menschen. Beide identifizieren sie zudem mit der Tora, der Jakobusbrief explizit. Paulus kommt zwar in verwandten Zusammenhängen auch auf die Tora zu sprechen, kann sie aber nicht in gleicher Weise zum Ursprung und Maßstab rechten Tuns erklären, weil er im Zuge seiner Mission in einen tief greifenden Konflikt um die Bedeutung der Tora im Christusgeschehen geraten ist. Nach seinem Urteil ist die Tora selbst auf die Seite der Mächte gezogen worden, die dem Menschen den Tod bringen. Allerdings ist damit die Geschichte des Menschen unter Sünde, Gesetz und Tod nicht zu Ende, sondern Gott hat sie in Christus gewendet, so dass die Glaubenden am Ende nicht den Tod, sondern neues Leben finden.Footnote 123
Die Sapientia, Paulus und der Jakobusbrief stehen gemeinsam Epiktet gegenüber, wenn sie den Menschen als Geschöpf Gottes betrachten und ihm eine Perspektive über seinen Tod hinaus bei Gott zusprechen. Schöpfungs- und Endzeitaussagen bestimmen die anthropologischen Grundlagen aller drei, im Unterschied zu Epiktet, der nach seinen naturphilosophischen Prämissen in solchen Bahnen wohl gar nicht denken kann.Footnote 124 Gleichwohl bedienen sich sowohl Paulus als auch der Jakobusbrief bei der Reflexion der Situation des Menschen und der ethischen Anforderungen an ihn und bei der Frage nach den Ursprüngen seiner ethischen Entscheidungen bestimmter Begriffe und Denkwege der hellenistisch-römischen „praktischen Philosophie“ und Psychologie. Während aber die philosophische Reflexion letztlich darauf hinausläuft, dass Veränderungen im Inneren Ergebnis der Selbstbesinnung des Menschen und der dadurch ermöglichten Angleichung an Gott sind, denken sowohl Paulus als auch der Jakobusbrief von der im Christusgeschehen erfahrenen Verwandlung des ganzen Menschen einschließlich seines Inneren her.
Während die Sapientia in ihren theologischen, anthropologischen, soteriologischen, ethischen und eschatologischen Überzeugungen einen reflektierten Gesamtentwurf frühjüdischer Theologie erkennen lässt, sind Paulus wie der Jakobusbrief in ihren Aussagen über den Menschen über diese frühjüdischen Vorgaben hinaus durch signifikante Impulse aus dem Jesus-Christus-Geschehen geprägt. Während bei Paulus diese Impulse explizit benannt und entfaltet werden, kommen sie bei Jakobus nur implizit zur Geltung, sind aber für ein Gesamtverständnis seiner Sicht des Menschen unerlässlich.