‘I will show you fear in a handful of dust.’Footnote 1
„Wie beeindruckt doch die Seele, die zu sterben bereit ist“, notiert Mark Aurel. Er fügt hinzu: „Diese Bereitschaft muss aber aus eigenem Entschluss stammen, darf keineswegs schlichtem Steifsinn folgen wie bei den Christen. Sie sollte auf vernünftiger und ernster Erwägung beruhen und sich ohne theatralisches Gehabe äußern, sodass auch der Andere davon überzeugt wird“ (vgl. Ad se ipsum 11.3). Christen also haben, so sieht es der Stoiker, die Todesangst zwar überwunden, aber in Form der pathetischen Pose. Epiktet und Lukian sehen es ähnlich: Christen scheinen frei von Todesangst, doch diese Freiheit beruht auf naiver Gewohnheit.Footnote 2
Im Neuen Testament bringt nur der Hebräerbrief den φόβος θανάτου ausdrücklich zur Sprache, und zwar mit einem einzigen Satz: 2.14–15. Bei diesem ungewöhnlichen Text setze ich an. Im zweiten Schritt schaue ich auf dessen christologischen Kontext und glaubenspraktische Konsequenz: die ars moriendi christologica, wie sie den Brief insgesamt prägt. Doch ist in diesem Fall der Tod nicht der letzte Feind. Das Problem mit Hebr fängt erst nach ihm an, und zwar in jenen drei buchstäblich feurigen Passagen (6.4–8; 10.26–31; 12.16–17; vgl. 12.29), die wie selten sonst im Neuen Testament Gerichts- und Höllenangst evozieren. Sie haben mit ihrem harschen Ausschluss einer zweiten Umkehr bereits die Frühkirche irritiert und Luther zu dem Urteil veranlasst, unser Schreiben habe eyn harten knotten. Footnote 3
In der Tat ist Angstverhalten ein wichtiger Indikator religiösen Selbstverständnisses.Footnote 4 Hebr hat dazu weniger Typisches als Reizvolles beizutragen. Wir stoßen hier auf eine Weise, Theologie zu treiben, die angesichts des kultspekulativen Rufs, in dem er steht, Überraschungen birgt.Footnote 5 Unsere Leitfrage lautet: Welche Bedeutung und Funktion hat im Hebräerbrief die Angst vor dem Sterben und vor dem Gericht?
1. Hebr 2.14–15: Todesangst und Lebensfreiheit
In der planvoll angelegten kultsymbolischen Landschaft unserer Rede wirkt der halb mythische, halb moderne Doppelvers wie ein Meteorit aus anderer Welt. Er passt in manches antike Denksystem; in die vertikale Typologie des Hebr passt er nicht. Dies gilt bereits wortstatistisch: Die zwei VerseFootnote 6 weisen neun HapaxlegomenaHebr auf.Footnote 7 Diese semantischen Eigentümlichkeiten sind Ausdruck der theologischen Konfiguration, die von einem anderen Kontext als dem literarischen bestimmt scheint: Der endzeitliche Satanskampf als Befreiungsakt für „Blut und Fleisch“ wirkt inkompatibel mit der in den Folgeversen eingeführten Sühnopfer-Christozentrik.Footnote 8 Plausibilität scheint die Aussage nur unter Voraussetzungen zu gewinnen, die Hebr selbst nicht ausführt, die daher von außen entliehen werden. Sogleich meldet sich hier die alte Aporie der Hebr-Exegese: Nicht Mangel herrscht an triftigen Kandidaten für religionsgeschichtliche Inspiration, sondern Überschuss. Versuchen wir zu ordnen, bleibt am Ende kein einliniger Einfluss, sondern Einsicht in eine Syntheseleistung:
(a) Die Handlungsträger gewinnt Hebr aus dem Repertoire frühjüdisch-urchristlicher Apokalyptik. Hier erhält der Gegenspieler des Lebens die Züge des Teufels und die Befreiungstat den Charakter endzeitlicher Vernichtung.Footnote 9 Tod und Teufel sind natürliche Verbündete; der Neid des Teufels bedingt Versuchbarkeit, Sünde und Todesgeschick des Adam und seiner Nachkommen.Footnote 10 Jedoch sind die Unterschiede nicht zu übersehen: Gottferne ist in Hebr condicio humana, nicht signum mortis; es geht um Todesangst, nicht um Sünde und Sterblichkeit, und das kontextuell entfaltete Syngeneia-Motiv lässt (mit finalem Anschluss in V. 14b) die Menschwerdung als Befreiungstat erscheinen, nicht das Endgericht.
(b) Entnimmt unser Passus die dramatis personae frühjüdisch-urchristlicher Tradition, so stellt ihn das dramatische Dreieck selbst—Macht des Todes, knechtende Angst, Freiheit zum Leben—unmittelbar in den aktuellen Diskurs. Die Selbst-Befreiung von Trauer und Todesangst ist gängiger Topos der zeitgenössischen Konsolationsliteratur. Der Euripides-Trimeter τίς δ᾽ ἐστὶ δοῦλος τοῦ θανϵῖν ἄφροντις ὤν; (frg. 958; vgl. Orest. 1520–1523) gehört zum vielzitierten Erfahrungswissen (vgl. Cicero Att. 9.3 [2a].2; Plutarch Adol. poet. aud. 34B; Cons. Apoll. 106D). In Anlehnung an dieses Zitat zeigt Philo, dass „nichts so sehr seiner Natur nach den Geist versklavt wie der Schrecken vor Tod aufgrund der Sehnsucht nach Leben“ (Prob. 22). Im ersten Jahrhundert sind es Seneca und Epiktet, die die Trias „Tod—Angst—Freiheit“ am intensivsten durchdenken. Nur wenn der Mensch seine ganze geistige Kraft gegen die Todesangst richtet, wird er wirklich frei, lehrt Epiktet (Diatr. 3.26.38–39). Die Meisten versklaven sich jedoch: Dem unvermeidlichen Tod gilt die Angst, die vermeidbare Todesangst bleibt unreflektiert. Doch gerade hier ist der Anspruch „Nur freie Menschen können gebildet werden“ ins Philosophische zu wenden: „Nur gebildete Menschen sind wirklich frei“ (Diatr. 2.1.22; vgl. 2.1.13–24).Footnote 11
(c) Gehen wir einen Schritt weiter, so stoßen wir auf den Plot des Dramas: Im Heroenmythos ringt der Befreier Hades und Thanatos nieder und erlöst so die Seinen. Allgegenwärtiger Prototyp ist Herakles. Seit hellenistischer Zeit wird er mit zunehmend heilandhaften Zügen als Brecher der Todestyrannei gezeichnet. Der Löwenkampf, das Heraufholen des Kerberos, die Befreiung der Alkestis aus dem Totenreich inspirieren die Deutung des Jupiter-Sohns als mortis victor, der schließlich sich selbst den Zugang zum Himmel bahnt.Footnote 12 Als kulturell plausible Erlösungschiffre dient er bis in die christliche Kultur hinein als gängiges Motiv sepulkralen Bildbestands und individueller Heilshoffnung.Footnote 13 Gerade im Rom des ersten Jahrhunderts war dieser Mythenstoff unter dem stoisch-vorbildethischen Aspekt der in duldendem Leiden besiegten Todesangst durch Senecas Drama Hercules furens lebendig. Im Anschluss an Seneca arbeitet gegen Ende des ersten Jahrhunderts die Tragödie Hercules Oetaeus die übermenschlichen Züge, das proexistente Leiden, die kosmische Wirkung und den himmlischen Triumph des Befreiers heraus. Herakles-Frömmigkeit war in allen sozialen Schichten verbreitet; die heroische Führung verdichtet sich im ἀρχηγός-Prädikat (Dio Chrysostomus 1 Tars. [Or. 33] 47; Heraklit All. 34.8; vgl. Lukian Symp. 16).Footnote 14 Die unmittelbare Rezeption von 2.14–15 ist davon zweifellos beeinflusst. Darüber hinaus scheint mir die Annahme von Harold Attridge triftig, dass der Auctor ad Hebraeos selbst gezielt an den Mythos vom Sieger über Tod und Todesangst anknüpft.Footnote 15 Dann finden wir hier den frühesten Beleg für die christliche Descensus-Vorstellung, die sich freilich noch gar nicht als solche begreift. Denn die Inkohärenz des Passus mit der im Folgenden entfalteten Soteriologie ist dadurch zu erklären, dass Hebr das Mythologem keineswegs zur postmortalen Fortschreibung der Jesus-Geschichte einsetzt, sondern—wie Philo oder Seneca—zur existentiellen Chiffrierung eines humanen Vorgangs, nämlich des—in jeder Hinsicht inkarnatorisch verstandenen—Sterbens Jesu, seines descensus ad mortales. Footnote 16 Nicht die Sterblichkeit ist das Problem, sondern die Todesangst. Jesus bricht in heroischem Kampf ihre Macht, indem er seinen Tod in menschlichem Gehorsam durchsteht. Der Teufel ist Personifikation im Kampfmotiv. Dürfen wir Hebr ein solches polymythisches Hantieren mit Traditionen zutrauen? Die Frage nach dem Wahrheitsspiel wird uns weiter beschäftigen.
(d) Ein letzter Schritt: Herakles dient von den griechischen Ursprüngen an der Legitimierung von Herrschaft und gerade auch der Inszenierung des kaiserlichen Charismas. Namentlich unter Domitian wurde der Jupiter-Sohn als göttliches Rollenmodell des Kaisers stilisiert.Footnote 17 Zu der religiösen Renaissance unter diesem Prinzeps gehörte auch die persönliche Akzentuierung der Rolle des Pontifex Maximus. Ein herrscherkritischer Impuls ist Hebr mit seiner Vorliebe für soziomorphe Kontrastbegriffe und seinem Appell zum Auszug aus der irdischen Polis (vgl. 13.13–14) durchaus zuzutrauen. Zwei Verse weiter nennt er zum ersten Mal jenes kultische Motiv, auf das es ihm im Folgenden ankommt: der barmherzige und treue Hohepriester.
So ziehe ich eine erste Bilanz: Der Reiz unseres im Inneren isolierten Passus liegt gerade in seiner Anschlussfähigkeit nach außen. Er setzt vor die Einführung des Hohepriester-Motivs ein Rezeptionssignal, das seine Christologie polymythisch einbettet, kulturell attraktiv macht und in ihrer existentiellen Relevanz beleuchtet.Footnote 18 In der soteriologischen Landschaft des Hebr ist „Christus der Befreier“ kein verirrter Meteor-Einschlag, sondern eine planvoll angelegte Aussichtshöhe, die eine perspektivische Weitung ermöglicht. Sie lässt den Betrachter ein Christus-Bild sehen, das Antworten auf Fragen birgt, die er tatsächlich empfindet. So weckt der Vf. eine steile Erwartung: Christsein befreit von Todesangst. Wie löst er diese Erwartung ein?
2. Der Makrotext: Die ars moriendi christologica in Hebr
2.1. Die Befreiungstat (2.5–18)
Unsere Verse stehen in einer Dynamik, die von V. 8b ihren Ausgang nimmt und in V. 18 mündet.Footnote 19 Zuvor (VV. 5–8a) wurde Ps 8 einer christologischen Relecture unterzogen: Was ursprünglich die Hoheit des Menschen besang, wird jetzt zum Ausdruck der Kenosis des Sohnes, für kurze Zeit unter die Engel gestellt. Gott unterwarf Jesus alles—ihn unterwarf er dem Leiden. Was „wir sehen“ (βλέπομϵν) von der himmlischen Welt, ist (erstmals mit schlichtem Eigennamen) „Jesus—um des Erleidens des Todes willen mit Herrlichkeit und Würde bekränzt, auf dass er durch Gottes Gnade für jeden schmecke (γϵύομαι: leiblich-sinnenhaft erfahreFootnote 20), was Tod ist“ (V. 9). Der rätselhafte Finalsatz antizipiert die ganze Soteriologie des Hebr.
Der nächste, begründende Vers führt den ἀρχηγός-Titel ein, und zwar in einem Kontext, in dem die Inkarnation als Ausdruck der göttlichen Heilsführung so konsequent vorangetrieben wird wie nirgends sonst in der urchristlichen Literatur: Die uneingeschränkte Seins- und Schicksalsgemeinschaft zwischen Christus und den Glaubenden entspricht (ἔπρϵπϵν) dem Gottesbild. Der „Sohn“ und die „Söhne“ sind ἐξ ἑνός. Die ausgeprägte Familienmetaphorik im Kontext lässt hier an den gemeinsamen geschöpflichen Ursprung denken:Footnote 21 Die Menschwerdung ist Teilnahme an der geschwisterlichen Gemeinschaft in Blut und Fleisch und damit bis zuletzt durchgetragene Sym-Patheia. Die inkarnatorische Logik mündet in die Zielaussage VV. 17–18, mit der in einer Atmosphäre von Fleisch, Blut, Tod, Angst und Erdnähe der himmlische Hohepriester programmatisch angekündigt wird:Footnote 22 „worin er gelitten hat, selbst versucht, vermag er denen, die versucht werden, zu helfen“. Jesus hat die παθήματα, die hier unter dem Aspekt des für alle Menschen gleichen Daseins zum Tode stehen, bis ans Ende treu durchgetragen. Er wurde so, kultsprachlich gesagt, „vollendet“, das heißt: durch die ontische Schranke hindurch in die Heiligkeitssphäre Gottes geführt. Als ἀρχηγὸς τῆς σωτηρίας αὐτῶν hat er diese Schranke zugleich für die Seinen geöffnet.
Hebr nimmt den Tod also wahr und hin. Er gehört zur condicio humana, selbst für den Sohn Gottes, der durch seine Schule muss. Dessen Auferstehung wird nirgends ein Thema. Der Kreuzestod wird, vom Heroenmythos inspiriert, als bestandener Lebensweg dargestellt, der zugleich den Weg für die Glaubenden bahnt. Im Folgenden wird der gleiche Tod mit der gleichen Folge als irdisch-himmlische Kulthandlung dramatisiert: Der Hohepriester durchschreitet opfernd den Vorhang zum Allerheiligsten und reinigt so das Bundesvolk (vgl. bes. 9.11–14). Zumal im Rahmen des Zentralteils (vgl. 5.7–10; 10.1–10) wird dabei abermals deutlich, dass es ein Lebensweg ist, genauer: die personale Selbsthingabe, die in das biblische Verstehenssystem des levitischen Kults eingezeichnet wird. Das Tieropfer entspricht nicht der Verheißungsgeschichte; in der Menschwerdung hat Gott dem Sohn einen Leib bereitet, damit dieser kommt, um Seinen Willen zu tun (vgl. 10.5–9). Hebr kritisiert den Kult nicht; er personalisiert ihn. Erst dadurch gelangt der Kult an jenes Ziel, das die Antike ihm zuschreibt: den Immediatverkehr mit Gott.
Damit setzt 2.5–18 vor die kultsymbolische Reinterpretation der Christus-Homologia lektüreleitend die personalen und existentiellen Vorzeichen von Solidarität und Befreiung: Jesus durchschreitet die mors humana und macht sie so für die Seinen durchschreitbar. Sein Tod öffnet die Pforte ins Ewige. In diesem Sinn löst der „Anführer ihres Heiles“ die Seinen zunächst insofern aus der Todesangst, als er diese Versuchung von Blut und Fleisch uneingeschränkt auf sich nimmt, durchsteht und so Vor-Bild eines standfesten Gottesglaubens wird. Aber Hebr transponiert die Vorbild-Ethik ins Soteriologische hinein. Aus dem Vorbild wird der „Vorläufer für uns“, der den Weg, den er als Modell-Glaubender geht, zugleich als ewiger Sohn öffnet, das Ziel, das jenseits des Todes liegt, erschließt und dort, wo Angst herrscht, „vorausliegende Hoffnung“ stiftet: den „Seelenanker“, der in die Wirklichkeit Gottes geworfen ist (6.19–20).
2.2. Der Hohepriester, schreiend und weinend (5.7–10)
Der in 2.17–18 angekündigte Hohepriester betritt in Kap. 5 die erzählte Welt. Mit seinem lauten Geschrei und Tränen, seinem Flehen aus Todesnot heraus, mutet er den Adressaten, die ihn gerade noch „ganz oben“ über den Engeln bestaunt hatten, einiges zu. Wir entgehen den zahlreichen Aporien dieses Absatzes, wenn wir die Getsemani-Szene (Mk 14.32–42 parr.) ausklammern: Rettung wie Erhörung sind hier schwerlich unterzubringen;Footnote 23 Hebr bietet nirgends episodische Auskunft über Jesu Vita, und der kenotische Anspruch unserer Szene setzt viel radikaler an. Es ist, wie auch sonst (vgl. 2.12–13; 10.5–7), die Psalmpoesie, die die intertextuelle Matrix bildet, um Jesu Erdenleben als Ganzes verstehbar zu machen.
Mit gebetssprachlichen Mitteln versetzt die plastische Miniatur den Sohn wie die Adressaten anschaulich in das ihnen vertraute Milieu des biblischen Klage- und Bittpsalms und zugleich nach „ganz unten“. Die Situation ist Todesnot, die Bitte zielt auf Rettung, die Folge ist Erhörung. Tränen, lautes Schreien und, gattungstypisch, Erhörung wie Rettung ἐκ θανάτου gehören zum Standardmuster (vgl. bes. Ps 114–115LXX [116]).Footnote 24 Nicht eine Episode, sondern Jesu „Fleischestage“ (5.7) insgesamt werden als eine einzige Gebetshandlung gezeichnet: die σάρξ—Jesu Humanum in seiner erdgebundenen Todesverfallenheit—schlägt die Brücke zu 2.14–16. Als Echoraum der zuvor zitierten Gottessprüche (Ps 2.7; 110.4) wird das Menschsein des Sohnes Teil des Dialogs mit dem λαλήσας πρὸς αὐτόν (V. 5) und vollzieht, was die Bestallung zum Hohepriester bezweckt. Es ist also abermals die personale Selbsthingabe, die die Kultsemantik ans Ziel führt. Sie wird mit dem den Kontext sprengenden Verb προσφέρω beschrieben, das noch in VV. 1, 3 das hohepriesterliche Sühnopfer denotiert. Auch hier also geht es nicht um Kultkritik, sondern, entscheidender, um die Personalisierung kultischen Denkens: Was nach Todesangst aussieht, erweist sich als ϵὐλάβϵια.Footnote 25 Todesangst wird durchstoßen auf gehorsame Gottesfurcht im Lernprozess des Leidens: μανθάνω—„sich durch Erleben aneignen“Footnote 26—bietet eine Analogie zu γϵύομαι (2.9). Gott erhört nicht, indem er vor dem Tod rettet, sondern indem er aus dem Tod rettet, d.h. aus dem in 2.14 beschworenen κράτος τοῦ θανάτου. Der Tod bleibt Jesus nicht erspart, aber er ist machtlos geworden, weil er in die Vollendung führt.Footnote 27 Der Gedankengang kommt erneut ohne das Auferstehungskerygma aus.Footnote 28 Aus der Todessphäre rettet Gott ins Allerheiligste hinein, indem er das Opfer der gehorsamen Erdenexistenz annimmt. Abermals wird Jesus in Ansehung seiner Sterblichkeit sowohl ethisch als Vorbild standfester Frömmigkeit (ϵὐλάβϵια) gezeichnet als auch soteriologisch als Bahnbrecher in die Ewigkeit (αἴτιος σωτηρίας αἰωνίου). So zeigt und öffnet er das „unerschütterliche Königreich“ (12.28) „für alle, die ihm gehorchen“, und das heißt: die so gehorchen wie er.Footnote 29
2.3. Die Ästhetik des Ziels
Hebr, so stellten wir fest, unternimmt keine ausdrückliche Deutungsanstrengung, um die Befreiung von Todesangst zu erklären. Er stiftet sub specie aeterni eine andere Todeswahrnehmung. So bietet das Corpus nach allen Regeln rednerischer ἐνάργϵια (vgl. Quintilian Inst. 8.3.61–71; 9.2.40–44; Cicero De or. 3.53, § 202; Rhet. Her. 4.54, § 68; Ps.-Demetrius Eloc. 209–222) eine Bildergalerie beispielhaften Sterbens und durchschauter Todesfälle. Die Adressaten werden gleichsam Augenzeugen der schwindenden Realität des Todes angesichts der wachsenden Realität jener kognitiven Gegenwelt, die der Glaube zugänglich macht.Footnote 30
Zunächst: Das κϵφάλαιον des Hebr ist Jesu elender Verbrechertod in der erstaunlich verfremdeten Form einer kultischen Bewegungshandlung, einer sakralen Kontaktnahme, eines Übergangs „durch den Vorhang“ in den Immediatraum Gottes oder—davon sachlich nicht zu trennen—der sessio ad dexteram (vgl. bes. 8.1–2; 9.11–14). Der menschliche Tod und die Todesangst sind keine ausdrücklichen Leitthemen des Hebr. Aber diesem Heilsdrama zugeordnet, werden sie Teil eines umgreifenden Sinnzusammenhangs. So gerät im Corpus auch das menschliche Sterben vom Ewigen her in ein neues Licht: Das Vorbildlichste an den Gemeindeleitern scheint ihr Abgang gewesen zu sein (13.7).Footnote 31 Im Glaubensenkomion des elften Kapitels werden die Heroen gerade als ex omnibus saeculis contemptores mortis (Seneca Ep. 24.11) gezeichnet, genauer: als berufene Moribunde, die sich im Diesseits allenfalls als Gast-Arbeiter fühlen, weil ihre Zielperspektive ins Jenseits reicht.Footnote 32 Den Anfang macht Abel, der noch „als Gestorbener“ vom Unsichtbaren spricht (11.4; vgl. 12.24).Footnote 33 Die Erzväter wohnen nur deshalb in Zelten, um zu demonstrieren, dass es auf Erden keine bleibende Stadt gibt (11.9–10; vgl. 13.14). Jakob segnet, sterbend über seinen Stab gebeugt, weil sein Glaube weiter reicht als sein Tod (11.21). Aus gleichem Grund blickt Josef, ebenfalls sterbend, auf den Exodus voraus (11.22). Mose hält die „Schmach Christi“Footnote 34 für größeren Reichtum als Ägyptens Schätze, weil er durch Realismus stark ist „wie einer, der den Unsichtbaren schaut“ (vgl. 11.26–27). Am Ende sehen wir jene Glaubenszeugen, denen kein Tod erspart scheint: Prügelfolter, gesteinigt, zersägt, erschlagen und verstoßen—sie, deren die Welt nicht wert war, sind der Verheißung wert und damit einer Sichtweise, die die irdischen Grenzen sprengt (vgl. 11.35b–40). Hier nähern wir uns dem Herzstück der digressio: „Nach Glaubensart starben all diese (κατὰ πίστιν ἀπέθανον οὗτοι πάντϵς). Sie empfingen die Verheißungsgüter nicht, sondern sahen sie von fern, grüßten sie und legten das Bekenntnis ab, Fremdlinge und Beisassen zu sein auf Erden“ (11.13). So verkörpern diese kognitiven Nomaden die Definition des Glaubens in 11.1: Sie sind so sehr vom Unsichtbaren überführt, dass das Ziel ihrer Hoffnung realer ist als die irdische Heimat (vgl. 11.15–16). Sie werden zu Mustergestalten der Eschatologie, denn der Sterbende hat keine andere Zukunft als das Unsichtbare. Wo die Weitsicht weiter reicht als der eigene Tod, ist der Glaube zum Ernstfall geworden. Diese Redefinition von Wirklichkeit vollendet sich im „Anführer und Vollender des Glaubens“ (vgl. 12.1–3). Zum einzigen Mal nennt Hebr (vgl. 6.6) hier das Kreuz. Wenn es unter dem Aspekt der sozialen Marginalisierung (αἰσχύνη) betrachtet wird, schlägt sich darin wieder die Vorbild-Funktion Jesu für die Adressaten nieder. Vor allem aber ist die Motivation für diese contemptio mortis (καταφρονέω) bedeutsam: die vorausliegende Freude. Der Tod ist erneut actus transcendendi, in dem der Sohn sich zur Rechten Gottes setzt. Der nächste Absatz versucht die „seelenschlaffen“ Adressaten durch den eigenen Agon hindurch auf das ὕστϵρον auszurichten (12.11).
Hier berühren wir eines der umstrittensten Felder der Hebr-Forschung: die Eschatologie. Ausleger stoßen auf gespannte Parusie-Erwartung oder individuelles Gericht im Jenseits, wägen ab zwischen perfektischen, präsentischen und futurischen Denkfiguren und ringen um die Frage, ob der Verfasser sich in apokalyptischer Weise ein veritables Himmelsheiligtum vorstellt oder einen Gott, der nach mittelplatonischer Manier die Ewigkeit mit einem einzigen Nῦν ausfüllt (vgl. Plutarch E Delph. 393A). Jede Partei kann Gründe und Texte für ihre Position beibringen; jede muss Inkonsistenzen hinnehmen, mit denen Hebr aber anders als seine Ausleger offenbar zu leben vermag.Footnote 35 Auch die Eschatologie ist ihm ein Wahrheitsspiel, das nicht auf Kongruenz angelegt istFootnote 36 und dem er sich mit Vernetzungsgewinn in multipler Metaphorik nähert. Worauf es ankommt, sind nicht die topographischen und chronologischen Auskünfte, sondern die Zielbilder, ihre poetische Kraft und ihr pragmatisches Potential. Hier wird keine Idee von Endzeit durchgeführt, sondern es werden gleich mehrere, verschiedene Fenster der Lebenswelt für Transzendenzwahrnehmungen geöffnet.Footnote 37 Eschatologie wird von einem Zukunftskonstrukt zu einer perspektivisch entgrenzten Lebensform.
Um der tyrannischen Todesangst zu begegnen, behauptet Cicero, bedarf es der „zahlreichen, bunten und kraftvollen Blickspiele des Geistes an den himmlischen Orten” (Tusc. 1.47–48). Genau diese bietet unser Schreiben. Nicht ohne Grund prägt es die christliche Todesmetaphorik und -poesie bis heute: von der ewigen Ruhe über die Erdenpilgerschaft bis zum Land der Verheißung. Freilich dienen ihm diese spectacula nicht als Verbildlichung postmortaler Existenz, sondern als ermutigende Zielvorgaben für das in der Glaubenswanderung ermattete Gottesvolk. Aber gerade dadurch, dass Hebr das προκϵίμϵνον (vgl. 6.18; 12.2) ins Bild setzt, löst er den Befreiungsanspruch von 2.15 ein. Anders gesagt: Es ist ein kennzeichnender Grundzug des Hebr, dass er vom Ziel her denkt. Stets sind Christus und die Glaubenswanderer in Bewegung gezeichnet, im Transzendieren einer ontischen Grenze, im Modus des προσέρχϵσθαι, ϵἰσέρχϵσθαι, ἐγγίζϵιν Footnote 38 usw. Jeder der drei Hauptteile steht wesentlich im Zeichen von Zielbildern: Im ersten ist es die ewige Sabbatruhe im Verheißungsland, im Zentralteil das Allerheiligste und der Thronsaal; die peroratio schließlich kumuliert die Bilder: Berg Sion und Stadt des lebendigen Gottes, kultische Festversammlung zehntausender Engel, Ekklesia der Himmelsbürger, unerschütterliches Königreich, bleibende Polis (vgl. bes. 12.22–24). Was diesen unterschiedlichen Imaginationen Zusammenhang gibt, sind, karg genug, die Bipolarität zwischen vorläufigem Weg und endgültigem Ziel und der ontische Status des Himmlischen. Aber was ihnen Wirkung gibt, ist ihre affektive Aufladung, ihre ästhetische Bedeutsamkeit. Das Leben als Ganzes wird transitorisch. Der Tod wird im Wortsinn durchschaubar und kann so auch durchstanden werden.
Ich ziehe die zweite Bilanz: Hebr reflektiert die Todesangst nicht; er ordnet sie planvoll in das Christus-Drama ein. Man mag diese Weise, durch symbolisches Ordnungshandeln zur Todesfurcht zu befähigen, als eidetische Soteriologie bezeichnen: Nicht erklärt wird, was das Heil ist, sondern im personalen Bild gezeigt, wo es liegt und wie es ergehbar wird. Christus verkörpert zum einen das Rollenmodell für den bis ans Ende standfesten Glauben; zum anderen öffnet er die Perspektive auf das Ziel, das in wechselnden Bildern und Dringlichkeiten den Adressaten eschatologisch ausrichtet, ihm eine andere Selbst- und Todeswahrnehmung ermöglicht. Diese Zielbilder haben ihre pragmatische Funktion im Rahmen dessen, was die Religionspsychologie als „Terror-Management“ bezeichnet:Footnote 39 Der Tod wird Bestandteil der christlichen Großerzählung und damit einer unverwechselbar-bedeutsamen Geschichte. Er wird relativiert, indem er integriert wird. Er bleibt wichtig, aber verliert seine versklavende Macht als „absoluter Herr“.Footnote 40 Denn er führt nicht in die Beziehungslosigkeit, sondern wird, im Gegenteil, mit allen metaphorischen Farben als Gottesbeziehung vitalisiert. So werden die Adressaten Mitspieler in einem Geschehen, das mit Abel begann, in Christi Menschwerdung seinen Höhepunkt erlangt und das noch immer weiter reicht als ihr Augenmaß. In diesem Sinn hat Eberhard Jüngel die christliche Hoffnung auf die Kurzformel gebracht: „Gott ist mein Jenseits“.Footnote 41
3. Der affektive Kontext: Die rhetorisierte Gerichtsangst
3.1. Mobilisierung von Angst und Redekultur
Auch das Jenseits kann lebenslang versklaven. Nicht nur eine irrationale Freiheit von Todesangst haben die frühesten Beobachter dem Christentum nachgesagt, sondern sie haben es vornehmlich als superstitio wahrgenommen (Tacitus Ann. 15.44.3; Plinius Ep. 10.96.8–9; Sueton Nero 16.2). Damit wird von Theophrast bis Plutarch eine „Feigheit gegenüber dem Göttlichen“ (Theophrast Char. 16.1; vgl. Plutarch Superst. 165B–D) bezeichnet, zumal die irrationale Knechtung durch Jenseitsangst: „Wahrhaft, diese süßliche Leichtgläubigkeit verdirbt das vorzügliche Gut der Natur, den Tod, und verdoppelt noch den Schmerz dessen, der sterben muss, durch die Vorstellung von dem, was danach kommt“ (Plinius d.Ä. Nat. 7.190).
„Was danach kommt“, wird in Hebr an jenen berüchtigten drei Stellen zum Thema, die Gerichts- und Strafangst mobilisieren (6.4–8; 10.26–31; 12.16–17). In allen drei Fällen geht es darum, dass Gott selbst die Umkehr nach dem Glaubensabfall ausschließt und den Abgefallenen endgültig verwirft.Footnote 42 Einen Meilenstein in der Angstgeschichte hat vor allem der Passus 10.26–31 gesetzt.Footnote 43
Auf den ersten Blick haben wir hier, durch das Adjektiv φοβϵρόν (VV. 27, 31) gerahmt, ein Beispiel für jene angstbesetzte Erwartung, die aus der Sicht der Elite der sozialen Randschicht zuzuschreiben ist: quae est anus tam delira, quae timeat ista? (Cicero Tusc. 1.48).Footnote 44 Auf den zweiten Blick sehen wir eine Fülle exegetischer Literatur, die darlegt, der Verfasser meine gar nicht, was er hier sage. Auf den dritten Blick haben wir den Eindruck, dafür, dass es nicht gemeint sei, klinge das Gesagte allzu eindeutig. Auf den vierten Blick sehen wir hier Regeln walten, wie sie die Schulrhetorik für die indignatio oder δϵίνωσις empfiehlt: die Form pathetischen Fragens (Quintilian Inst. 9.2.10), die Betonung des freiwilligen Antriebs, für den es keine Gnade gebe (Cicero Inv. 1.53, § 102; vgl. Rhet. Her. 2.30, § 49), die Autorität des Verletzten und seine verhöhnte Ehre, die Gegenüberstellung cum aliis peccatis, die zeigen soll, dass das jetzt zur Rede stehende Unrecht um vieles furchtbarer sei als das früherer Zeit (Cicero Inv. 1.54, § 104). Vor allem soll die Untat den Zuhörern derart erlebnisförmig dargetan werden, dass diese meinen, selbst zu Augenzeugen zu werden. Erschwerend sei dabei zu zeigen, dass der, der das Unrecht verübe, genau der sei, von dem es am wenigsten begangen werden dürfe. Entscheidungen, so sei zu betonen, seien gemeinhin reversibel, die jetzt zu treffende jedoch keinesfalls, da sie, „wenn sie ein für alle Mal (semel) gefällt worden ist, weder durch irgendein Urteil abgeändert noch durch irgendeine Macht berichtigt werden kann“ (Cicero Inv. 1.53, § 102; vgl. Inv. 1.53, § 100–1.54, § 105; Rhet. Her. 2.30, §§ 48–49). Die pathetische amplificatio muss mit Phantasiebildern (φαντασίαι) das Gemüt der Adressaten derart erregen, dass ihnen eine an sich abstrakte Schuld möglichst konkret vor Augen tritt (vgl. Quintilian Inst. 6.2.24, 29–36; 8.3.88; 10.7.15). So aufgewühlt unser Passus also wirkt, so nüchtern ist der pragmatische Zweck: Die δϵίνωσις führt den parteiischen Abneigungsschauder herbei und soll damit in einer offenen Entscheidungskultur vom falschen Entschluss (im Wortsinn) ab-schrecken.
Hebr ist eine Überzeugungsrede, die Christen zu standfestem Glauben ermutigen und von der Preisgabe des Christseins abhalten will. Erster Leitaffekt deliberativer Reden ist der metus (vgl. Quintilian Inst. 3.8.12; ferner Aristoteles Rhet. 2.5.13–22; Cicero De or. 2.42, § 178; Isidor von Sevilla Orig. 2.4.4). Nun wendet sich der Vf. mit V. 31 selbst schaudererregt ab und die durch metus angelegte Spannung gleitet im nächsten Schritt der Hörerführung in den zweiten deliberativen Leitaffekt über: die spes. Auf das apokalyptische Schreckensszenario folgt unmittelbar, abermals nach gängiger Schulrhetorik, die mitigatio, die Abmilderung durch Hinweis auf die frühere Lebensweise.Footnote 45
Punkt für Punkt werden in VV. 32–38 die Kontraste gesetzt: Tod und Leben, Rache und Belohnung, Preisgeben und Bewahren, schauderhafte Erwartung und freudiger Freimut. Der metus wird in einer theologischen Hypothesenbildung mobilisiert, die spes in erfahrungsgebundener Rückbesinnung: der hinsichtlich der Gemeinde-Frühzeit ebenfalls veranschaulichten memoria virtutum. In Bezug auf die konkreten Adressaten mündet die affektive Dynamik beider Teile in eine Beschreibung der Zugehörigkeit (Gen. pertinentiae) oder des Charakters (Gen. qualitatis) mit Finalkonstruktion: „Wir aber gehören nicht zu denen, die zurückweichen zum Verderben, sondern die glauben zur Bewahrung der Seele“ (10.39). Der metus-Teil demonstriert: „Eine künftige Umkehr ist unmöglich“, der spes-Teil richtet auf: „Eine künftige Umkehr ist unnötig“.
Ist diese Beobachtung sachgerecht, muss sie sich an den anderen pathoshaltigen Spitzentexten bewähren. 6.4–8 (metus) mit seinem kraftvollen ἀδύνατον zur künftigen Umkehr und 6.9–12 (spes) sind in der Aussagerichtung ähnlich und in der Funktion gleich angelegt. Der Vf. macht es uns insofern leicht, als er die mitigatio beim Übergang von der hypothetischen metus- zur memoria-bezogenen spes-Passage als adressatenbezogenen Widerruf formuliert: „Überzeugt sind wir aber, was euch, ihr Geliebten, betrifft, von dem, was besser ist und zum Heil führt, wenn wir auch so reden“ (6.9).Footnote 46 Nachdem er in 12.16–17 das dritte Mal eine künftige Umkehr ausgeschlossen hat,Footnote 47 versichert der Vf. seinen Adressaten im Perfekt, sie seien nicht zu jenem Berg hinzugetreten, an dem selbst Mose von φόβος καὶ τρόμος ergriffen wurde (vgl. 12.18–21), sondern mit allen Bürgerrechten in das Fascinosum des Himmels selbst (12.22–24). Freilich, auch die, die das „unerschütterliche Königreich“ empfangen, verlieren das „verzehrende Feuer“ nicht aus dem Blick, mit dem das abschließende Theophanie-Motiv (vgl. Dtn 4.24) Gott gleichsetzt (12.28–29). Der „suspense“-Effekt bleibt. Doch die Haltung der Glaubenden μϵτὰ ϵὐλαβϵίας καὶ δέους entspricht jetzt jener Ehrfurcht, die auch Jesus gezeigt hat (vgl. 5.7–10) und die, wie Jesus, letztlich die Adressaten im Dialograum des Psalters verortet: „sodass wir Mut haben zu sagen: Der Herr ist mir Helfer. Ich werde mich nicht fürchten (οὐ φοβηθήσομαι)“ (13.6 mit Ps 117.6LXX).Footnote 48
Gerichtsangst wird also nicht entkräftet, sondern durchgespielt. Apokalyptische Bilder gewinnen das ästhetische Moment eines vorläufigen Verweilens. Die Hörer lassen sie hinter sich, freilich so, dass die spes nicht apodiktisch wird. Jedoch mäßigt sie die extremreligiöse eschatologische Angst zur moderatreligiösen Furcht.Footnote 49 Sie geht in jenem christlichen Existential auf, das Hebr an Schaltstellen der Leserlenkung (3.6; 4.16; 10.19, 35) mit einem rhetorischen Wertbegriff παρρησία nennt: Unerschrockenheit gegenüber menschlicher Macht und Mehrheit und geschenkte Zuversicht gegenüber dem heiligen Gott.
3.2. Wie unmöglich ist die zweite Umkehr?
Die Rezeptionsgeschichte unserer drei Drohtexte verrät viel über christliche Lektüreweisen und wohl auch einiges über die Entwicklung der Redekultur: Gerade im kirchlichen Umfeld drängte die Verkündigung von Wahrheit und deren epideiktischer Preis die deliberative Rhetorik zurück. Drei Tendenzen sind zu unterscheiden: (a) Die erste, für die etwa Tertullian (Pud. 20) steht, nahm die Absage an die zweite Umkehr wörtlich und fand rigoristische Freude an ihr. (b) Die großkirchliche Auslegung war seelsorgerlich darum bemüht nachzuweisen, dass die Texte ganz anderes bedeuten, als der Wortlaut nahelegt. Die bis heute fortgesetzten Versuche sind eher zahlreich als triftig. (c) Der philologische und theologische Ernst der Neuzeit—hier ist wegweisend Luther zu nennen—gelangte zu einem anderen Resultat: Der Vf. meint tatsächlich, was er sagt; die Aufgabe des Auslegers ist die der Sachkritik.
Nun setzt Sachkritik voraus, dass der Ausleger näher an der Sache ist als die Texte, die von ihr handeln, und über Kriterien verfügt, die sich aus dem Verfahren historischer Sinnerhebung jedenfalls nicht ergeben. Die rhetorische Analyse mag hier insofern einen Beitrag leisten, als sie vom spezifisch neuzeitlichen Pathos der Wahrhaftigkeit zur antiken Diskussion zurückblendet, die eher um die Wahrhaftigkeit des Pathos kreist. Die Grenzen zwischen veritas und utilitas, dem affektiven Spiel und der Durchsetzung von Wahrheitsansprüchen sind in der antiken Diskussion fließender, als es intellektueller Redlichkeit heute billig scheint.Footnote 50 Zeitgenössisch hat sich Quintilian eingehend mit dieser Frage befasst, und er kann heuristisch den Blick für die „Sache“ des Hebr öffnen. Zur indignatio gehört die Selbstaffizierung des Redners: Die ganze Kunst des Pathos liegt nach einem Schlüsseltext (Inst. 6.2.25–36; ähnlich Cicero De or. 2.45–46, §§ 189–191) darin, jene Gefühlswirkungen, die man erregen will, selbst mit allem Ernst zu empfinden und ihnen sein ganzes Wesen hinzugeben. Was der Wahrheit gleichen soll, muss sich der Leidenschaft einprägen: „Nichts entfacht den Brand außer Feuer“ (6.2.28; vgl. 10.7.15; 11.3.61–62; 12.1.29–31; Cicero Or. Brut. 38, §§ 131–132); oft habe er Schauspieler noch weinen sehen, nachdem sie die Maske abgelegt hätten (6.2.35). Und so laute die erste Regel, sich von dem, was man pathetisch sage, so ergreifen zu lassen, als sei es wahr.Footnote 51 Der pathetische Ausschluss der künftigen Umkehr, so gesehen, ist tamquam verum. Der Redner glaubt an sie, als sei sie wahr.
Die verbreitete Faustregel lautet zugleich: ἦθος perpetuum, πάθος temporale (6.2.10). Eine Weile (parumper) soll sich der Redner die Empörung zu eigen machen (vgl. 6.2.34). Die drei metus-Passagen entfalten ihre affektive Wirkung also gerade in gezielter Vorläufigkeit. Dann aber ist es eine Fehlentscheidung, wenn man sie aus ihrer pathetischen Sequenz herausnimmt, isoliert betrachtet und auf ihren propositionalen Gehalt als dogmatische Aussage oder bußrechtliche Weisung hin liest. Aus dem heilsamen Schrecken wurde so die schreckliche Heillosigkeit. Erst dort entstand der „harte Knoten“, wo man den Textfaden nicht weiterverfolgte. Jedenfalls haben die je nachfolgenden spes-Passagen rezeptionsgeschichtlich keine annähernd vergleichbare Aufmerksamkeit gewonnen. Doch auch in ihnen dürfte der Redner gemeint haben, was er sagte: dass er im Blick auf seine Adressaten von ganz anderem überzeugt sei, und genauso ἀδύνατον wie die künftige Umkehr ist es am (rhetorischen) Ende, dass Gottes Verheißung täuscht (vgl. 6.18). Seine letzte Wahrheit hat der Redner auch damit nicht verkündet. Letztwahrheiten sind nicht die Sache deliberativer Redner. Rhetorik ist eine pragmatische Kunst.
So wage ich abschließend eine Spekulation: Hätte der Auctor ad Hebraeos situativ vor dem Problem der zweiten Umkehr gestanden, wäre seine Lösung ebenfalls pragmatisch gewesen. Wie gnädig der Wohltäter am Ende zu sein hat, hätte er aus Sicht der Heilsempfänger tunlichst offen gelassen, aber im konkreten Fall für eine nützliche Lösung plädiert. Im, wie ich vermute, benachbarten stadtrömischen Milieu klingt die Antwort des Hirt des Hermas bezeichnend: „Unmöglich (ἀδύνατον) ist es, dass der, der im Begriff steht, jetzt seinen Herrn zu verleugnen, gerettet wird. Für jene jedoch, die einst verleugnet haben, scheint es Umkehr zu geben! Wenn einer also im Begriff steht, Umkehr zu tun, beeile er sich…!“ (Herm. Sim. IX 26.6; vgl. Vis. III 5.5).
Ich ziehe die dritte Bilanz: Die deliberative Strategie führt ihre Hörer gezielt in die parteiische Gerichtsangst. Sie führt sie unmittelbar danach ebenso gezielt aus ihr hinaus. Apokalyptisches Bildgut wird eingesetzt, um lege artis Befreiung zu inszenieren. Wo man im pathetischen temporale den Anspruch auf das theologische perpetuum verortet, verfehlt man die affektzentrierte Hörerführung, das rhetorische Wahrheitsspiel und die Wirkabsicht des Hebr.
Angst, so hatten wir eingangs gesagt, ist ein Indikator religiösen Selbstverständnisses. Hebr bemüht sich, die Angst vor dem Tod, ein Erbteil des Menschen, in den Sinnkosmos der christlichen Großerzählung zu integrieren. Zu seinem Erbteil gehört—ob wir wollen oder nicht—auch die jüdisch-christliche Gerichtsangst. Er hat sie nicht beseitigt, aber er hat sie durch den Gegenaffekt gezügelt, rhetorisch dienstbar gemacht, in eine vielschichtige Deutungsoffenheit überführt und so kultiviert. Die letztgültige Wahrheit über Tod und Gericht hat er damit nicht verkündet. Neuzeitliche Theologie rechnet mit der Unveränderlichkeit von Wahrheitsansprüchen. Deliberative Rede rechnet mit der Veränderlichkeit wahrheitsfähiger Hörer. Ihr—vielleicht zwiespältiger—Charme liegt nicht zuletzt darin, dass sie niemals glaubt, das letzte Wort zu haben.