1. Dissens hinsichtlich der ἔργα νόμου
Gegen etablierte interpretative Ansätze anzugehen, mag manchmal reizvoll sein, aber es ist—das lässt die Wissenschaftsgeschichte unschwer erkennenFootnote 1—auch ein harter Job. Denn die Zahl derjenigen, die sich lieber in den gewohnten Gleisen bewegen und sich deshalb gegen ‘Neuerungen’ stellen, ist natürlich erst einmal in der Mehrheit, also ziemlich groß. Dieses Dilemma ist jedenfalls denjenigen nicht ganz unbekannt, die dem Impuls, in der Exegese eher Neues zu wagen, schon einmal nachgegeben haben.
Bei der Diskussion um das Syntagma ἔργα νόμου hat man eine solche Spannung erneut zu konstatieren. Sie scheint hier noch besonders heftig zu sein.Footnote 2 Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Debatte um die Neue Paulusperspektive seit mehreren Jahren mit einiger Vehemenz geführt wird, und in diese Auseinandersetzung ist auch die Frage nach der Interpretation des erwähnten paulinischen Ausdrucks verwickelt. Friedrich Wilhelm Horn formuliert das so: ‘Die genaue Bestimmung dessen, was unter ἔργα νόμου zu verstehen sei, hat der sog. new perspective ein Thema gegeben, an dem alle Fragestellungen, die sie hervorgebracht hat, auf seltsame Weise konvergieren.’Footnote 3
Unter Exegeten, welche die Neue Perspektive eher begrüßen, ist immerhin soviel recht klar: Das paulinische Syntagma meint nach ihnen nicht, wie es sehr oft begriffen worden ist, allgemein die ‘guten Werke’ (und auch nicht: die ‘bösen Werke’),Footnote 4 sondern Anderes, Spezielleres: etwas, das irgendwie mit der ‘Grenze’ zwischen Juden und Nicht-Juden zusammenhängt.Footnote 5 Aber schon da gibt es gewisse Meinungsunterschiede. James D. G. Dunn etwa denkt hier nämlich sowohl an das menschliche Handeln als auch an (bestimmte) Halakhot;Footnote 6 Klaus Haacker spricht von ‘vom Gesetz vorgeschriebenen (spezifisch jüdischen kultischen) Handlungen’,Footnote 7 und ich selbst beziehe die Genitivverbindung auf ‘die Regelungen des Gesetzes’, auf ‘die zu beobachtenden … hlkwt’.Footnote 8 Diese Interpretationsvarianten will ich im vorliegenden Beitrag nicht (erneut) behandeln.Footnote 9
Vielmehr soll allein ins Auge gefasst werden, dass derjenige Vorschlag, der den Ausdruck von so etwas wie Halakhot begreift—von Halakhot, die als solche natürlich auf Einhaltung (oder auch: auf Übertretung), auf entsprechendes Tun (oder: auf Nicht-Tun) hin angelegt sindFootnote 10—gerne zurückgewiesen wird. Einige Namen und Beispiele mögen genügen:Footnote 11 Simon J. Gathercole und Martinus C. de Boer lehnen die Halakhot-Interpretation mit dem Hinweis auf die Bedeutung des Verbs עשה und des Substantivs מעשה bzw. מעשים ab.Footnote 12 François Vouga und Udo Schnelle monieren, dass bei jener These das spezifisch paulinische ἐκ (in ἐξ ἔργων νόμου) nicht in Rechnung gestellt werde (das bei der gerne geltend gemachten Parallele in 4QMMT C27 [מקצת מעשי התורЛה] keine Entsprechung finde),Footnote 13 während Walter Klaiber äußert: ‘im Grunde ist es … schwierig nachzuvollziehen, dass jemand meinen könnte, durch “Vorschriften des Gesetzes” gerechtfertigt zu werden!’Footnote 14 Jörg Frey sagt zwar, dass man den (paulinischen) Ausdruck ‘am ehesten mit “Vorschriften” übersetzen’ könne, ergänzt indes: ‘Vorschriften und ihre Befolgung lassen sich nicht voneinander trennen’.Footnote 15 Am heftigsten und auf nicht weniger als 40 Seiten hat Otfried Hofius die Halakhot-Interpretation zurückgewiesen.Footnote 16 Dieser Autor scheint dabei auch durch Folgendes bestimmt zu sein: ‘Das rechte Verständnis der Worte ἔργα νόμου ist’, wie er formuliert, ‘nicht zuletzt deshalb von erheblichem theologischen Gewicht, weil Paulus diesen Ausdruck sowohl im Galater- wie im Römerbrief in einem Fundamentalsatz seiner Soteriologie und Rechtfertigungslehre verwendet’,Footnote 17 nämlich in Gal 2.16 und in Röm 3.20.
Ehe gleich bestimmte Aspekte dieser Stellungnahme seitens des bekannten Tübinger Neutestamentlers betrachtet werden sollen—es sind, wie mir scheint, zugleich bemerkenswerte Schwächen seiner Argumentation—, sei kurz und in zugespitzter Weise auf die zuvor angesprochenen Voten eingegangen: Was עשה und מעשה bzw. מעשים angeht, so lässt sich erwidern, das Syntagma מעשי התורЛה (bzw. das Syntagma ἔργα νόμου) selbst und der (jeweilige) Kontext verdiene mehr Beachtung.Footnote 18 Zum ἐκ ist u.a. zu sagen, dass es eine hebräisch-aramäische Vorgeschichte hat, auch an der wichtigsten Parallelstelle zum paulinischen Ausdruck, in 4QMMT C27 also, wo es nämlich מקצת מעשי התורЛה heißt (und wo eben mit מЛקצת eine Entsprechung zu ἐκ gegeben ist).Footnote 19 Und wenn man nachvollziehen kann, dass Menschen ἐκ πίστεως Xριστοῦ oder ἐν Χρıστῷ Rechtfertigung zu erlangen suchen (s. nur Gal 2.16–17), fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, statt (oder neben) Christus ließe sich eine andere Heilsquelle annehmen, etwa die von Gott gewährte Tora, der νόμος (vgl. Gal 2.21b; 3.2, 5, 21c).Footnote 20 Zur angeblich nicht möglichen Separierung zweier Bedeutungen—‘Vorschriften’ und deren ‘Befolgung’—mag man im Übrigen die bekannte Formulierung ‘Der Weg ist das Ziel’ assoziieren, auch: ‘The Medium is the Message’ (M. McLuhan). Solche Sprüche sind in kirchlichen Kreisen bekanntlich recht beliebt, und sie sind ja auch ganz witzig, indes doch eben deshalb, weil sie zwei deutlich distinkte semantische Momente künstlich verbinden, ja, irgendwie für identisch erklären. So etwas sollte man aber in der Regel vermeiden, jedenfalls dann, wenn nicht, um es mit U. Eco zu sagen, ‘ein Gauklertrick’ beabsichtigt ist.Footnote 21 Wo er nicht intendiert ist, sondern wo eine solch heikle Gleichsetzung eher unterläuft, kommt es möglicherweise zur Selbsttäuschung.
Merkwürdige Gleichsetzungen sind m.E. ein Hauptproblem auch in dem angesprochenen Aufsatz von O. Hofius. Charakteristisch ist eine Formulierung gegen Beginn seines Beitrags. Der Tübinger Neutestamentler umreißt da das, was er verteidigen will. Es gehe bei ἔργα νόμου, so Hofius, ‘um “Taten”, die in der Tora gefordert werden, bzw. um ein “Tun” und “Verhalten”, das den Vorschriften der Tora entspricht.’Footnote 22 Gerade das Wörtchen ‘beziehungsweise’ fügt jedoch etwas zusammen, was wohl besser zu trennen wäre. Ob ‘“Taten”, die in der Tora gefordert werden’, wirklich geschehen, ist ja bekanntlich und beklagenswerterweise oft die Frage—etwa, wo Nächstenliebe gefordert wird (vgl. nur Lev 19.18)—. Insofern sind ‘“Taten”, die in der Tora gefordert werden’, zunächst Dinge, die ihren Platz in der Tora haben, und sie sind darum vom konkreten ‘“Tun” und “Verhalten” …’ deutlich zu unterscheiden.
Es scheint schon deshalb sinnvoll, sich einigen Momenten der ἔργα-νόμου-Argumentation gerade auch bei Hofius zuzuwenden. Die Grundfrage dabei soll sein: Geht es bei diesem griechischen Ausdruck (und geht es analog bei מעשי התורה) um Präskriptives oder um (ihm entsprechendes [oder: widersprechendes]) Handeln?
2. Die ἔργα νόμου bei Paulus
a. Hofius äußert: ‘In eine detaillierte Diskussion der umfangreichen Sekundärliteratur zum Thema ἔργα νόμου trete ich [Hofius] … sehr bewusst nicht ein.’Footnote 23 Das kann man verstehen. Für unsere Zwecke freilich ist es nicht unwichtig, dass von mehr als einem Exegeten gegen die traditionelle Interpretation votiert wird. Sie ist in der Neuzeit jedenfalls schon von Ernst Lohmeyer in Frage gestellt worden. Der spricht (1929) z.B. davon, das bei Paulus mit der Wendung Gemeinte sei ‘nicht als Geleistetes, sondern als zu Leistendes, vom Gesetz Gefordertes’ zu begreifen.Footnote 24 Hofius notiert dies übrigens und auch, dass ebenso Roland Bergmeier—der dabei, wie eigens gesagt sei, durchaus selbständige Wege gegangen ist und gehtFootnote 25—den Ausdruck ἔργα νόμου auf von der Tora Gebotenes hin deutet.Footnote 26 Es lässt sich überdies, auch wenn man von den oben bereits erwähnten Autoren, J. D. G. Dunn, K. Haacker und J. Frey, absieht,Footnote 27 eine recht bemerkenswerte Liste von Exegeten geltend machen, bei denen das paulinische Syntagma auf Präskriptives bezogen wird. Zu ihr gehören beispielsweise noch: David Flusser, Holger Sonntag, Romano Penna, Johannes Woyke, Volker Stolle, Mogens Müller und Ulrich Wilckens.Footnote 28 Der zuletzt Genannte etwa formuliert in seiner ‘Theologie des Neuen Testaments’ ganz unmissverständlich: ‘Mit dem Ausdruck “Gesetzeswerke” (ἔργα νόμου) ist nicht das gemeint, was einer in Befolgung der Toragebote getan hat, seine “Werke” als die von Gott geforderte “Leistung”, die er erbringen müßte, um von Gott als Gerechter anerkannt zu werden. Vielmehr geht es um das, was die Tora zu tun gebietet, ihre “Rechtssatzungen” (Röm 1,32).’Footnote 29 Betrachtet man dieses Fähnlein der Abweichler—und solche gab es übrigens auch schon in früheren ZeitenFootnote 30—, so könnte sich mit ihm jedenfalls in unseren Tagen durchaus so etwas wie ein nun anstehender Paradigmenwechsel abzeichnen.Footnote 31 Die Zahl der Beharrenden, der gegenwärtig, wie es scheint, um so nachdrücklicher Beharrenden, ist indes, wie gesagt, groß.Footnote 32
b. Was den Bestand an Paulus-Belegen angeht, stimmen freilich die Abweichler mit den eher Beharrenden glücklicherweise überein: Das Syntagma kommt bei Paulus (pluralisch) in den sechs Versen Gal 2.16; 3.2, 5, 10; Röm 3.20, 28 vor, und zwar insgesamt achtmal; dabei heißt es siebenmal ἐξ ἔργων νόμου, einmal, in Röm 3.28, χωρὶς ἔργων νόμου. Die betreffenden Kontexte hier sämtlich noch einmal zu exegesieren,Footnote 33 ist nicht beabsichtigt.
Ein Exempel sei jedoch immerhin kurz diskutiert. Es betrifft Gal 3.10.Footnote 34 Hofius versucht bei diesem Vers, das nomen regens des Ausdrucks ἔργα νόμου gerade auch dadurch unmittelbar auf das Handeln zu beziehen, dass er eine Korrespondenz zu dem Verb ποιη῀σαι von V. 10b bzw. von Dtn 27.26 behauptet.Footnote 35 Der Apostel übernimmt freilich dieses Wort ‘einfach’ aus der griechischen Bibel, und zwar ohne besondere Akzentuierung. Aber durch zwei nun doch ziemlich auffällige Abweichungen wird für eine gewisse Entsprechung just zum Neutrum ἔργα gesorgt: und zwar durch γεγραμμένα (statt λόγοι) und durch αὐτά (statt αὐτοῖς)—wie denn das αὐτά, auch in V. 12b (und wohl auch in Röm 10.5) gegen den Septuagintawortlaut von Lev 18.5 gesetzt scheint. Die Folgerung liegt nahe, dass bei den ἔργα an die derartig betonten schriftlichen Anweisungen gedacht ist, und zwar um so mehr, als Paulus auch den Genitiv νόμου unseres Syntagmas in Gal 3.10b sozusagen künstlich einbringen wird. Er spricht ja (anders als Dtn 27.26LXX) nicht von ‘diesem Gesetz’ (was dort vermutlich das Buch Deuteronomium [oder: Dtn 5-30/34] meint), sondern, unter Verwendung des Genitivs, von dem ‘Buch des Gesetzes’, τοῦ νόμου. Der Ausdruck ἔργα νόμου wäre danach in Gal 3.10 nicht vom toragemäßen Tun, sondern von Tora-Forderungen zu verstehen. Allerdings stellt sich die Frage, ob das, traditionsgeschichtlich gesehen, überhaupt denkbar ist.
3. Traditionsgeschichtliches
a. Es scheint, ehe wir uns einigen wenigen Beispielen zuwenden, sinnvoll, zunächst einen schon locker gestreiften Sachverhalt zu bedenken: Es handelt sich darum, dass die acht paulinischen Belege für ἔργα νόμου bislang die frühesten im griechischsprachigen Bereich nachgewiesenen für diese Genitivverbindung sind und dass ihnen im hebräischen Schrifttum der Antike immerhin der ganz analoge Ausdruck מעשי התורЛה vorausgeht, hier belegt (sehr wahrscheinlich:) allein in einem wichtigen halakhischen Schreiben der ‘Qumran-Gemeinde’, in 4QMMT (und zwar in der Zeile C27).Footnote 36 Beim hebräischen und beim griechischen Syntagma werden wir es also mit etwas zu tun haben, das man wohl jeweils mit dem Terminus ‘Neologismus’ bezeichnen darf. Schon von daher ist es sehr fraglich, ob Hofius die Weichen richtig stellt, wenn er gegen Beginn seiner Stellungnahme das Folgende formuliert: ‘Die sprachliche Analyse und damit auch die angemessene Übersetzung der Genitivverbindung ἔργα νόμου entscheidet sich am Verständnis des Nomen regens ἔργα.’Footnote 37 Der Satz ist jedenfalls dann heikel, wenn er, und eben das ist bei Hofius de facto der Fall,Footnote 38 so begriffen wird, als gehe es nicht zuletzt darum, sich mit der Bedeutung des Einzelwortes מעשים (bzw. מעשה) und des Einzelwortes ἔργα (bzw. ἔργον) zu befassen. Das geht im Übrigen—selbst abgesehen von dem schon geltend gemachten Neologismus-Sachverhalt—auch deshalb nicht an, weil es häufig eben durch ein zu einem Nomen hinzutretendes (attributives) Substantiv zu einer Monosemierung kommt, die überdies inhaltlich nicht selten recht erstaunlich wirkt.Footnote 39 Dieser Tatbestand ist semasiologisch schwerlich zu bestreiten.Footnote 40 Man braucht, um ihn ansatzweise nachzuvollziehen, lediglich die Vokabel ‘Stein (λίθος)’ mit dem Syntagma ‘Stein des Anstoßes (λίθος προσκόμματος)’ etwa von 1 Petr 2.8 zu vergleichen. Bei der längeren Formulierung geht es ja offenkundig nicht mehr eigentlich um einen Gegenstand aus dem Bereich der Mineralogie. (Bei diesem Ausdruck steht, nebenbei gesagt, [ebenfalls] eine hebräische Formulierung im Hintergrund, nämlich אבן נגף, belegt bekanntlich in Jes 8.14.) Unser Interesse muss insofern weniger dem Einzelwort מעשים (bzw. מעשה) oder dem Einzelwort ἔργα (bzw. ἔργον) gelten als vielmehr Syntagmen, zu denen das Wort מעשים (bzw. מעשה) oder das Wort ἔργα (bzw. ἔργον) gehört.Footnote 41
b. Aus dem Neuen Testament sei da allein Offb 2.26 noch etwas näher betrachtet (vgl. jedoch ferner immerhin Joh 6.28). Im Schreiben an die Gemeinde in Thyatira sagt der ‘Sohn Gottes’ (Offb 2.18) hier zunächst: καὶ ὁ νıκῶν καὶ ὁ τηρῶν ἄχρι τέλους τὰ ἔργα μου, und er verheißt dem so charakterisierten Menschen sodann, dass er, Christus, ‘ihm [einem solchen Menschen] Macht über die Völker geben’ werde. Schon das Futur δώσω spricht dafür, dass Hofius anfänglich noch durchaus richtig deutet, wenn er sagt: Es ‘bezeichnet τηρεῖν τὰ ἔργα μου das konsequente Festhalten an dem … geforderten Tun’.Footnote 42 Das wird ja auch dadurch gestützt, dass fraglos eine enge Berührung zur Wendung τηρεῖν τὰς ἐντολὰς τοῦ θεοῦ z.B. von Offb 12.17 (und außerdem von 14.12 [vgl. 3.8, 10, ferner 1.3; 3.3; 22.7, 9]) vorliegt.Footnote 43 Aber ‘das geforderte Tun’ ist an unserer Stelle nicht anders, als es in Offb 12.17 die ἐντολαί sind, vom Tun selbst unterschieden, das hier ja jeweils eigens mit τηρεῖν bezeichnet wird. ‘Das geforderte Tun’ meint also, anders als Hofius alsbald suggeriert,Footnote 44 sehr wohl so etwas wie ‘die’ zu tuenden, zu erfüllenden ‘Gebote’, und bei τὰ ἔργα μου ist dementsprechend durchaus an ‘meine [Christi] Gebote’ zu denken.Footnote 45 Übrigens nennt auch F. Avemarie den Vers Offb 2.26 im Zusammenhang des Semems ‘Gebot’.Footnote 46 Schon diese eine Stichprobe zwingt also dazu, Hofius' sonores Votum zum antiken griechischsprachigen Schrifttum in Frage zu stellen. Es lautet: ‘Kein einziger dieser Texte liefert einen überzeugenden Beleg für die Behauptung, daß ἔργον im Griechischen auch die Bedeutung “Gebot” haben könne.’Footnote 47 Nun, das Syntagma τὰ ἔργα μου von Offb 2.26 ist nach dem Beobachteten ein Gegenbeweis!
c. Ganz ähnlich verhält es sich auch sonst gelegentlich. Avemarie führt im eben angesprochenen Kontext auch Ex 18.20 auf.Footnote 48 Aber die hier in dezidiert juristischem Zusammenhang (Ex 18.13–26) begegnende Formulierung τὰ ἔργα, ἃ ποιήσουσιν bietet doch keine ἔργα einschließende Genitivverbindung, und deshalb soll diese Stelle im vorliegenden Beitrag nicht weiter erörtert werden.Footnote 49 Immerhin sei aber doch darauf hingewiesen, dass auch hier ein Verb, das Verb ποιεῖν, eigens neben ἔργα erscheint und dass die Wendung τὰ ἔργα κτλ. überdies in einer Reihe steht mit τὰ προστάγματα τοῦ θεοῦ, mit ὁ νόμος αὐτοῦ und mit αἱ ὁδοί, ἐν αἷς πορεύσονταı ἐν αὐταῖς—wobei die Wege bemerkenswerterweise vom πορεύεσθαι unterschieden werden.
Anders als in Ex 18.20 findet sich beispielsweise in TestLev XIX.1 ein (substantivisches) Syntagma mit ἔργα als voranstehendem Nomen, nämlich ἔργα Βελιάρ. Diese Formulierung gehört hier zu der Aufforderung Levis an seine Nachkommen: ‘… Wählt euch das Licht oder die Finsternis, das Gesetz des Herrn oder die Werke Beliars’. Der darin zum Ausdruck kommende ‘Dualismus’Footnote 50 lässt nicht nur eine Negativ-Entsprechung zwischen ‘Licht’ und ‘Finsternis’ sowie zwischen ‘Gott’ und ‘Beliar’ erkennen, sondern vermittelt auch den Eindruck einer (positiven) Relation zwischen νόμος und ἔργα. Davon (genauer: von einer ‘Gleichung’Footnote 51) will Hofius freilich nichts wissen (‘keineswegs’Footnote 52), und das, obwohl es an ähnlichen Gegenüberstellungen und Entsprechungen nicht fehlt. Er verweist für seine Einschätzung auf V. 2 (von TestLev 19): ‘Wir wollen vor dem Herrn nach seinem Gesetz wandeln’. Es scheint jedoch inkorrekt, daraus mit dem Tübinger Exegeten zu folgern: ‘die ἔργα Bελιάρ sind demgegenüber das gottlose Verhalten, das in dem Tun Beliars sein Vorbild hat und sich von diesem bestimmen läßt.’Footnote 53 Nein, die Nachkommenschaft Levis wählt von zwei einander entgegenstehenden Möglichkeiten, V. 1, die positive, und ihr gemäß will sie ‘wandeln’, will sie handeln, V. 2. Das Handeln ist gegenüber dem Präskriptivem (ἢ νόμος κυρίου ἢ ἔργα Βελιάρ) ein Zweites.
Weitere griechischsprachige Zusammenhänge brauchen im vorliegenden Beitrag nicht diskutiert zu werden. Vermerkt sei indes, dass die Josephus-Formulierung τὰ τῶν ἀλλοεθνῶν ἔργα von Ant. XII.41 und ebenso das dreimalige τὸ ἔργον (bzw. τοὖργον) von Ant. XX.38–46 sehr wahrscheinlich auf Präskriptives zu beziehen ist und ebenso der in § 41 verwandte Plural—der Singular (Ant. XX.42, 43, 46) übrigens auf die Beschneidungsvorschrift –.Footnote 54 Auch ohne das ist insbesondere mit Offb 2.26 und TestLev 19.1 hinreichend deutlich: ἔργα kann zumindest als nomen regens eines Syntagmas und jedenfalls im jüdisch beeinflussten griechischsprachigen Schrifttum der Antike Vorschriften, Regelungen meinen.Footnote 55
d. Dahinter könnte man das Hebräische vermuten. Daran lässt auch die zu ἔργα νόμου parallele Wendung in 4QMMT C27 denken, die ausgerechnet einem halakhischen Schreiben angehört.Footnote 56 Elisha Qimron bietet an dieser ‘Qumran-Stelle’ (zusammen mit John Strugnell) bemerkenswerterweise die Übersetzung: ‘precepts of the Torah’,Footnote 57 und er verweist dafür auch auf Literatur.Footnote 58 Im Übrigen sagt er dazu: ‘The word מעשים with this meaning in MH has been largely discussed’.Footnote 59 Hofius konsultiert die von Qimron genannten Arbeiten nun freilich nichtFootnote 60 (und er lässt letztlich auch David Flussers in die gleiche Richtung weisende Aussagen außer AchtFootnote 61). Aber es scheint doch vernünftig, sich der Frage zuzuwenden. Das soll hier nun in aller Kürze geschehen:
α. Was das von Qimron für מעשים behauptete Semem angeht, so sagt Hofius, ‘daß in den mir [Hofius] zugänglichen Lexika eine entsprechende Bedeutung nirgends notiert wird.’Footnote 62 Dem kam man wohl für ‘the laws or commandments of the Bible’Footnote 63—bei Ton auf ‘Bibel’—zustimmen. Mit Blick auf Präskriptives allgemein hält die Aussage der Nachprüfung indes fraglos nicht stand.
Jacob Levy ‘notierte’ schon 1883 zu Beginn seines מעשה-Artikels u.a. für yQid 63d: ‘Лמעשה בית דין eine That, Abmachung des Gerichtes’, und gegen Schluss verweist er auf die Wendungen מעשה מירכבה (u.a. bBB 134a) und מעשה בראשית (u.a. mHag 2.1), die er mit ‘die Geschichte der Merkaba (des Gotteswagens), d. h. die Theogonie’, und mit ‘die Schöpfungsgeschichte, Kosmogonie’, wiedergibt.Footnote 64 Das scheint doch ziemlich bemerkenswert! Eine ‘That, Abmachung des Gerichts’ mag ja, wie eigens angesprochen sei, von (Personen) dieser Einrichtung vollzogen worden sein; aber von da an hat man dann an etwas Vorliegendes zu denken, an eine ‘gerichtliche Urkunde’, an ein ‘gerichtliches Schriftstück’, dem natürlich überdies rechtliche Verbindlichkeit zukommt.Footnote 65 Anders ausgedrückt: Eine gerichtliche Entscheidung ist auch eine rechtliche Regelung.
Wilhelm Bacher, von Hofius ebenfalls konsultiert, führt im Übrigen weitere beachtenswerte Formulierungen an, nämlich מַעֲשֵׂה הַפׇּרׇשׇׁה (u.a. Sifre zu Num 6.23 [11b30]), ‘der Inhalt des Abschnitts’, und בִּשְׁעַת מַעֲשֶׂה (u.a. Sifre zu Num 5.1 [1a10]), von ihm umschrieben mit ‘im Zeitpunkt, für welchen das Gebot thatsächlich gegeben wurde’—das ‘Gebot’!Footnote 66 An weiteren wichtigen Indizien fehlt es, wie angedeutet, in der von Qimron geltend gemachten Literatur nicht.
Aber auch ohne diese Aufsätze hier durchzugehen,Footnote 67 ist deutlich: מעשה (bzw. מעשים) als Element eines Syntagmas kann im rabbinischen Bereich Präskriptives meinen, und ohnehin ist ja—auch Hofius—bekannt: Das Wort ‘bezeichnet’ hier, wie F. Avemarie sagt, nicht eben selten ‘den rechtlichen Präzedenzfall’ (z.B. mBer 2.5).Footnote 68
β. Das findet sich zwar so in der Bibel, im Alten Testament, nicht. Aber ein Blick in die betreffenden Wörterbücher zeigt doch, dass da für מעשה—ein Wort, das auch pluralisch verstanden werden kannFootnote 69—keineswegs nur das Semem ‘Tun’ notiert wird. Im Theologischen Wörterbuch zum Alten Testament findet sich zuvor der Eintrag ‘das Gemachte’, im Dictionary of Classical Hebrew, herausgegeben von David J. A. Clines, ist u.a. von ‘task’ die Rede.Footnote 70 Dass eine bestimmte Vorgabe erst durch das Tun einzulösen ist, kommt, wie bereits angesprochen, doch wohl auch in Ex 18.20 zum Ausdruck: Da tritt ja das Verb עשה eigens zu מעשה (griechisch: ἔργα) hinzu.Footnote 71 Und im Targum Neophyti wird hier denn auch, wie Hofius nebenbei registriert,Footnote 72 aber dabei doch zu minimieren sucht, statt von מעשה von dem ‘Ding’ bzw. den ‘Dingen’ (פִּתְגׇמׇא) gesprochen; man könnte hier auch ‘Wort’ oder gar ‘Anordnung’ übersetzen!Footnote 73 Eine status-constructus-Wendung liegt hier freilich nicht vor. Dafür ließe sich indes zumal 1Chr 23.28 nennen, wo es מַעֲשֵׂה עֲבׂדַת heißt und wo es um von David (V. 25) formulierte levitische Aufgaben am Tempel (s. V. 25, 28) geht.
γ. Eine status-constructus-Verbindung mit dem Wort מעשה bzw. mit dem Plural מעשים liegt nun auch, wie bereits hervorgehoben, in 4QMMT C27 vor, und sie entspricht, daran sei erinnert, wohl gerade auch mit dem voranstehenden מקצת – das in Dan 1.5LXX durch ἐκ wiedergegeben wird—formal ziemlich exakt dem paulinischen Ausdruck ἐξ ἔργων νόμου.Footnote 74 Jedenfalls gilt das für מעשי התורה und ἔργα νόμου.
‘Diese einzige exakte Parallele für das [paulinische] Syntagma’Footnote 75 verdient es, ernsthafter bedacht zu werden, als das bei Hofius—und nicht nur bei ihmFootnote 76—geschieht.Footnote 77 Zwar verfährt er durchaus angemessen, wenn er auf die Zeile C31 verweist, wo nun, ähnlich wie z.B. in Ex 18.20 und wie, nur etwas anders, auch in Gal 3.10, das entsprechende Verb, עשה, gebraucht wird.Footnote 78 Aber die Übereinstimmungen mit Paulus könnten doch noch deutlich kräftiger als bei dem Tübinger Exegeten akzentuiert werden: Beispielsweise wird hier wie dort, wenn man so formulieren möchte, auf Gen 15.6 (vgl. bes. Ps 106.31; 1 Makk 2.52) Bezug genommen (C31; Röm 4.3 [vgl. V. 9]; Gal 3.6), und hier wie dort geht es jedenfalls um Fragen, welche die Tora betreffen (s. nur C28; Röm 3.20; Gal 3.19).Footnote 79 Vor allem indes fehlt bei Hofius jedes Eingehen auf das wohl wichtigste Kontextargument. Der sprachliche Zusammenhang ist indes für semantische Belange bekanntlich von besonderem Gewicht.
Das angesprochene Kontextargument zu vernachlässigen,Footnote 80 geht deshalb fraglos nicht an. Es handelt sich darum,Footnote 81 dass sowohl der Ausdruck מקצת מעשי התורה von 4QMMT C27 als auch der, wie Hofius zugesteht, ihm korrespondierende Plural ה]מעשים] von B2 im unmittelbaren Zusammenhang jeweils eine Entsprechung in dem Wort דברים findet—das bekanntlich z.B. in Ex 34.28 die ‘Gebote’ des Dekalogs bezeichnet (vgl. etwa Dtn 1.1)–. Genauer heißt es in B1 und in C30 jeweils Лמקצת דברינו, und dabei lässt gerade auch das Wörtchen Лמקצת kaum einen Zweifel an der Korrespondenz (zumindest) zu unserem Syntagma von C27. Ob man דכרים mit ‘Worten’, mit ‘rulings’ oder mit ‘practices’ übersetzt,Footnote 82 ändert nichts daran, dass hier auf die spezifische Tora-Auffassung des Autors des halakhischen Schreibens und der Gruppe um ihn herum abgehoben wird, insofern auf Präskriptives.Footnote 83
Johann Maier wählt bei den מעשים von B2 die Übersetzung ‘Praktiken’ und bei dem Ausdruck von C27 die Wiedergabe ‘Torah-Praktiken’.Footnote 84 Das wird von Hofius ziemlich gründlich missverstanden, wenn er diese Formulierungen unmittelbar auf ‘das Verhalten’ bezieht.Footnote 85 Maier sagt jedoch schon in seiner Einführung zum Dokument 4QMMT recht deutlich: ‘Die ca. 20 gesetzlichen Streitpunkte’, die hier erörtert werden, ‘weisen eine deutliche Nähe zu Vorschriften in der “Tempelrolle” (11Q19; 11Q20) auf und belegen damit eine zadokitische Priestertradition’, und: ‘Es geht um umstrittene rechtliche und rituelle Sachfragen’.Footnote 86 Im Übrigen darf ich mir wohl erlauben, aus einem an mich gerichteten Schreiben dieses Ju`daisten vom 24. Oktober 2006 zu zitieren: Er sagt da, er habe in 4QMMT B2 und C27 den Terminus מעשים ‘mit vollem Bedacht' so (also ‘mit “Praktiken”’) wiedergegeben, und zwar aus den folgenden beiden Gründen: ‘Einmal, um die damals schon grassierende Übersetzung mit “Werken” abzuwehren, weil mir [Maier] dies theologisch zu einschlägig befrachtet schien, zum andern, um eine gewisse Verbindlichkeit bzw. Normativität anzudeuten.’
Dem so verstandenen Wort ‘Praktiken’ wird man zustimmen können. Es geht dabei, wie festgehalten sei, nicht schon um das Tun, sondern zunächst um eine Frage der halakhischen Theorie. Der Terminus ‘Halakhot’, der in 4QMMT übrigens nirgends vorkommt,Footnote 87 ist dafür indes noch unmissverständlicher. ‘Praktiken’ kann ja, wie das Beispiel O. Hofius uns soeben vor die Augen führte, auch anders als präskriptiv begriffen werden.
4. Noch einmal: Paulus
a. Damit können wir uns nun erneut Paulus und seinem Ausdruck ἔργα νόμου zuwenden. Hat man bei dem Syntagma an ähnliche ‘Torah-Praktiken’ wie in 4QMMT zu denken, an Halakhot, dann sind es eben solche Halakhot, die nach Paulus nicht rechtfertigen (s. nur Röm 3.20; Gal 2.16). Ob es sich derart verhält, ist am jeweiligen Zusammenhang zu prüfen. Das Kontext-Argument gilt, das wurde schon oben verdeutlicht, etwa für Gal 3.10. Und entsprechend dürfte es, wie ich verschiedentlich zu begründen unternommen habe, für die übrigen Paulus-Belege gelten.Footnote 88
Beispielsweise wird erst und nur so hinreichend verständlich, warum die Begrifflichkeit im Zusammenhang der Diskussionen um die strittige Notwendigkeit der Beschneidung von nicht-jüdischen Christusanhängern begegnet (s. nur Gal 2.3; Röm 3.30), also in Gal 2-3 und in Röm 3. Und der Vers Röm 3.20Footnote 89 wirkt allein bei diesem Verständnis des Ausdrucks ἔργα νόμου nicht mehr einigermaßen rätselhaft, einigermaßen widersprüchlich: Wäre nämlich in V. 20a von gesetzeskonformem Tun des Menschen die Rede, passte V. 20b—dem γάρ entgegen—dazu wohl schwerlich, wird hier doch von ἐπίγνωσις ἁμαρτίας gesprochen.
Zusammengefasst ergibt sich also synchron im Blick auf die Frage, was für Praktiken Paulus bei seiner Verwendung von ἔργα νόμου denn nun meint, wohl in der Tat mit erheblicher Eindeutigkeit: Der Apostel denkt da an ‘Torah-Praktiken’, an Halakhot! Diese These legte sich, wie wir unter Punkt 3 dieses Beitrags ja sahen, überdies auch diachron nahe, insbesondere von 4QMMT her.
b. Freilich, bestimmte diachrone, um nicht zu sagen anachronistische, Gründe scheinen dieses Verständnis zu erschweren, und Hofius' Aufsatz zur Thematik ist davon möglicherweise nicht unbeeinflusst.Footnote 90 J. Maier spricht, wie bereits zitiert, davon, die Rede von den ‘Werken’ sei ‘theologisch … einschlägig befrachtet’, und da spielt das 16. Jahrhundert, in dem etwa und gerade auch Martin Luther gegen ‘Werkerei’ vorging, eine wichtige Rolle.Footnote 91 Wenn sich indes etwa die Aussage von Confessio Augustana IV über ‘unser Verdienst, Werk und Genugtun’ gemäß unserer These z.B. nicht mehr unmittelbar mit Röm 3 (insbesondere nicht mehr mit V. 20, 28) verbinden lässt,Footnote 92 so ist das—wie in der gegenwärtigen Lage zu sagen angebracht sein mag—wohl nicht als ernster Verlust zu begreifen.Footnote 93
Zum einen gewinnen wir ja mit dem ‘neuen’ Verständnis einen besseren Einblick in die Situation des ersten Jahrhunderts, in welcher die ἔργα-νόμου-Formulierungen sich nicht zuletzt dagegen wenden, bestimmte jüdische Konventionen als Gottes verbindliche Regelungen auch für Christusanhänger einzuschätzen, zumal für hinzukommende Nicht-Juden. (Und das lässt sich übrigens mannigfach klärend auf die derzeitige Situation der Christenheit beziehen.Footnote 94) Zum anderen werden mit der hier verteidigten These wichtige Momente von CA IV nicht nur nicht angetastet; sie treten vielmehr noch deutlicher hervor! Die Zentralität des Christusereignisses wird nämlich dadurch sehr hell beleuchtet, dass die Möglichkeit, Kreuz und Auferweckung durch die Gesetzgebung am Sinai und durch deren Folgeerscheinungen zu relativieren, verneint wird: οὐκ ἐξ ἔργων νόμου kommt Rechtfertigung zustande (s. nur Röm 3.20). Und zugleich wird die Angewiesenheit auf Sündenvergebung auch und selbst bei Juden bzw. Judenchristen pointiert hervorgehoben, z.B. in Gal 2.(15-)17. Wenn man genau hinschaut, ist also zu urteilen: Wichtige reformatorische basics werden durch das Halakhot-Verständnis des Syntagmas ἔργα νόμου (erneut) akzentuiert.Footnote 95
c. Außerdem verhilft diese Interpretation doch wohl dazu, alte StreitfragenFootnote 96 gerade auch des protestantischen Christentums einer Klärung zuzuführen. Es handelt sich erstens darum, dass die zahlreichen positiven neutestamentlichen und gerade auch die entsprechend gestimmten paulinischen Aussagen über die Tora nun unverstellter in den Blick kommen.Footnote 97 Die Regelung der Beschneidung etwa ist zwar für nicht-jüdische Menschen gerade keine Bedingung beim Eintritt in die christliche Gemeinde (und auch nicht hinsichtlich des Darinbleibens). Aber dass Gottes Tora gute ethische Anweisungen gibt, ist damit nicht bestritten, ja, bleibt hervorzuheben, wie etwa Röm 8.4 und 1 Kor 7.19 zeigen (vgl. bes. Röm 1.32; 2.14–15, 26; 7.12). Zweitens wird bei solcher Hochschätzung guter ethischer Anweisungen und damit der Ethik überhaupt auch besser verständlich, warum Paulus von einem Gericht ‘nach den Werken eines jeden’ sprechen kann,Footnote 98 etwa in Röm 2.6 (vgl. bes. Gal 6.7–8; 2 Kor 5.11). Das ist schwerlich ein von dem Apostel nicht verarbeitetes, gedankenlos, ja, nahezu selbstwidersprüchlich übernommenes apokalyptisches Relikt. Die ‘Werke eines jeden’ sind ja doch bei der hier verfochtenen These als Handlungen deutlich zu unterscheiden von den ἔργα νόμου, von den Halakhot—die eben nicht rechtfertigen–.
5. Ergebnisse
Das Fazit ist schnell gezogen. Die in der Überschrift formulierte Frage ‘Was für Praktiken?’ lässt sich sehr knapp beantworten. Der Apostel denkt beim Ausdruck ἔργα νόμου an ‘Torah-Praktiken’, unmissverständlicher gesagt: an so etwas wie Halakhot. Die an dieser These etwa und gerade auch von O. Hofius geübte Kritik ist nicht stichhaltig; denn sie lässt grundlegende linguistische Differenzierungen außer Acht, missdeutet überdies sowohl wichtige synchrone als auch entscheidende diachrone Daten.
Im Übrigen mag man—bei etwas gutem Willen—jedenfalls das hier mit der Halakhot-Interpretation verknüpfte Paulusverständnis als wenig anstößig, ja, als eher hilfreich begreifen können. Es stellt nämlich die für eine ‘lutherische’ Sicht und für den Protestantismus zentralen Momente von Christusereignis und Gnade, insbesondere: die Angewiesenheit auf Sündenvergebung, gerade nicht in Frage. Und es werden bei der im Vorangehenden mit großer Zuversicht gegenüber Einwänden verteidigten ἔργα-νόμου-These zugleich bestimmte Gefahren gemieden, die sich nicht zuletzt im Protestantismus leicht einstellen, insbesondere: Antinomismus, ethische Indifferenz und bloßer Individualismus.