In den drei Pastoralbriefen (hiernach: Past) geht es um persönliche Korrespondenz des Paulus, deren Inhalt aber die Gattung des Gemeindebriefes besser entsprochen hätte. Dennoch hat der pseudonyme Verfasser der Past persönliche Briefe des ‘Paulus’ fingiert, und zwar weil er, wie die Autoren der anderen deuteropaulinischen Briefe, mit einer Echtheitskritik seiner Leser, allem voran mit einem auf allfällige Widersprüche in den Entstehungsverhältnissen gerichteten kritischen Blick rechnen musste. Durch die Gattung des Privatbriefes hat er versucht, neue, bisher unbekannte Briefsituationen zu schaffen und die späte Entdeckung der Briefe verständlich zu machen. Zugleich hat er durch die Dreizahl den Aussagen seiner Briefe Allgemeingültigkeit verliehen, wobei das Corpus Pastorale als Interpretament ‘die richtige Deutung’ der Aussagen des Corpus Paulinum bieten soll.
1. Einführung: Warum persönliche Briefe an Timotheus und Titus?
Die PastFootnote 1 stellen einen neuen Typ des ‘paulinischen’ Briefes dar: Sie sind persönliche Briefe, die Paulus an seine Mitarbeiter gesandt haben will. Für diesen Brieftyp gibt es keine echte Parallele in den Protopaulinen.Footnote 2 Der Verfasser der Past hat die in der griechisch-römischen Antike bekannte Gattung des persönlichen BriefesFootnote 3 zum ersten Mal in die paulinische Brieftradition eingeführt.
Für die Past charakteristisch ist weiter, dass sie im Plural, und zwar als Corpus aus drei Briefen, auftauchen. Diese Besonderheiten fallen besonders ins Gewicht, wenn man die Past mit den übrigen Deuteropaulinen vergleicht. Unter Annahme ihrer Pseudonymität ist eine Erklärung bezüglich ihrer Absicht gefordert, zumal die Besonderheiten immer wieder als Argument gegen die Pseudepigraphie vorgebracht werden: Eine Absicht sei unter der pseudepigraphischen Hypothese schwer anzugeben, denn, wie Frederik Torm bereits 1932 bemerkte: ‘Schon die gewählte, ganz neue Form, die Adresse an einen einzelnen Mann, […] mußte den Zeitgenossen sehr auffallend sein und konnte dem Verfasser die Anerkennung der Briefe nur erschweren’.Footnote 4
Warum also nicht Gemeindebriefe, sondern persönliche Briefe? Diese Frage stellt sich auch gegenüber der Echtheitshypothese. Und in diesem Falle ist noch schwieriger zu beantworten, warum Paulus nicht direkt an die Gemeinden in Ephesus und Kreta geschrieben hat. Offensichtlich hat der Verfasser mit Absicht persönliche Briefe gestaltet, deren Inhalt der historische Paulus direkt an die Gemeinden gerichtet hätte.
In formaler Hinsicht stellen die Past echte persönliche Korrespondenz dar, die in einer spezifischen Kommunikationssituation wurzelt (vgl. 1 Tim 1.3; 2 Tim 4.9–15.21; Tit 1.5). Trotzdem geht es in den Briefen, insbesondere in 1 Tim und Tit, aber auch in 2 Tim, nicht nur um persönliche Angelegenheiten zwischen Absender und Adressaten, sondern um Anordnungen an eine Gesamtgemeinde.Footnote 5 Für die wichtigsten Inhalte der Briefe, die Gemeindeordnung (z.B. 1 Tim 2.8–15; 3.1–13; 5.3–15, 17–25; Tit 1.5–9; 2.1–10; vgl. Did 15.1–2; 1 Klem 44.1–6; Pol 5.2–3) und die Bekämpfung der Irrlehre (1 Tim 1.3–7, 18–20; 4.1–11; 2 Tim 2.18; 3.1–9; 4.3; Tit 1.10–16; 3.9–11 u.a.; vgl. Did 11.1–2; 16.3–4) hätte sich die Gattung des Gemeindebriefes eher geeignet als die eines persönlichen Briefes.
Der Sachverhalt ist umso merkwürdiger, als ‘Paulus’ seinen interimistischen Vertretern sehr spezifische Anweisungen gibt im Blick auf seine vorläufige Abwesenheit (1 Tim 1.3; 3.14: Paulus hofft, bald zu Timotheus zu kommen) oder das rasche Ausrichten dessen, ‘was noch fehlt’ (Tit 1.5; 3.12: Titus muss eilends zu Paulus nach Nikopolis kommen).Footnote 6
Aus diesen Beobachtungen lässt sich folgern, dass die Gattung des persönlichen Briefes für die Past nicht konstitutiv ist; dem Inhalt der Briefe hätte ein Gemeindebrief als Rahmen besser entsprochen. Warum aber hat der pseudonyme Verfasser die Briefe dennoch als persönliche Korrespondenz gestaltet? Das ist unsere erste Frage.
Im Blick auf den zweiten Punkt, nämlich die Dreizahl der Briefe, kann vor allem der Bezug auf das Corpus Paulinum geltend gemacht werden.Footnote 7 Peter Trummer hat darin Recht, die Entstehung der Past ‘im Zuge einer Neuedition des bisherigen Corpus [Paulinum]’Footnote 8 zu begreifen. Es bleibt dann aber noch zu fragen, welche Funktion sie in dieser Neuedition haben sollen. Ferner ist auch zu erklären, warum das Corpus Pastorale zwei Briefe an Timotheus und einen an Titus umfasst.
Im Folgenden werden wir auf diese Fragen eingehen, und zwar behandeln wir zuerst die Gattung des persönlichen Briefes (2) und anschliessend die Dreizahl der Past (3).
2. Persönliche Korrespondenz und Echtheitskritik
2.1. Die Echtheitskritik als Hintergrund
Warum hat der pseudonyme Verfasser die persönlichen Briefe des ‘Paulus’ konstruiert, um das zu übermitteln, was der historische Paulus wahrscheinlich eher durch Gemeindebriefe mitgeteilt hätte? Unsere These lautet, dass der Verfasser mit der Echtheitskritik seiner Leserschaft gerechnet hat. Durch diese Briefgattung hat er nämlich versucht, ein Aufdecken seiner Fälschung zu vermeiden.
In seiner rezeptionsgeschichtlichen Analyse der Pseudepigrapha hat Armin Daniel Baum überzeugend nachgewiesen, dass im Frühchristentum wie im nichtchristlichen Altertum literarische Fälschungen unabhängig von ihrem Inhalt negativ beurteilt wurden.Footnote 9 Das lässt sich durch die seit der ausführlichen Studie von Wolfgang Speyer feststehende Tatsache unterstützen, dass es im Umfeld des Neuen Testaments die Idee des geistigen EigentumsFootnote 10 und dementsprechend auch eine EchtheitskritikFootnote 11 gab. Die letztere setzt ja eine negative Einstellung zur literarischen Fälschung voraus.
Diese Sicht wird bestätigt durch jene bekannte Episode, nach der ein Presbyter in Kleinasien im zweiten Jahrhundert wegen Fälschung der Paulusakten seines kirchlichen Amtes enthoben wurde, obwohl er es ‘aus Liebe zu Paulus’ (amore Pauli) getan habe.Footnote 12 Trotz seiner guten Absicht hat der Tatbestand der Fälschung ihn sein Amt gekostet.Footnote 13 Daraus wird ersichtlich: Die literarische Fälschung wurde, aus welchem Motiv sie auch vorgenommen worden sein mag, im Prinzip abgelehnt.Footnote 14
Eine besonders wichtige Rolle spielte die Echtheitskritik dort, wo ein Streit um theologische LehrmeinungenFootnote 15 zur Fälschung motiviert hatte. Denn dabei war strittig, welche Ansicht auf die große Vergangenheit zurückzuführen sei. Das eben ist nun auch der Fall bei den Deuteropaulinen, die gegen die ‘Irrlehre’ ihre eigene Position als ‘richtigen’ Paulinismus Paulus in den Mund legen wollen.Footnote 16
Wenn man mit diesem literaturgeschichtlichen Hintergrund rechnet, dann liegt die Annahme nahe, dass ein Verfasser, der seinen Standpunkt durch literarische Fälschung rechtfertigen wollte, sein Werk so gestalten musste, dass es ohne Verdacht als echte Schrift eines angeblichen Autors akzeptiert werden konnte. Darin kann der Verfasser der Pastoralbriefe keine Ausnahme sein.
2.2. Die Entstehungsverhältnisse als wichtigstes Kriterium der Echtheit
Was hat der Verfasser der Past beachten müssen, um die Echtheit seiner Schriften glaubhaft zu machen? Als Kriterien der Echtheitskritik galten in der christlichen Antike folgende Gesichtspunkte: (1) Stil/Wortschatz, (2) Inhalt, (3) Entstehungsverhältnisse und (4) externe Zeugnisse zur betreffenden Schrift.Footnote 17
Dafür fehlen leider zeitgenössische Belege, aber Eusebius stützt sich bei seiner Dreiteilung der christlichen Bücher in anerkannte, angezweifelte und gefälschte Schriften auf diese Argumente: ‘Kein in der Überlieferung anerkannter kirchlicher Schriftsteller hat diese letzteren Schriften irgendwo der Erwähnung gewürdigt. Überdies weicht auch die Art ihrer Darstellung von der der Apostel ab. Auch ihre Gedanken und das in ihnen zum Ausdruck kommende Streben stehen im stärksten Gegensatz zu der wahren, echten Lehre und geben dadurch deutlich zu erkennen, daß sie Fiktionen von Häretikern sind’. (HE III 25.6–7)Footnote 18 Er verneint ferner anderswo die Echtheit der Pilatusakten aufgrund der falschen chronologischen Angaben (HE I 9.3–4). Man wird m.E. die gleichen Beurteilungskriterien auch für die Zeit der Past voraussetzen dürfen.
Welches Kriterium der Echtheitskritik war bei der Neuschöpfung eines persönlichen Briefes von ‘Paulus’ besonders wichtig? Da persönliche Briefe ein andersartiges Verhältnis zwischen Absender und Empfänger voraussetzen als Gemeindebriefe, legt sich die Annahme nahe, dass der Verfasser der Past vor allem mit der Überprüfung der Entstehungsverhältnisse rechnen musste.
Der Verfasser der Past unterlässt es zwar nicht, Stil und Inhalt der Protopaulinen zu imitieren,Footnote 19 scheint aber keinen großen Wert darauf zu legen, beides genau und ohne Abweichung zu übernehmen. Der Schein der Echtheit wird seines Erachtens durch die Anzeichen stilistischer, sprachlicher und theologischer Besonderheit nicht beeinträchtigt. Darin unterscheiden sich die Past nicht von den anderen Deuteropaulinen.Footnote 20
Dagegen muss es für den Verfasser der Past wie für die Verfasser der anderen Deuteropaulinen eine ernstzunehmende Aufgabe gewesen sein, glaubhafte Entstehungsverhältnisse zu konstruieren. Eine Briefsituation, die sich in die Biographie des PaulusFootnote 21 nicht widerspruchsfrei einordnen ließe, würde den Verdacht auf Fälschung auf sich ziehen.
Wenn dem aber so ist, dann dürfte das Bestreben, widerspruchsfreie Entstehungsverhältnisse zu fingieren, nicht nur in den Past, sondern in allen Deuteropaulinen wirksam sein. Bevor wir uns der Analyse der Past zuwenden, werfen wir daher einen Blick darauf, wie die Verfasser der deuteropaulinischen Gemeindebriefe die fiktiven Entstehungsverhältnisse konstruiert haben.
2.3. Zur fiktiven Briefsituation der deuteropaulinischen Gemeindebriefe
Den Verfassern der Deuteropaulinen geht es, wie wir vermuten, vor allem um die Darstellung einer Briefsituation, die sich in die Biographie des Paulus einordnen lässt. Zu diesem Zweck haben diese Verfasser zu einem gemeinsamen Mittel gegriffen, nämlich zur Darstellung einer undeutlichen Briefsituation. Sie versuchten je auf ihre Weise, die Abfassungsverhältnisse undeutlich zu halten, um eine eindringliche Echtheitsprüfung zu verunmöglichen.
2.3.1. Der Kolosserbrief
Im Kolosserbrief ist diese Technik der undeutlichen Briefsituation in Bezug auf die Abfassungssituation und die Lage der Adressaten durchaus sichtbar.
Der Verfasser des Kol schließt sein Schreiben an die Situation der Gefangenschaft des Paulus an, indem er diese aus Phlm übernimmt.Footnote 22 Diese Abfassungssituation war für eine Fälschung sehr nützlich, denn die Vorstellung, dass Paulus während seiner Gefangenschaft außer Phil und Phlm noch andere und bisher unbekannte Briefe geschrieben hat, lässt keine Widersprüche aufkommen. Für den pseudonymen Verfasser günstig war ferner die Tatsache, dass Paulus mehrmals im Gefängnis war (2 Kor 11.23). Das macht im Falle einer Nachfrage schwer identifizierbar, wann und wo ‘Paulus’ diese Briefe geschrieben hat.
Damit verbunden ist die Charakterisierung der Adressaten: Der Kol will an eine Gemeinde gerichtet sein, die Paulus nie besucht hat (Kol 1.7; 2.1). Damit unternimmt es der Verfasser, eine bisher unbekannte Briefsituation im Rahmen der Missionstätigkeit des Paulus zu verorten.
Weiter dürfte die Stadt Kolossä deshalb als fiktive Adresse gewählt worden sein, weil nicht mehr feststellbar war, ob dieser Brief vor dem Tod des Paulus tatsächlich die Adressatengemeinde erreicht hat und dort gelesen wurde. Im Jahre 61 n.Chr. hat ein Erdbeben zusammen mit Laodizea und Hierapolis wahrscheinlich auch Kolossä zerstört.Footnote 23 Diese Tatsache dürfte der Abfassung des pseudopaulinischen Briefes entgegengekommen sein, denn unabhängig davon, ob die Stadt Kolossä wieder aufgebaut wurde oder nicht, muss die Zerstörung die frühere Situation der Gemeinde verwischt und damit die Gefahr einer Entdeckung der Pseudonymität des Kol verringert haben.Footnote 24 In dieser Weise hat der Verfasser eine Nachprüfung darüber erschwert, ob Paulus tatsächlich diesen Brief geschrieben hat, und wenn ja, wann und wo.
2.3.2. Der Epheserbrief
Bei der vieldiskutierten adscriptio des Epheserbriefes (1.1) ist davon auszugehen, dass ursprünglich nach τοῖς οὖσιν kein Ortsname angegeben war. Eine sekundäre Streichung von ν Ἐϕσῳ (oder Laodizea, aufgrund der Aussage von MarcionFootnote 25) ist völlig undenkbar, denn dafür lässt sich kein plausibler Grund nennen.Footnote 26
Auf der anderen Seite ist aber auch wenig wahrscheinlich, dass sich der Eph hier als ‘katholisch’, nämlich als Brief an alle Christen, darstellen will. In fiktiver Weise setzt der Brief eine Verbindung zwischen Absender (Paulus) und Rezipienten voraus (vgl. Eph 3.3; 6.21–22). Das macht die Auskunft fraglich, dass die ‘Lücke’ in der adscrptio die Allgemeinheit des Briefinhalts anzeigen soll.Footnote 27
Die Anschrift des Eph (τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν) erinnert an diejenige des Römer- (1.7), des 2. Korinther- (1.1) und des Philipperbriefes (1.1). Die Leser, die mit diesen Paulusbriefen vertraut waren, werden also nach τοῖς οὖσιν einen Ortsnamen erwartet haben, was dann zur Ergänzung von ν Ἐϕσῳ geführt hat. Der Verfasser des Eph hat m.E. mit dieser intertextuellen Wirkung der ‘Lücke’ gerechnet: Er hat die Anschrift absichtlich unvollständig gelassen, um eine sekundäre Auslassung der Ortsangabe vorzutäuschen.Footnote 28 Damit blieb unbekannt, wohin dieser Brief ursprünglich gerichtet war. Auch das gehört zur Technik der undeutlichen Briefsituation.
2.3.3. Der 2. Thessalonicherbrief
Auch im zweiten Thessalonicherbrief Footnote 29 ist die erwähnte Technik sichtbar. Die Beziehung des 2 Thess zu 1 Thess ist immer noch umstritten. Auf der einen Seite steht die literarische Abhängigkeit außer Zweifel;Footnote 30 auf der anderen Seite besteht Uneinigkeit unter den Exegeten, ob und wie der Ausdruck δι’ πιστολῆς ὡς δι’ ἡμῶνFootnote 31 in 2 Thess 2.2 sich auf 1 Thess beziehtFootnote 32.
Der griechische Text lässt sich übersetzen sowohl mit: ‘durch einen—angeblich oder fälschlich—von uns (sc. stammenden oder geschriebenenFootnote 33) Brief’ als auch mit: ‘… als—tatsächlich—von uns (stammend oder geschrieben)’.Footnote 34 Diese Unklarheit lässt sich wohl auf die Absicht des Verfassers zurückführen, das Verhältnis zwischen 1 Thess und 2 Thess bewusst offenzulassen.Footnote 35 Diese Annahme wird dadurch verstärkt, dass sich in 2 Thess kein expliziter Hinweis auf 1 Thess findet.Footnote 36
2 Thess 2.2 spielt implizit auf 1 Thess an, aber durch die vage Bezugnahme wird auch der Interpretation Raum gegeben, hier sei ein anderer pseudopaulinischer Brief gemeint. Die Entstehungsverhältnisse des 2 Thess, vor allem der zeitliche Abstand zu 1 Thess, werden im Unklaren gelassen. Sogar die von einigen modernen Exegeten vertretene Vermutung ist daher möglich (aber m.E. unhaltbar), dass der 2 Thess dem 1 Thess zeitlich vorausgeht.Footnote 37 Dies alles dürfte eine Wirkung der Strategie des Verfassers sein, das Verhältnis der beiden Thessalonicherbriefe undeutlich zu halten, damit die Briefsituation verschiedenen Deutungsmöglichkeiten offensteht.
2.3.4. Fazit
Der Überblick über die Angaben in Kol, Eph und 2 Thess zeigt, dass die Verfasser der deuteropaulinischen Gemeindebriefe sich bemühen, eine Briefsituation zu fingieren, die der paulinischen Biographie nicht zuwiderläuft. Dabei präzisieren sie die konstruierten Entstehungsverhältnisse nicht näher, sondern lassen sie eher undeutlich, damit sie nicht falsifizierbar sind.
2.4. Persönliche Korrespondenz als Fälschungsstrategie der Pastoralbriefe
Hinsichtlich der undeutlichen Entstehungsverhältnisse, die wir eben im Blick auf die deuteropaulinischen Gemeindebriefe nachgezeichnet haben, bilden die Past keine Ausnahme. Ihr Verfasser greift aber zu einer neuen Strategie, nämlich zur Fälschung der persönlichen Briefe des Paulus.
Für die Vortäuschung von Entstehungsverhältnissen bietet die Gattung des persönlichen Briefes zwei Vorteile: Sie ermöglicht eine solche grundsätzlich leichter als ein Gemeindebrief und lässt andererseits Raum für Erklärungen, warum der persönliche Brief bisher unbekannt und ohne externe Zeugnisse geblieben ist.
Anders als der Gemeindebrief ist ein persönlicher Brief schwer zu falsifizieren, zumal wenn Absender und Empfänger schon gestorben sind und nicht mehr bezeugen können, ob der Brief eine Fälschung ist oder nicht.Footnote 38
Ferner passt es zu einem persönlichen Schreiben, dass es zunächst der Öffentlichkeit unbekannt bleibt und plötzlich irgendwo ‘auftaucht’. Von daher lässt sich auch das Fehlen von externen Zeugnissen über diese Briefe erklären.
Der Verfasser der Past, der zeitlich wahrscheinlich an der Wende vom ersten zum zweiten JahrhundertFootnote 39 (oder etwas später?) schrieb, hielt es für gefährlich, weitere Gemeindebriefe des ‘Paulus’ plötzlich ans Licht treten zu lassen, für die sich (nach dem lange zurückliegenden Tod des Paulus) sonst keine Bezeugungen finden liessen. Diese würden einen zu starken Fälschungsverdacht auf sich ziehen. Für ein solches Unternehmen war es wohl zu spät.Footnote 40 Wahrscheinlich hat diese Sachlage den pseudonymen Verfasser dazu geführt, persönliche Briefe des Paulus zu erfinden.
Wenn aber Anordnungen über die Gemeindeverwaltung in Form eines persönlichen Briefes des Paulus gegeben werden sollten, dann war dazu die Konstruktion einer Situation nötig, die Paulus aus der Ferne an seinen weiterhin in der Gemeinde tätigen Mitarbeiter schreiben liess. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, wie der Verfasser der Past eine solche Situation für seine drei Briefe konstruiert.
2.5. Fiktive Entstehungsverhältnisse der Pastoralbriefe
Wiederholt ist darauf hingewiesen worden, dass die Abfassungssituationen der Past, insbesondere des 1 Tim und Tit, nicht mit der aus Apg und Protopaulinen rekonstruierbaren Biographie des Paulus in Übereinstimmung gebracht werden können.Footnote 41 Es stellt sich dann aber die Frage, warum und wie der Verfasser zu einer solchen Darstellung gekommen ist. Auch wenn ihm die Apostelgeschichte wahrscheinlich nicht bekannt war,Footnote 42 wäre es ihm zumindest möglich gewesen, sich an die Angaben der Protopaulinen zu halten und so den Echtheitsanspruch zu stützen.
Die Abfassungssituation des 1 Tim, in der es um die zeitweilige Trennung von Paulus und Timotheus und die Reise nach Mazedonien geht (1 Tim 1.3; 3.14–15), hat allerdings einen Anhaltspunkt im ersten Korintherbrief: Der Verfasser hat diese Situation wahrscheinlich mittels der Darstellung in 1 Kor 16.5–11 gestaltet.Footnote 43 Zwar stimmt es nicht mit der Situation des 1 Tim überein, dass nicht Timotheus, sondern Paulus (1 Kor 16.8,10) in Ephesus ist. Aber dort wartet Paulus auf die Rückkehr des Timotheus mit der Erwartung, selber durch Mazedonien nach Korinth zu reisen (16.5). Die beiden Korintherbriefe schweigen darüber, ob er später tatsächlich von Ephesus ausgegangen ist. Hier dürfte der Verfasser der Past eine Lücke gefunden haben, an die er 1 Tim angeschlossen hat.Footnote 44 Dabei spielt es keine Rolle, dass dieser Reiseplan in der Tat nicht realisiert wurde (2 Kor 1.15–16), denn es wird nichts darüber gesagt, wo genau ‘Paulus’ diesen Brief geschrieben haben will (undeutliche Abfassungssituation!).
Die Situation des Tit (Tit 1.5) ist schwieriger im Lebenslauf des Paulus unterzubringen, lässt sich doch weder für die paulinische Missionstätigkeit auf Kreta noch für die Verbindung des Titus zu dieser Insel ein Anhaltspunkt in den neutestamentlichen Überlieferungen finden. Über die Mission auf Kreta kann man nur spekulieren. Dass es zur Zeit der Past ‘eine von Ephesus ausgehende Mission auf Kreta’ gegeben hat,Footnote 45 bleibt auch reine Vermutung. Bezüglich einer paulinischen Missionswirksamkeit auf Kreta liegt also alles im Dunkeln.
Daraus lässt sich zumindest schließen, dass sich der Verfasser der Past für den 1 Tim und Tit je eine den Lesern vorstellbare, aber nicht näher bekannte Situation in der Biographie des Paulus ausgedacht hat. Dies hängt mit der fingierten Kommunikationssituation zusammen, die es nötig machte, dass der abwesende Paulus aus der Ferne an seinen Mitarbeiter vor Ort Anordnungen über die Gemeindeverwaltung gibt. Diese in den Protopaulinen nicht vorausgesetzte Situation hat der Verfasser selber konstruiert.
Die Briefsituation des 2 Tim ist zwar deutlicher als diejenigen des 1 Tim und Tit: Paulus befindet sich im römischen Gefängnis (2 Tim 1.8, 16–17) und steht kurz vor seinem Tod (4.6–8). Über die Zeit seiner römischen Gefangenschaft gibt es allerdings nur sehr wenig Informationen (vgl. Apg 28).Footnote 46 Hier hat der Verfasser also an eine Lücke in der Biographie des Paulus angeknüpft.
2.6. Fazit
Die Wahl der Gattung des persönlichen Briefes, die dem Inhalt der Past nicht entspricht, lässt sich durch den Sachverhalt erklären, dass der Verfasser mit der Echtheitskritik, vor allem mit der Überprüfung der Entstehungsverhältnisse gerechnet hat und versucht, sie zu zerstreuen. Wichtig war ihm dabei, bei den Lesern nicht den Eindruck zu erwecken, die vorgetäuschte Briefsituation widerspreche der bekannten Biographie des Paulus. Die Verfasser der deuteropaulinischen Gemeindebriefe haben diese Aufgabe dadurch gelöst, dass sie die Entstehungsverhältnisse der Briefe irgendwie undeutlich liessen. Der Verfasser der Past hingegen hat die Form eines Gemeindebriefes aufgegeben und stattdessen persönliche Briefe konstruiert. Bei dieser Gattung verursachen die späte Entdeckung der Briefe und der Sachverhalt, dass die Korrespondenz zwischen Absender und Empfänger bisher unbekannt war, keine weiteren Probleme.
3. Die Briefe an Timotheus und Titus
Wir wenden uns nun der zweiten Frage zu: Warum hat der Verfasser nicht einen einzigen, sondern drei Briefe geschrieben, und zwar zwei an Timotheus und einen an Titus? Im Folgenden sollen zuerst Timotheus und Titus als Adressaten und dann der Inhalt der drei Briefe verglichen werden.
3.1. Das Corpus Pastorale als Interpretament des Corpus Paulinum
Die Past stellen sich dar als eine Sammlung von drei persönlichen Briefen, deren jeweilige Abfassungssituation miteinander in keinem Zusammenhang steht. Worin besteht der Vorteil dieses Arrangements gegenüber der Fingierung eines einzigen Briefes?
Wie anfangs bemerkt wurde, legt die Gestalt der Briefsammlung den Zusammenhang mit dem Corpus Paulinum nahe.Footnote 47 Von daher lässt sich m.E. folgendes sagen:
(1) Hinsichtlich der literarischen Fälschung dürfte die Form einer Briefsammlung dazu beigetragen haben, die Entdeckungsumstände dieser persönlichen Briefe verständlich zu machen.Footnote 48 Die Briefe erwecken den Anschein, als seien sie ohne Beziehung zueinander entstandenFootnote 49 und später sozusagen zufällig gesammelt und entdeckt worden, wie es beim Corpus Paulinum der Fall war. Durch diese Form der Briefsammlung soll also verständlich werden, wie die bisher unbekannten persönlichen Briefe des Paulus ans Licht gekommen sind.
Die Gestalt der Briefsammlung macht ferner glaubhaft, dass Paulus neben den Gemeindebriefen auch persönliche Briefe zu schreiben pflegte. Dies trägt zum Schein der Echtheit dieser Briefe bei. Auch in dieser Hinsicht will das Corpus Pastorale im Seitenblick auf das Corpus Paulinum akzeptiert werden.
(2) Das Corpus Pastorale stellt aber nicht eine neue Briefsammlung des Paulus dar, sondern versteht sich als Teil, m.a.W. als Ergänzung und Abschluss ‘eines in einer langen Entwicklung stehenden und durch sie (sc. Past) abzuschließenden Corpus Paulinum’, wenn auch nicht einfach als ‘Schlußpunkt oder “Ausrufezeichen” ’, wie es Peter Trummer formuliert.Footnote 50 Es hat m.E. eine wichtigere Funktion innerhalb des solcherweise erweiterten Corpus Paulinum.
Die Past fungieren in dieser Neuedition des Corpus Paulinum ja als Interpretament der Gemeindebriefe; d.h. sie weisen die richtige Interpretation der Aussagen des Paulus auf, die wohl in den nachpaulinischen Gemeinden Dissens verursachten. Dies legt sich durch die Beobachtung nahe, dass der Verfasser der Past durchaus die Themen behandelt, die sich auf Aussagen in den Protopaulinen zurückführen lassen, z.B. über das Gesetz (1 Tim 1.6–11), den Gehorsam gegenüber Machthabern und Obrigkeit (1 Tim 2.1–3; Tit 3.1–2),Footnote 51 das Verhalten der Frauen (1 Tim 2.8–15; 5.3–16Footnote 52), die Reinheitsgebote (1 Tim 4.1–5; Tit 1.15), das Verhältnis zwischen Sklaven und Herren (1 Tim 6.1–2) und die Deutung der Auferstehung (2 Tim 2.8–13,18). Zu diesen Problembereichen versucht der Verfasser also das letzte Wort zu haben, indem er ‘Paulus’ auf seine früheren Äußerungen zurückkommen, sie erläutern oder sogar korrigieren lässt.Footnote 53
Diese Wirkung haben die Past allerdings erst dann, wenn die in ihnen enthaltenen Aussagen Allgemeingültigkeit erlangen. Tatsächlich beanspruchen diese Aussagen sogar eine höhere Gültigkeit gegenüber denen des Paulus zum gleichen Thema, indem sie diese modifizieren oder redigieren wollen.Footnote 54
Jeder Brief des Corpus Pastorale kann aber an sich noch keinen allgemeingültigen Anspruch erheben, da der Gültigkeitsbereich seines Inhalts auf das persönliche Verhältnis zwischen Paulus und Timotheus/Titus begrenzt ist, während die Gemeindebriefe davon sprechen, was für jede paulinische Gemeinde mehr oder weniger allgemeingültig ist. In dieser Hinsicht steht der persönliche Brief gegenüber dem Gemeindebrief im Nachteil. Dieser Schwierigkeit begegnet der Verfasser der Past, indem er nicht einen einzigen Brief, sondern deren drei vorlegt.
3.2. Timotheus und Titus: ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Wenn die Dreizahl der Briefe des Corpus Pastorale die obengenannte Absicht des Verfassers im Hintergrund hat, muss die Adressatenwahl in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen.
Zwischen den beiden Adressaten gibt es Gemeinsamkeiten. Aus den Protopaulinen und (nur zu Timotheus) aus der Apg ist zu erkennen, dass beide zu Paulus in einem sehr nahen Verhältnis stehen. Timotheus wurde wahrscheinlich von Paulus selber bekehrt (Apg 16.1–3).Footnote 55 Das spiegelt sich wohl in der Anrede an Timotheus als ‘mein liebes und getreues Kind’ (1 Kor 4.17; vgl. ferner Phlm 10, wo Onesimus als ‘mein Kind’ angesprochen wird). Ähnliches gilt für die Bezeichnung des Titus als ‘mein Gefährte und mein Mitarbeiter’ (2 Kor 8.23). Titus zog mit Paulus (und Barnabas) zum Apostelkonzil nach Jerusalem als Frucht und Zeuge der paulinischen Heidenmission (Gal 2.3).
Beiden ist ferner in der Missionstätigkeit des Paulus eine gemeinsame Funktion eigen: Sie werden von Paulus an seine Gemeinden gesandt, um dort den Willen des Paulus zu erläutern und dadurch das Verhältnis zwischen Paulus und der Gemeinde zu stärken (zu Timotheus vgl. 1 Thess 3.2–3; Phil 2.19–23; 1 Kor 4.17; 16.10; zu Titus 2 Kor 2.13; 7.6–7, 13–14). Ihre Funktion bestand also darin, die Botschaft des Paulus an die Gemeinde zu vermitteln. Wie wichtig ihre Bedeutung war, wird durch die Anrede ‘rechtmäßiges (γνήσιος) Kind’ (1 Tim 1.2; Tit 1.4) zum Ausdruck gebracht. Sie unterstreicht die Legitimität und Vorzüglichkeit der AngesprochenenFootnote 56 und damit der ihnen anvertrauten Anordnungen (= Inhalt der Past) gegenüber anderen, ‘von der Wahrheit abgeirrten’ (2 Tim 2.18) Interpretationen des Paulus (vgl. ferner 1 Tim 1.18–20; 4.1–5; 2 Tim 1.15; 4.14–15; Tit 3.10–11).
Allerdings ist zugleich auch ein wichtiger Unterschied zwischen Timotheus und Titus nicht zu übersehen. Dem Verfasser und den Lesern der Past war wahrscheinlich Timotheus viel bekannter als Titus. Dies spiegelt sich in den Darstellungen der beiden Briefe wider: Während die Abfassungssituation des 1 Tim durch Daten gekennzeichnet wird, die den Lesern vertraut waren, ist diejenige des Tit völlig unbekannt.
In 1 Tim begegnen mehr vertraute Personen- und Ortsnamen. Überhaupt ist Timotheus als Mitarbeiter des Paulus viel bekannter als Titus, oft wird er als Mitabsender der Protopaulinen genannt (1 Thess, 2 Kor, Phil und Phlm, vgl. ferner 2 Thess 1.1 und Kol 1.1). Zusammen mit Paulus war er in der Mission tätig (Phil 2.22) und wurde oft, wie oben erwähnt, als Vertreter von Paulus entsandt. Die Annahme liegt daher sehr nahe, dass er im paulinischen Missionsgebiet weithin bekannt war.Footnote 57 Auch dürfte Ephesus deswegen als Adresse des Timotheus gewählt worden sein, weil die Stadt ein bekannter Wirkungsort des Paulus war (vgl. Apg 19.10; 20.31).Footnote 58
Titus spielte eine entscheidende Rolle bei der Überwindung des Konfliktes zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde (2 Kor 7.6, 13–15) und bei der Kollektensammlung (2 Kor 8.6,16–24). Auch beim Apostelkonzil begleitete er Paulus und Barnabas nach Jerusalem (Gal 2.1–3). Er war also für Paulus eine starke Stütze in kritischen Situationen. Eine weitere Spur des Titus findet sich aber weder in den Protopaulinen noch in der Apostelgeschichte. Offensichtlich hatte man über ihn weniger Information zur Hand als über Timotheus. Dies legt sich besonders durch das Schweigen der Apg nahe.
Diese Sachlage hat es dem Verfasser erleichtert, eine briefliche Kommunikation zwischen ihm und Paulus zu erfinden.Footnote 59 Auch der Aufenthalt auf Kreta gehört zu den ‘verborgenen’ Nachrichten über Paulus, weil niemand sicher wissen konnte, ob Paulus dort eine Gemeinde gegründet hat.
In Tit finden sich noch andere Mitarbeiter des Paulus, deren Namen aber nicht weiter bekannt sind: Artemas (3.12) und Zenas der Rechtsgelehrte (3.13).Footnote 60 Sie verstärken den Eindruck, dass es in Tit um anderswo nicht bezeugte Verhältnisse geht.
Der Unterschied zwischen 1 Tim und Tit ist damit deutlich. 1 Tim wird an den bekannten Timotheus adressiert, der in Ephesus, einem der bekanntesten paulinischen Missionsorte, weilt. Dagegen hatten die Leser relativ wenig Kenntnis von Titus als einem Mitarbeiter des Paulus und von Kreta als seiner Wirkungsstätte.
Dieser Unterschied lässt sich m.E. am besten deuten, wenn Tit als Ergänzung und Erweiterung des 1 Tim gelesen wird. Durch Tit will der Verfasser den Lesern zu verstehen geben, dass die Anweisungen des Paulus für die ephesische Gemeinde (= Inhalt des 1 Tim) als allgemeingültige Lehre mutatis mutandis auch für unbekannte Gemeinden in Kreta gegeben wurden. Dieser Sachverhalt lässt sich auch so formulieren, dass Timotheus der ‘Hauptadressat’ des Corpus Pastorale ist, während Titus den ‘zweiten Adressaten’ darstellt.
3.3. Räumliche und zeitliche Ausdehnung durch die Dreizahl der Briefe
Dieses Verhältnis von Timotheus und Titus entspricht dem Verhältnis der drei Briefe innerhalb des Corpus Pastorale: Dem Inhalt des Corpus Pastorale wird Allgemeingültigkeit dadurch verliehen, dass der Gültigkeitsbereich des 1 Tim räumlich durch den des Tit und zeitlich durch den des 2 Tim ausgedehnt wird.
3.3.1. 1 Tim und Tit: Räumlich-geographische Ausdehnung des Gültigkeitsbereichs
Für die räumliche Ausdehnung des Gültigkeitsbereichs spielt die Verwandtschaft von 1 Tim und Tit eine sehr wichtige Rolle.
Sowohl thematisch als auch strukturell haben 1 Tim und Tit Gemeinsamkeiten. In beiden Briefen, die je an einen jungen ‘Nachfolger’ des Paulus (1 Tim 1.3; Tit 1.5) adressiert sind,Footnote 61 geht es um ‘Gemeindeleitung’, nämlich ‘um Probleme der Ordnung der Gemeinden und um ihre Verwaltung (vgl. 1 Tim 3,15; 5,17–22; 2 Tim 2,2; Tit 3,10f) und in Konsequenz davon um die Anforderungen an Leute in verantwortlichen Positionen (1 Tim 3,1–7.8–13; Tit 1,5.9)’.Footnote 62
Dem entspricht auch ihre Gliederung. Beide Briefe bestehen aus folgenden drei Teilen: (a) Kritik an der Irrlehre, (b) Anweisungen zum Kampf für den rechten Glauben und (c) konkrete Ermahnungen. Dabei fällt auf, dass Tit wie eine verkürzte Fassung des 1 Tim wirkt:
(1) Tit 1.5–9//1 Tim 3.1–13 (Voraussetzungen für das Bischofs- und Presbyteramt)
(2) Tit 1.14–16//1 Tim 1.4–11; 4.1–5 (jüdische Fabeln und Gebote, rein/ unrein)
(3) Tit 2.1–10//1 Tim 5.1–6.2b (rechtes Verhalten gegenüber Männern und Frauen verschiedenen Alters und gegenüber Sklaven)
(4) Tit 3.1–2//1 Tim 2.1–3 (Gehorsam gegenüber Machhabern und Obrigkeit)Footnote 63
All dies lässt sich als Strategie des Verfassers deuten, den Gültigkeitsbereich des Inhalts von 1 Tim geographisch auszudehnen: Was Paulus Timotheus gegenüber anordnet, wird nicht auf Ephesus (1 Tim 1.3) begrenzt, denn er gibt auch dem in Kreta tätigen Titus (Tit 1.5) Anweisungen parallelen Inhalts.Footnote 64 Die Anweisungen, die Paulus seinen Mitarbeitern für die Zeit seiner Abwesenheit gegeben hat, gelten über das ursprüngliche Gebiet hinaus für weitere paulinische Gemeinden.
3.3.2. 1 Tim und 2 Tim: Zeitliche Ausdehnung des Gültigkeitsbereichs
Für die zeitliche Ausdehnung ist das Verhältnis der beiden Timotheusbriefe zueinander wichtig. 2 Tim stellt sich ausdrücklich als letzten GefangenschaftsbriefFootnote 65 des Paulus dar, den dieser bei seinem Aufenthalt in Rom (Apg 28) abgefasst hat.Footnote 66 Paulus ist nun als Gefangener in Rom (1.8,17); ihm steht offenbar der Tod bevor (vgl. 4.6–18). Dass dies der letzte ‘Paulusbrief’ sei, soll den Lesern durch intertextuelle Anspielung auf die anderen Gefangenschaftsbriefe, vor allem auf Phil, bewusst gemacht werden.Footnote 67
Diese Situierung des 2 Tim lässt die Leser erkennen, was Paulus bis zuletzt in Sorgen hielt: die Irrlehrer, die von der Wahrheit, vom richtigen Verständnis des paulinischen Evangeliums, abgeirrt sind (vgl. 2 Tim 2.18; 4.4). Da es auch in 1 Tim und Tit um dieses Thema geht, weist das Problem der Irrlehre über jede konkrete Briefsituation hinaus und bildet eine Herausforderung für das paulinische Christentum auch in der Situation nach dem Tod des Paulus.Footnote 68
4. Schlussfolgerungen
Unsere Beobachtungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
(1) Die Past sind trotz ihres Inhalts, zu dem eher die Gattung eines Gemeindebriefes passen würde, als persönliche Briefe des Paulus formuliert. Dies hängt mit der antiken Echtheitskritik zusammen, deren zentrales Anliegen die Prüfung der Entstehungsverhältnisse war. Im Falle von persönlicher Korrespondenz kann die Briefsituation leichter fingiert werden als bei einem Gemeindebrief, und ausserdem lässt sich leichter erklären, warum der Brief bisher unbekannt war.
(2) Die Dreizahl der Past macht durch die Form einer Briefsammlung die Entdeckungsumstände dieser persönlichen Briefe verständlich und gibt den Lesern einen Hinweis auf die Gewohnheit des Paulus, neben Gemeindebriefen auch persönliche Briefe zu schreiben. Das Corpus Pastorale hat aber zugleich die Funktion, als Interpretament des Corpus Paulinum seine ‘richtige’ Interpretation vorzulegen.
(3) Das Corpus Pastorale verleiht seinen Äußerungen Allgemeingültigkeit dadurch, dass der Gültigkeitsbereich des Inhalts von 1 Tim räumlich durch Tit und zeitlich durch 2 Tim ausgedehnt wird.