1. Zur Fragestellung
Paulusrezeption in der Johannesoffenbarung? Nicht ohne Grund ist bereits der Titel dieses Artikels mit einem Fragezeichen versehen. ‘Begründetes Schweigen’Footnote 1—mit dieser Formulierung umschreibt J.-W. Taeger (1998) die Haltung des Sehers von Patmos gegenüber dem großen Heidenapostel. Ein Blick in die exegetische Forschungsgeschichte legt den Eindruck nahe, dass auch hier weitgehend ‘Schweigen’ herrscht, was die Untersuchung einer Paulusrezeption durch den Autor der Johannesapokalypse angeht. So gehen beispielsweise weder G. StreckerFootnote 2 noch E. DassmannFootnote 3 in ihren Ausführungen zur Wirkungsgeschichte des Paulus auf die Johannesoffenbarung ein. Im Aufsatzband ‘Paulus in den neutestamentlichen Schriften’, 1981 in der Reihe ‘Quaestiones disputatae’ erschienen,Footnote 4 sucht man vergebens nach einem Artikel zur Apokalypse. Und auch die ausführliche Untersuchung A. Lindemanns zur Paulusrezeption in der frühchristlichen Literatur verweist lediglich in einer kleinen Nebenbemerkung auf die Johannesoffenbarung: Weder positiv noch negativ könne man in ihr Spuren paulinischen Denkens feststellen, entweder weil die Gattung ‘Apokalypse’ dafür keinen Raum gelassen habe oder weil die Offenbarung vielleicht in einer von paulinischer Tradition unberührten Gemeinde entstanden sei.Footnote 5 Explizit thematisiert E. Lohse dagegen das Verhältnis von Johannesoffenbarung und paulinischer Theologie—um dann aber seinerseits zu dem Ergebnis zu kommen, dass durch die Zuwanderung palästinischer Christen nach 70 n. Chr. Name und Theologie des Apostels in den kleinasiatischen Gemeinden mehr und mehr in Vergessenheit geraten seien. Die ebenfalls in dieser palästinisch-judenchristlichen Tradition anzusiedelnde Johannesoffenbarung lasse daher vom paulinischen Erbe praktisch nichts erkennen.Footnote 6
Ganz anderes urteilt Klaus Berger: Nirgends sonst im frühen Christentum sei ‘der innere Zusammenhang von gemeinsamer Grundlage und Streit’Footnote 7 so gut erkennbar wie bei Paulus und der Johannesapokalypse. Und grundsätzlich stehe der Verfasser der Offenbarung, dessen Schrift Berger schon um 68/69 n. Chr. datiert, dem Apostel ‘sehr viel näher als gemeinhin gedacht’Footnote 8.
Freilich—auch wenn man in der Johannesoffenbarung paulinische Spuren zu entdecken glaubt, stellt sich immer noch die Frage: Auf welcher Seite lassen sie sich entdecken? Ist es auf der Seite der in einem klassischen ehemaligen Missionsgebiet des Paulus befindlichen kleinasiatischen Gemeinden? Ist ‘Paulinismus’ im weitesten Sinne vielleicht vorrangig ein Anliegen der in den Sendschreiben (Offb 2-3) sichtbar werdenden ‘Gegner’ des Johannes? Oder zeigt sich auch der Autor der Offenbarung selbst vertraut mit paulinischer Tradition? Und wenn das der Fall sein sollte: Greift er sie positiv auf oder wendet er sich gegen sie?
So wirft die Thematik einer Paulusrezeption in der Apokalypse eine ganze Reihe von Fragen auf, die im Folgenden aus den drei soeben angedeuteten Perspektiven erörtert werden:
1 Zum einen soll eine ansatzweise Verortung der Adressatengemeinden im damaligen Gefüge des frühen Christentums mit seinen unterschiedlichen Traditionssträngen rund um das Epizentrum Ephesus unternommen werden. Damit verbindet sich die Frage, wie virulent die paulinische Tradition in diesen Gemeinden (noch) war und welche Adaptationen sie erfahren hatte.
2 Eine weitere Betrachtung gilt den ‘Gegnern’ des Johannes und ihrer möglichen Beziehung zu paulinischem Gedankengut.
3 In einem letzten Schritt soll der Text der Apokalypse untersucht werden auf Indizien hinsichtlich der Einstellung des Johannes von Patmos gegenüber dem Völkerapostel—wobei es sich angesichts der zeitlichen Distanz für den Seher auf jeden Fall um eine bereits vermittelte Begegnung mit paulinischem Denken handelt. Daraus ergibt sich schließlich die Frage, welche Strategie der neutestamentliche Seher in dem Beziehungsgefüge von Paulustraditionen, Adressatengemeinden, gegnerischen Gruppierungen und eigenem Anspruch eingeschlagen hat.
Dabei wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Johannesoffenbarung in ihrer heutigen Gestalt ungeachtet der Vielzahl von Traditionen, die sie verarbeitet hat, ein im Ganzen einheitliches und wohldurchdacht konzipiertes Werk darstellt. In diesem Rahmen werden dann auch die dem apokalyptischen Hauptteil vorgeschalteten Sendschreiben in Offb 2-3 als integrativer Teil des Gesamtwerkes von nicht zu unterschätzender hermeneutischer Schlüsselwirkung betrachtet. Hinsichtlich der Datierung erscheint das letzte Jahrzehnt des 1. Jh., d.h. die letzten Jahre der Regierungszeit Domitians, nach wie vor als die wahrscheinlichste Annahme.
2. Adressatengemeinden—‘Gegner’—Johannes von Patmos: eine Spurensuche
2.1. Die Gemeinden der Sendschreiben: paulinisch geprägt?
Die erstmals innerhalb der Beauftragungsvision (Offb 1.11) angeführten Adressatengemeinden repräsentieren in ihrer Siebenzahl die Gesamtheit der kleinasiatischen Christenheit und aller urchristlichen Gemeinden. Auf eine blühende Landschaft christlicher Gemeinden in ganz Kleinasien verweisen Adressatenangaben wie 1 Petr 1.1 oder diejenigen der Ignatiusbriefe. Der Bezug dieser Gemeinden zum Völkerapostel ist—sofern wir ihn überhaupt näher fassen können—differenziert zu beurteilen. Eine direkte bzw. alleinige Gründung durch Paulus, die auf einen besonders hohen Grad identitätsstiftender Verbindung schließen ließe,Footnote 9 wird von keiner der sieben Gemeinden berichtet. Die Gemeinden von Smyrna, Pergamon, Sardes und Philadelphia werden erstmals in der Offenbarung erwähnt. Ebenso verhält es sich mit Thyatira, der Heimat der Purpurhändlerin Lydia, die sich in Philippi durch die Begegnung mit Paulus taufen ließ (Apg 16.14-15). Laodizea dagegen könnte nach Kol 4.12-13 eine Gründung des Paulus-Mitarbeiters Epaphras sein. Auch bezeugt Kol 4.16 die Existenz eines (deutero-?)paulinischen Briefes an die Laodizener. Selbst wenn Paulus dieser Gemeinde persönlich nicht bekannt war (vgl. Kol 2.1), steht sie demnach in paulinischer Tradition.
Am stärksten aber kann von Ephesus als einem Zentrum paulinischer Traditionsbildung gesprochen werden. Für Paulus selbst stellt Ephesus nach Apg 18-19 einen Brennpunkt seiner Verkündigungstätigkeit dar. Über zwei Jahre lang verweilte er dort mit deutlichen Kontakten hinein in die weitere Provinz Asia (vgl. Apg 19.10; 1 Kor 16.19), und offensichtlich konnte seine Missionierung trotz aller Angefochtenheit Erfolg verzeichnen (vgl. 1 Kor 16.8-9).Footnote 10 Dennoch verdanken nicht alle Gemeindemitglieder ihren Christusglauben dem Heidenapostel. Noch vor der Ankunft des Paulus ist von der Anwesenheit seiner engen Mitarbeiter Priszilla und Aquila die Rede, die den dort in der Synagoge missionierenden judenchristlichen Alexandriner Judenchristen Apollos korrigierend unterweisen (Apg 18.26).Footnote 11 Die Rede von den ἀδελϕοί in Apg 18.27 verweist auf die vorpaulinischen judenchristlichen Wurzeln der Gemeinde. Als weitere Gruppierung schon vor der paulinischen Mission sind die Johannesjünger zu nennen. Auch sie werden nach Apg 19.1-7 belehrt und integriert. Gleichzeitig jedoch spiegelt Apg 19.8-9 eine konflikthafte Trennung der paulinischen Christen von der synagogalen Gemeinde. Eine gewisse Pluriformität christlichen Lebens wäre demnach trotz dominierender paulinischer Prägung von Anfang an in der Gemeinde von Ephesus angelegt.
Die bereits in nuce angelegte Diversität ist auch gegen Ende des 1. Jh. ein Kennzeichen ephesinischen Gemeindelebens, und es ist anzunehmen, dass der Verfasser der Offenbarung eingebunden war in ein Netz koexistierender (und rivalisierender!) theologischer Zirkel, zwischen denen gleichwohl Austausch- und Verschmelzungsprozesse stattfanden.
Neben der ‘Paulusschule’Footnote 12 wird auch die ‘johanneische Schule’ mit großer Mehrheit in Ephesus lokalisiert; traditionsgeschichtliche Verbindungslinien zwischen beiden Richtungen sind wahrscheinlich.Footnote 13 Die Apokalypse selbst teilt mit dem johanneischen Schrifttum bedeutsame theologische Motive (so dasjenige des Lebenswassers in Offb 21.6; 22.1 sowie Joh 4.10-15; 7.37-8). Eine präzisierende Bestimmung des zweifelsohne bestehenden Verwandtschaftsverhältnisses bleibt schwierig;Footnote 14 vermutlich aber wird der Autor der Offenbarung aufgrund gemeinsamer palästinisch-judenchristlicher Wurzeln der johanneischen Schule von Haus aus näher gestanden haben als der paulinischen.
Dass die Gemeinde von Ephesus nachpaulinisch Konflikten von außen und innen begegnete, bezeugen—wenn auch aus verschiedenen Perspektiven—sowohl die Milet-Rede an die Ältesten von Ephesus (vgl. Apg 20.29-30) als auch der Kolosserbrief.Footnote 15 Dieses früheste deuteropaulinische Schreiben dürfte ebenso wie der von ihm abhängige, sich an die Provinz Asia richtende Epheserbrief diejenige Form von ‘Paulinismus’ widerspiegeln, die dem Seher Johannes begegnet ist. Auch die PastoralbriefeFootnote 16 als weitere Repräsentanten der Paulusrezeption bis zur Jahrhundertwende müssen sich mit ‘Irrlehren’ (judenchristlich-frühgnostischer Prägung) auseinandersetzen, und auch ihre Trägerkreise sind als Vermittlungsinstanz für das Paulusbild des Apokalyptikers Johannes in Betracht zu ziehen. Von den doketistischen Gefährdungen, die Ignatius um 110 n.Chr. zwar nicht in Ephesus, aber doch auch in einigen Gemeinden der Sendschreiben bekämpfen muss (nämlich Smyrna und Philadelphia), ist zur Zeit der Offenbarung noch nichts erkennbar.Footnote 17
Auch die Sendschreiben der Apokalypse gewähren Einblick in Konflikte und Gefährdungen der kleinasiatischen Gemeinden. Johannes beklagt in Laodizea Lauheit und Halbherzigkeit (Offb 3.14-22) und in Sardes ethischen Libertinismus (Offb 3.1-6); beide Gemeinden bleiben als einzige gänzlich ohne Lob. In den anderen Sendschreiben klingt neben mehreren Einzelfragen die Notwendigkeit sehr grundlegender Positionierungen an:
1. Zum einen—davon zeugen die Sendschreiben nach Smyrna (2.8-11) und Philadelphia (3.7-13)—mussten die inzwischen mehrheitlich heidenchristlichen Gemeinden das Verhältnis zur Synagoge bestimmen,Footnote 18 zumal es angesichts der langen Tradition eines gut integrierten Judentums nach wie vor auch judenchristliche Minderheiten gegeben hat. Die unter den flavischen Herrschern einsetzende Verschlechterung des jüdisch-römischen Verhältnisses zwang auch die Juden zu einer verstärkten Abgrenzung von den als subversiv geltenden Christen. Wer also sind die wahren ‘Juden’, wer gehört zum Gottesvolk? So lautete die (nicht nur) theologisch relevante Frage, die der Seher mit der Verunglimpfung der Juden als ‘Synagoge des Satans’ einseitig zugunsten der Christen zu beantworten scheint (vgl. Offb 2.9; 3.9).
2. Zum anderen mussten die Christen ihre Einstellung gegenüber dem römischen Staat definieren; genau in diesem Kontext stehen die für die Gegnerfrage relevanten Sendschreiben nach Ephesus (Offb 2.1-7), Pergamon (Offb 2.12-17) und Thyatira (Offb 2.18-29). Das grundsätzliche Spannungsverhältnis von Christentum und heidnisch-römischer Religiosität stellte die Gläubigen immer wieder vor die Entscheidung zwischen Anpassung und Verweigerung. Zu Recht ist die neuere Forschung zwar von der Annahme einer akuten, breit angelegten Verfolgungssituation aufgrund einer Verweigerung des Kaiserkultes abgerückt,Footnote 19 und Märtyrer wie der ‘treue Zeuge’ Antipas (Offb 2.13) waren vermutlich die Ausnahme. Doch bestand angesichts der von Domitian verstärkten Förderung des Kaiserkultes zumindest potentiell die Gefahr von Denunziation und polizeilicher Gewalt. Vielleicht noch bedeutsamer ist die ‘weiche’ Variante des Kaiserkultes: Wer sich als Christ den Praktiken des Kaiser- und Götterkultes verweigerte, riskierte gesellschaftliche Marginalisierung. Was lag da näher, als nach Kompromissen zu suchen, die eine Integration der im Berufsleben unumgänglichen heidnischen Bräuche, aber auch der attraktiven, glanzvollen Festlichkeiten in den Christenalltag ermöglichten!
Kleinasien war eine besondere Hochburg des Kaiser- und Götterkultes. Ein weiteres Zentrum neben Ephesus als dem Sitz eines berühmten Artemistempels bildete Pergamon, von U.B. Müller wegen der dortigen Asklepiusverehrung das ‘Lourdes’Footnote 20 der Provinz Asia genannt. Worauf Johannes in Offb 2.13 mit der Formulierung ‘Thron des Satans’ anspielt, ist umstritten.Footnote 21 Eher als eine konkrete Lokalität (wie z.B. das Heiligtum für den divus Augustus und die Göttin Roma) wird hier die grundsätzliche Frontstellung von Christen und römischem Staat angesprochen sein. Für Thyatira sind vor allem die Kaufleute und Handwerksgilden anzuführen, bei deren Zusammenkünften es unweigerlich zu Festmahlzeiten mit religiösem Charakter und zum Verzehr von Götzenopferfleisch kam.
Johannes spendet diesen drei Gemeinden durchaus Lob im Hinblick auf ihre ‘Standhaftigkeit’ gegenüber der äußeren Bedrängnis. Hinsichtlich ihres Umgangs mit ‘gegnerischen’ Gruppen erhält jedoch nur die Gemeinde von Ephesus ein positives Urteil. Dort habe man die ‘Lügenapostel’ geprüft und verworfen (Offb 2.2) und ‘hasse’ ebenso wie Johannes selbst (Offb 2.6) die Werke der Gegner—freilich ohne dass dieser Autor und Adressaten verbindende ‘Hass’ konkretisiert würde. Während für Ephesus die Gefahr eines gegenläufigen Einflusses gebannt erscheint, werden die anderen beiden Gemeinden scharf gerügt, weil sie die Gegner in ihren Reihen dulden. Die Tadel an Pergamon und Thyatira belegen sowohl die Existenz konkurrierender Positionen und lassen darüber hinaus rückschließen, dass die so genannten ‘Gegner’ auf Resonanz hoffen konnten—vielleicht sogar auf eine größere als der Seher selbst? Manche der folgenden Aussagen über die gegnerischen Gruppierungen wird somit auf zumindest einen Teil der Gemeindemitglieder gleichermaßen zutreffen.
2.2. Die ‘Gegner’ und Paulus
Alle rekonstruierenden Aussagen über die ‘Gegner’ stehen unter dem Vorzeichen der methodischen Schwierigkeit, dass Johannes diese in heftiger Polemik verzeichnend darstellt. Die neutralste Bezeichnung als ‘Nikolaiten’ fällt nicht zufällig im Sendschreiben nach Ephesus (Offb 2.6). Zwar werden die Nikolaiten—anders als die bereits verworfenen ‘Lügenapostel’ (Offb 2.2)—Footnote 22 noch als gegenwärtige Größe geschildert, doch scheint der Seher mit einer übereinstimmenden Ablehnung seitens seiner Adressaten rechnen zu können und muss dementsprechend keinen Überzeugungsaufwand mehr betreiben. Vielleicht ist die Neutralität des Namens sogar ein Hinweis auf eine Selbstbezeichnung der Gruppe. Pate bei der Namensgebung könnte der in Apg 6.5 erwähnte Proselyt und spätere Diakon Nikolaos gestanden haben, einer der Jerusalemer Hellenisten.Footnote 23 Zumindest im Sendschreiben nach Ephesus gibt Johannes freilich keine weitere Auskunft, was die ‘verhassten Werke’ der Nikolaiten näherhin beinhalten.
In den Sendschreiben nach Pergamon und Thyatira dagegen wählt der Seher vorrangig alttestamentliche Decknamen mit negativem Beiklang und gibt seinen Vorwürfen ein konkreteres Gesicht:
Die Gemeinde von Pergamon wird wegen der Duldung von Leuten getadelt, ‘die an der Lehre Bileams’ (Offb 2.14) festhalten. Diese ‘Lehre’ wird mit der Aufforderung an Balak umschrieben, er ‘solle die Israeliten dazu verführen, Fleisch zu essen, das den Götzen geweiht war, und Unzucht zu treiben’. Ungeachtet der positiven Darstellung in Num 22-24 als einem heidnischen Seher, der dem Auftrag des Moabiterkönigs Balak gemäß Israel verfluchen soll, stattdessen aber aufgrund göttlicher Inspiration Segenssprüche über Israel ausspricht, erscheint Bileam hier als Prototyp des Irrlehrers und Verführers. Johannes steht damit in einer schon im AT einsetzenden Tradition zunehmender Negativzeichnung Bileams als Verführer zur Verehrung fremder Götter (Num 31.16) und als Verflucher Israels (Dtn 23.4-6). Die im Frühjudentum hinzutretende moralische Abwertung durch die Unterstellung von Habgier (vgl. z.B. Philo Vit.Mos. 1. 263-304) wurde auch in neutestamentlichen Schriften wie Jud 11 und 2 Petr 2.15-16 rezipiert. Im Sendschreiben nach Pergamon könnte sie mitschwingen, zumal die Position der ‘Bileamiten’ den wirtschaftlichen Interessen der Adressaten entgegenkam.
Auch im Sendschreiben an Thyatira schließt Johannes an eine prominente Figur des AT an und nennt eine Frau ‘Isebel’, die sich fälschlich als Prophetin ausgebe und Lehrkompetenzen anmaße (Offb 2.20). Wie jene nichtisraelitische Gattin König Ahabs, die zur Errichtung eines Baalstempels verführt (1 Kön 16.29-33) und dem wahren Propheten Elia nach dem Leben trachtet (1 Kön 19.2), so tritt auch die selbst ernannte Prophetin als Verführerin auf. Doch obwohl sie die Christen zu ‘Unzucht’ und zum Essen von Götzenopferfleisch verleite, lässt man sie in Thyatira gewähren. Dies spricht ebenso für ihre einflussreiche Position wie die sich im folgenden Umkehrruf (Offb 2.21) und in den Strafandrohungen von Offb 2.22-3 niederschlagende scharfe Reaktion des Sehers: Angesichts ihrer Unbelehrbarkeit und Unbekehrbarkeit (Offb 2.21) prophezeit der Seher der ‘Isebel’ das ‘Krankenbett’ (statt des Betts der πορνɛία?) und ihren Anhängern Bedrängnis und Tod.
Ein weitgehender Konsens in der Forschung geht dahin, diese verschieden benannten Gruppierungen wenn auch nicht als identisch, so doch als ‘eine relativ gleichförmige Bewegung’Footnote 24 zu betrachten. Dafür spricht zum einen die Parallelisierung der Bileamiten mit den Nikolaiten im Sendschreiben nach Pergamon (vgl. das verbindende Ουτωॐς in Offb 2.15). Zum anderen fällt die gleich bleibende Charakterisierung der gegnerischen ‘Verführung’ mit den Begriffen πορνɛῦσαɩ und ϕαγɛῖν ει)δωλόθυτα (2.14, 20) ins Auge.Footnote 25
Eine primär sexualethische Interpretation von πορνɛῦσαɩ im Sinne eines freizügigen GeschlechtsverkehrsFootnote 26 greift m.E. zu kurz. Sie ist als Konnotation sicherlich gegeben, zumal sexuelle Ausschweifung im Judentum ohnehin als Folge oder Begleiterscheinung heidnischen Götzendienstes gewertet werden konnte. Im Vordergrund steht jedoch die schon im AT ausgeprägte Metaphorik des Begriffs im Sinne eines Abfalls von Jahwe hin zu den Götzen der Heiden.Footnote 27 Damit befindet sich die πορνɛία in großer inhaltlicher Nähe zum Vorwurf des Verzehrs von Götzenopferfleisch (ϕαγɛῖν ει)δωλόθυτα), wobei die Wahl der christlich-polemischen Vokabel ει)δωλόθυτον statt des aus heidnischer Perspektive korrekten Ausdrucks ἱɛρόθυτον auch hier bereits die Negativwertung impliziert.
Der Verzehr von Götzenopferfleisch war freilich in einem vom Heidentum geprägten Alltag schwer zu umgehen. Wer konnte schon sicher sein, dass das Fleisch auf den Märkten nicht aus Tempelschlachtungen stammte? Wie stand es um das Fleisch, das bei den großen städtischen Festen verteilt wurde und oft die einzige ‘Fleischquelle’ für weniger Begüterte darstellte? Und für die Wohlhabenderen, die Kaufleute und Handwerker stand mit der Teilnahme an den Gastmählern und religiösen Zeremonien der Handelsvereinigungen ihre geschäftliche Existenz auf dem Spiel.
Die in der Johannesoffenbarung als ‘Gegner’ Charakterisierten scheinen aus diesem Dilemma einen willkommenen Ausweg geboten zu haben, der die Integration der Christen in die römische Gesellschaft ohne Aufgabe ihrer christlichen Identität versprach. Dass es sich dabei nicht nur um einen lebenspraktischen Kompromiss ‘unter der Hand’ handelte, sondern den praktischen Erleichterungen eine reflektierte theologische Legitimierung zugrunde lag, belegt die Bezeichnung der gegnerischen Position als διδαχή (Offb 2.14; vgl. auch 2.20). Genau in diesem grundsätzlichen, lehrhaften Charakter mag Johannes die Bedrohlichkeit der oppositionären Haltung gesehen haben; im Sendschreiben nach Ephesus, wo die Nikolaiten in ihre Schranken verwiesen wurden, begnügt er sich nämlich mit der Evokation ihrer ‘Werke’ (Offb 2.6).
Zu einer solchen ‘Lehre’ berechtigt fühlen sich die Konkurrenten des Sehers offensichtlich aufgrund ihres besonderen pneumatischen Erkenntnisstandes. So beanspruchen die Anhänger Isebels in Offb 2.24, die ‘Tiefen des Satans erkannt’ zu haben. Ob es sich hier um eine polemische Umformung handelt und ursprünglich ähnlich wie in 1 Kor 2.10 von einer Erkenntnis der ‘Tiefen Gottes’ die Rede warFootnote 28 oder ob der Kreis um Isebel wirklich eine Erkenntnis des Satans für sich beanspruchte-Footnote 29 aus beiden Annahmen leitet sich ein Überlegenheitsbewusstsein über das Irdisch-Weltliche ab, das den Anhängern dieser Richtung ein unbefangenes Leben inmitten der römischen Gesellschaft ermöglichte. Hinsichtlich einer Einschätzung der Gegner als Gnostiker ist freilich Vorsicht geboten. Schon die Voraussetzung dieser These, dass nämlich die ‘Nikolaiten’ der Apokalypse identisch seien mit der gleichnamigen, von patristischen Ketzerbekämpfern als Gnostiker bezeichneten häretischen Gruppierung, ist nicht schlüssig zu belegen. Vor allem aber liefern die patristischen Quellen in Bezug auf eine ‘gnostische’ Ausrichtung selbst kein einheitliches Bild. So ordnet Irenäus—im frühesten außerkanonischen Beleg—die ‘Nikolaiten’ zwar der Gnosis zu (Iren. Adv. Haer. III.11.1), charakterisiert sie inhaltlich aber in starker Anlehnung an Offb 2 eher als antinomistisch-libertinistisch (Iren. Adv. Haer. I.26.3).Footnote 30 Anstelle einer primär gnostischen Zuordnung ist die Motivation der ‘Gegner’ eher in einer hellenistisch geprägten, rational dominierten Grundhaltung zu sehen, der zufolge das Festhalten an den Ritualgeboten als unvernünftig und abergläubisch erscheinen musste.Footnote 31 Doch auf wen konnten sich die Nikolaiten theologisch bei einer solchen Position berufen?
Die Stichworte ει)δωλόθυτα und γιγνώσκω erinnern unschwer an 1 Kor 8-10, speziell an die Passagen 1 Kor 8.1-13 und 10.14-33. In der Tat könnten die Nikolaiten ähnlich wie die so genannten ‘Starken’ in Korinth argumentiert haben. Auch die Enthusiasten unter den Korinthern führen für ihre offensiv-provokative Teilnahme an heidnischen Kultmählern die eigene Erkenntnis an (1 Kor 8.1). Und grundsätzlich kann Paulus ihnen voll und ganz zustimmen. Denn natürlich gibt es keine Götzen auf der Welt und keinen anderen Gott als den einen (1 Kor 8.4) für den, der in Jesus Christus das Heil erkannt hat. Götzen mögen für die heidnische Umgebung noch von Relevanz sein, doch sind sie nichts als ein gesellschaftliches Konstrukt. Der Macht des einen Herrn Jesus Christus (1 Kor 8.5-6) können weder Götterbilder noch Kaiserkulte etwas anhaben. Eben weil man in soteriologischer Hinsicht mit dem Verzehr von Götzenopferfleisch weder etwas verliert noch gewinnt (1 Kor 8.8), kann Paulus prinzipiell schlussfolgern: ‘Alles, was auf dem Fleischmarkt verkauft wird, das esst […]. Wenn ein Ungläubiger euch einlädt und ihr hingehen möchtet, dann esst, was euch vorgesetzt wird’—beide Male mit dem ausdrücklichen Zusatz μηδὲν ἀνακρίνοντɛς διὰ τὴν συνɛίδησιν (1 Kor 10.25-7). Diesbezüglich könnten sich die ‘Nikolaiten’ der Johannesoffenbarung also durchaus auf Paulus berufen haben.
Allerdings differenziert Paulus: Die ‘aufblähende’ γνῶσις wird bei ihm modifiziert und limitiert durch ihre Einbindung in die ‘aufbauende’ ἀγάπη gegenüber Gott (1 Kor 8.1-3) und den Menschen. Eine weitere Differenzierung erfolgt im Blick auf den Anlass. Der Teilnahme an im engeren Sinne kultischen Mählern erteilt Paulus eine deutliche Absage. Teilhabe am Herrenmahl und Teilhabe am ‘Tisch der bösen Geister’ (1 Kor 10.21) schließen einander definitiv aus. Darüber hinaus ist der Verzehr von Götzenopferfleisch freigestellt—doch schränkt der Apostel ihn in der Praxis aus pastoralen Gründen zugleich wieder ein: Πάντα ἔξɛστιν ἀλλ̓ οὐ πάντα συμϕέρɛιFootnote 32 (1 Kor 10,23). Die in 1 Kor 8.1 als ‘aufbauend’Footnote 33 charakterisierte Liebe äußert sich im Verzicht auf das Erlaubte, sobald es die Mitchristen zu schädigen droht. Denn einige der Heidenchristen waren anscheinend noch so sehr in der alten Gewohnheit gefangen, dass sie das Essen von Götzenopferfleisch auch weiterhin als Akt der Anerkennung dieser Götzen aufgefasst haben (1 Kor 8.7). Aus Rücksicht auf ihr Gewissen und ihre geringere Einsicht sollen auch die ‘Starken’ verzichten: ‘Wenn darum eine Speise meinem Bruder zum Anstoß wird, will ich überhaupt kein Fleisch mehr essen, um meinen Bruder keinen Anstoß zu geben.’ (1 Kor 8.13) Dies gilt umso mehr im Falle des expliziten Hinweises von außenFootnote 34, dass es sich um aus Opferzeremonien stammendes Fleisch handelt. Hier ist das auch für die ‘Schwachen’ verständliche Bekenntnis gefragt, findet die eigene Freiheit ihre Grenze am Gewissen des anderen (1 Kor 10.28-9).Footnote 35
Insgesamt scheinen die ‘Nikolaiten’ also gut ‘in die Ahnengalerie eines radikalisierten nachpaulinischen Christentums’Footnote 36 zu passen. Waren sie vielleicht ebenso aggressiv-missionarisch gegenüber den ‘schwachen’ kleinasiatischen Gemeindemitgliedern wie die ‘Starken’ Korinths, und kritisiert Johannes demnach zumindest ihre Einseitigkeit zu Recht? Oder propagierten sie mit guten theologischen Gründen eine vernünftige, die christliche Identität nicht in Frage stellende Möglichkeit gesellschaftlicher Koexistenz—ganz im Sinne der Aussage: ‘Etwas anderes zu behaupten wäre schlechte Theologie oder religiöser Fanatismus’?Footnote 37 Vielleicht waren sie durchaus in der Lage, zu ähnlich differenzierten Urteilen zu gelangen wie Paulus? Die Schwarz-Weiß-Dynamik, mit der Johannes von Patmos gegen sie polemisiert, macht ein abschließendes Urteil so gut wie unmöglich. Dass Johannes aber zu scharfen verbalen Waffen greift, spricht für den Erfolg der ‘Nikolaiten’. Ihre Botschaft fiel in heidenchristlich dominierten Gemeinden wie Pergamon und Thyatira auf fruchtbaren Boden.
2.3. Johannes von Patmos und Paulus
Angesichts der Breite vielstimmiger Paulusrezeption zur Abfassungszeit der Apokalypse sowohl in den Trägerkreisen der deuteropaulinischen Schriften als auch in Gruppierungen wie den Nikolaiten ist schlechthin undenkbar, dass Johannes von Patmos keinerlei wie auch immer geartete Kenntnis vom (Nach-)Wirken des Paulus hatte. Eine explizite Erwähnung, geschweige denn eine wertschätzende Paulusanamnese, wie sie sich im Zusammenhang mit Ephesus angeboten hätte und wir sie in den Ignatiusbriefen antreffen (Ign. Eph. 12.2; Ign. Röm. 4.3), sucht man freilich vergebens. Auch der apostolische Anspruch des Paulus bleibt unbeachtet; die Bezeichnung der in Offb 21.14 erwähnten Apostel als Fundament des neuen Jerusalem visiert lediglich den vorösterlichen Zwölferkreis an. Kann man also schließen, ‘dass der Seher wissentlich und willentlich eine direkte Erwähnung des Paulus umgeht’?Footnote 38
Wir wissen nicht, ob der Seher jemals authentische Paulusbriefe gelesen hat. Zumindest aber wird ihm Paulus als Briefeschreiber bekannt gewesen sein. So begegnen uns formale wie auch inhaltliche Affinitäten schon in der brieflichen Rahmung der Johannesapokalypse. Sowohl das Briefformular (Offb 1.4-5a) als auch der Schlussgruß (Offb 22.21) erinnern an die (im damaligen Frühchristentum allerdings schon weit verbreitete) paulinische Briefkonvention. Der Gemeinsamkeit in der Form stehen markante Abweichungen entgegen. So treffen sich die jeweiligen Selbstvorstellungen zwar in der Bezeichnung als δοῦλος (Offb 1.1 sowie u.a. Röm 1.1; Phil 1.1; vgl. auch Tit 1.1). Anstelle der Betonung des Apostelstatus bei Paulus verweist Johannes im Präskript allein auf die göttliche Autorschaft (und damit auch auf die unantastbare Autorität!) seiner Schrift und reduziert seine eigene Funktion auf die eines ‘Aufschreibers’ (vgl. die Schreibbefehle in Offb 1.11 und 1.19). Die Wendung ἀποκάλυψις ̓Iησοῦ Xριστοῦ (Offb 1.1) erinnert an Gal 1.12.Footnote 39 Hier wie dort erscheint Jesus Christus als Übermittler der von Gott stammenden Offenbarung. Ob Johannes seine eigene prophetische Erfahrung bewusst in Konkurrenz zur paulinischen Berufungserfahrung setzen will, muss angesichts des unterschiedlichen Bezugs offen bleiben.Footnote 40
Immerhin auffällig ist aber eine weitere terminologische Anlehnung in den ersten Versen der Johannesoffenbarung. Speziell die mittlere der drei Christusprädikationen innerhalb der Salutatio (Offb 1.5: ὁ πρωτότοκος τῶ⌢ν νɛκρῶ⌢ν) verweist auf den paulinischen Traditionsbereich. Sie greift inhaltlich die aus dem berühmten ‘Auferstehungskapitel’ 1 Kor 15 vertraute Vorstellung von Christus als dem ‘Erstling der Entschlafenen’ (1 Kor 15.20) auf und besitzt weitere Parallelen in Röm 8.29 (πρωτότοκος ἐν πολλοῖς ἀδɛλϕοῖς) sowie in wörtlicher Entsprechung in Kol 1.18. Weitere sprachliche Gemeinsamkeiten lassen sich in den Sendschreiben finden, so z.B. die Aufzählung von lobenswerten Haltungen der Gemeinde von Ephesus (Offb 2.2: ἒργα, κόπος, ὑπομονή), die Paulus gleichermaßen den Thessalonichern zuspricht (1 Thess 1.3). Dass sich solche Anlehnungen an die paulinische Tradition bereits im Briefrahmen finden, zeugt von der Bereitschaft des Sehers, in Form und Terminologie an für die Leser- bzw. Hörerschaft Vertrautes anzuknüpfen und so deren Aufnahmebereitschaft zu stärken.Footnote 41 Diese Adressatenorientierung schließt allerdings—wie wir besonders an Offb 1.1 erkennen können—als notwendig empfundene eigene, auch gegenläufige Akzentsetzungen nicht aus.
Die ‘Affinitäten’ zwischen Paulus und Johannes von Patmos beschränken sich nicht auf den brieflichen Rahmen. Abgesehen von der Tatsache, dass beide an den auch in anderen Traditionslinien vorfindbaren Grundüberzeugungen christlichen Glaubens festhalten,Footnote 42 erweisen sich mehrere der vermeintlichen ‘exklusiven’ Gemeinsamkeiten freilich bei näherer Untersuchung als gegenstandslos.Footnote 43 Hält man nach Verwandtem Ausschau, so lohnt sich vielleicht am ehesten der Blick auf die ekklesiologische Ausrichtung sowie auf das jeweilige eschatologisch-apokalyptische Gedankengut.
In ekklesiologischer Hinsicht ist Johannes, der sich in Offb 1.9 den sieben Gemeinden als ‘euer Bruder und Mitgenosse (συγκοινωνός) an der Bedrängnis und an der Basileia’ vorstellt, einem an der Einzelgemeinde orientierten, geschwisterlich-egalitären Gemeindemodell verbunden. Diese Einstellung als ein Signal dafür zu werten, hier könnten ‘originär paulinische Impulse weiterwirken’,Footnote 44 erscheint mir zu direkt. Feststellbar aber ist, dass der Autor der Johannesoffenbarung ein Kirchenbild vertritt, das wesentlich stärker mit Paulus übereinstimmt—man denke an einen Gemeindeentwurf wie denjenigen vom Zusammenspiel der vielen Gliedern des einen Leibes in 1 Kor 12—als mit der Realität in den kleinasiatischen Gemeinden. Keinesfalls kann die Parallele zum paulinischen Denken hier gedeutet werden als Eingehen auf die Rezeptionserwartungen der Adressaten. Zwar mögen dort die ‘Propheten’ als Erinnerung an die Anfangszeit der Kirche noch präsent gewesen sein (vgl. die Nennung der Apostel und Propheten als Fundament der Gemeinde in Eph 2.20). Wanderpropheten wie Johannes, aber auch wie seine Gegenspieler, konnten vielleicht auf Aufnahme gerade deshalb hoffen, weil sie die Gemeinden an das Charisma der Gemeindepropheten aus paulinischer Zeit erinnerten. Und führt Johannes seine Aufgabe als Prophet nicht genau in der Intention von 1 Kor 14.3 aus, indem er versucht, die Menschen aufzubauen, zu ermahnen und zu trösten?Footnote 45 An der Existenz fester ortskirchlicher Strukturen kann man Ende des 1. Jh. gleichwohl kaum zweifeln. Davon zeugen gerade die Pastoralbriefe, die neben den paulinisch belegten Diensten des ἐπίσκοπος und διάκονος (Phil 1.1) unter den gemeindeleitenden Ämtern auch die Ältesten nennen und in einem an der antiken Oikos-Struktur orientierten hierarchischen Gemeindemodell einen Garanten für die Stabilität und gesellschaftliche Integration der Gemeinden sahen. Der Seher muss um diese kirchliche Wirklichkeit gewusst haben—und doch richtet er seine Sendschreiben eben nicht an die Amtsträger, sondern an die Gemeinden insgesamt (Offb 1.4) bzw. an die jeweiligen ‘Gemeindeengel’ als deren himmlischen Repräsentanten. Dass er hier ein Stück anscheinend unliebsame gemeindliche Realität schlichtweg ausblenden kann, macht ein ebensolches Vorgehen im Blick auf die Paulusrezeption umso wahrscheinlicher.
Eine weitere Brücke zwischen Paulus und Johannes stellt ihr eschatologisch-apokalyptischer Horizont dar. So setzen beide eine vergleichbare Chronologie der Endereignisse voraus, beide betten das endzeitliche Erscheinen des erhöhten Christus in das traditionelle Ablaufschema ein,Footnote 46 und beide kennen als Zielpunkt eschatologischer Hoffnung die Vision eines endzeitlichen Jerusalem (s.u.). Nun handelt es sich hier gewiss nicht um eine exklusive Gemeinsamkeit, sondern vielmehr um eine gemeinsame, wenn auch zeitlich versetzte Teilhabe an der frühjüdisch-frühchristlichen Phase der Apokalyptik. Allenfalls kann man konstatieren, dass sich von der Offenbarung her ‘deutlicher erkennen lässt, wie breit und ausgebildet die christliche Apokalyptik bereits in den Paulusbriefen ist’Footnote 47. Als ein Paulus und die Johannesoffenbarung verbindender Akzent lässt sich die Betonung der Zukünftigkeit der Vollendung konstatieren.Footnote 48 Umso bemerkenswerter ist dies angesichts der sich sowohl im Johannesevangelium (vgl. Joh 5.24-5; 6.47; 11.24-6) als auch in den Briefen an die Kolosser (Kol 2.12; 3.1-4) und Epheser (Eph 2.6) präferierten präsentisch-eschatologischen Ansatz, jeweils verbunden mit einem Denken in den räumlichen Dimensionen von ‘Oben’ und ‘Unten’. Paulus und der Seher setzen sich genauso aber auch ab von der deutlichen Zurücknahme eschatologischer Aussagen, von einem Sich-Einrichten in der Welt und dem Verweis auf eine entferntere Parusie ‘zur vorherbestimmten Zeit’, wie wir sie in 1 Tim 6.15 lesen—was gleichzeitig auch ein Beleg für die Inhomogenität der deuteropaulinischen Kreise ist.Footnote 49 Der von Paulus geübte ‘futurische Vorbehalt’Footnote 50 (1 Kor 13.12; 2 Kor 4.7; Röm 8.24) findet ein Pendant in der Überzeugung des Sehers, dass das endgültige Offenbarwerden des bereits vollzogenen Sieges Christi der in Kap. 21.1-22.5 geschauten ‘neuen Welt’ vorbehalten bleibt. Entgegen jedem Heilsenthusiasmus halten so Paulus wie auch der Seher Johannes gleichermaßen an der wichtigen Erkenntnis fest, dass die gegenwärtige christliche Gemeinde nach wie vor unter dem Kreuz steht, dass Geschichte trotz der Gewissheit des neuen Lebens in Jesus Christus weiterhin ‘Kreuzerfahrung’ bleibt.
Solche Gemeinsamkeiten können letztlich aber nicht hinwegtäuschen über fundamentale Differenzen zwischen dem Apostel Paulus und dem Propheten Johannes. Tiefgreifende Unterschiede im Denken lassen sich besonders in den beiden Fragestellungen erkennen, die schon in den Sendschreiben als dringlich erscheinen: zum einen die Verhältnisbestimmung zur jüdischen Gemeinde bzw. zu den Forderungen der Tora, zum anderen die Einstellung zum ‘Welt’, d.h. zu den Anforderungen des römischen Staates und der heidnischen Gesellschaft:
1. In einer Zeit, da die vollgültige Mitgliedschaft der Heidenchristen längst allgemein anerkannt war und die kleinasiatischen Gemeinden zu einem Großteil aus Heidenchristen bestanden, geht auch Johannes von Patmos selbstverständlich aus vom neuen, universalen Gottesvolk der im Christusbekenntnis vereinten Heilsgemeinde aus Juden und Heiden. Dabei setzt er die alttestamentlichen Bundesschlüsse und Verheißungen z.B. in Offb 21-22 in ungebrochene Kontinuität zur christlichen Gemeinde und erklärt die Christen in starker Abgrenzung von der zeitgenössischen Synagoge praktisch zu den ‘wahren Juden’ (vgl. die Diskussionen um das ̓Iουδαίους εἰ⌢ναι in den Sendschreiben Offb 2.9 und 3.9). Zum Gottesvolk in seinem Sinne zählen nur die wirklich ‘treuen’, kompromisslosen und ‘rechtgläubigen’ Christen; die binnenchristlichen ‘Gegner’ hingegen diffamiert er—und auch dies passt ins Konzept—mit der Wahl nichtisraelitischer alttestamentlicher Vorbilder. Angesichts des Ablösungs- und Identitätsfindungsprozesses des frühen Christentums ist eine solche, faktisch auf eine Substitution Israels hinauslaufende Haltung verständlich, sie muss jedoch bei einer heutigen Rezeption kritisch-hermeneutisch reflektiert werden. Hier ist mit P. Hirschberg zu fragen, ‘ob im Rahmen einer innerbiblischen Sachkritik die Konzeption des Sehers nicht von der paulinischen Sicht der Dinge, wie wir sie besonders in Röm 9-11; 15.7-13 finden, korrigiert werden muss.’Footnote 51
Dieser Ambivalenz hinsichtlich der Definition Israels zum Trotz zeugen nicht nur die einen hohen Prozentsatz des Buches dominierenden alttestamentlichen Anspielungen von der spezifisch judenchristlichen Perspektive des Sehers. So evoziert er im Sendschreiben an Thyatira mit der Wendung ‘Ich lege euch keine andere Last (βάρος) auf’ (Offb 2.24) wahrscheinlich die Klauseln des so genannten ‘Aposteldekretes’ (Apg 15.28-29).Footnote 52 Unter den dort seitens der Judenchristen angeführten vier Minimalforderungen des Ritualgesetzes an die Heidenchristen finden sich auch das Verbot der πορνεία und des Verzehrs von Götzenopferfleisch. Paulus zeigt dagegen schon in 1 Kor 8-10, dass er, sofern er das Aposteldekret überhaupt kennt (was Gal 2.6 zufolge zweifelhaft ist), sich daran hinsichtlich eines generellen Verbots von Götzenopferfleisch nicht gebunden fühlt. Waren die Forderungen des Aposteldekretes für die Gemeinden der Sendschreiben überhaupt noch auf breiter Basis virulent? Dass selbst der Autor der Johannesoffenbarung als vermutlich palästinischer Judenchrist nur noch die Hälfte der vier Forderungen nennt, spricht eher dagegen und lässt eine der paulinischen Position näher stehende Haltung auf der Seite der kleinasiatischen Gemeinden vermuten. Dafür sprechen auch deuteropaulinische Schreiben wie der Kolosser- oder die Pastoralbriefe, in denen man judenchristlich akzentuierte Positionen in der Regel auf der Seite der Gegner antrifft. Auch der die Einheit von Juden- und Heiden-(christen) beschwörende Epheserbrief (vgl. Eph 2.11-22), der mit seinem Bild von der universalen Kirche als Bau Berührungspunkte mit der Vision vom neuen Jerusalem in Offb 21 aufweist, belegt letztlich ja nur die irreversible Dominanz der angesprochenen Heidenchristen. Es wäre vielleicht zu rigoros zu sagen: ‘Die Position der Jerusalemer Judenchristen hat in Kleinasien keinen Anwalt mehr.’Footnote 53 Man könnte sogar anfragen, wie Paulus selbst das Schwinden der judenchristlichen Anteile beurteilt hätte. Die Kräfteverhältnisse haben sich jedoch gut vier Jahrzehnte nach dem Weggang des Heidenapostels aus Ephesus eindeutig verschoben.
2. Auch hinsichtlich der Einstellung zum ‘Kosmos’ im Allgemeinen und zum römischen Staat im Speziellen liegen Welten zwischen dem Apostel Paulus und dem Propheten Johannes.
Die geforderte absolute Abstinenz von allen heidnischen Aktivitäten begründet Johannes im apokalyptischen Hauptteil, speziell in Offb 12-13, mit dem satanischen Wesen des römischen Imperiums. Zumindest insofern wäre er einer Meinung mit Paulus, als dass seiner Ansicht nach hinter den so genannten ‘Götzen’ in Wirklichkeit dämonische Kräfte stehen (1 Kor 10.20). In der Absicht, die Gemeindemitglieder über den verderblichen Hintergrund ihres nur vermeintlich harmlosen Handelns aufzuklären, entwirft der Seher zwei sich unvereinbar gegenüberstehende Städte- bzw. Frauenfiguren: die ‘Hure Babylon’ (Offb 17-18) und die schon im Sendschreiben an Philadelphia (Offb 3.12) antizipierte ‘Braut Jerusalem’ (Offb 21-2).
Die Schilderung der ‘Hure’ in ihrer luxuriösen Kleidung und ihrem kostbaren Schmuck lässt erkennen, dass Johannes sehr wohl um die immense Anziehungskraft und den Zauber Roms weiß. Und auch hier prangert der Seher ähnlich wie bei der Bezeichnung seiner Gegner als ‘Bileamiten’ (eingedenk der frühjüdisch-neutestamentlichen Konnotation von ‘Habgier’) vor allem die wirtschaftlich bedingten Konzessionen an die ‘Hure’ an. Nicht umsonst beweinen besonders die Kaufleute schließlich den Untergang der großen Stadt Babylon. Die Botschaft des Johannes fordert eindeutig zum ‘Hinausgang’ (ἐξέλθατε), zum ‘Exodus’ aus dieser Stadt auf: ‘Verlass die Stadt, mein Volk, damit du nicht mitschuldig wirst an ihren Sünden und von ihren Plagen mitgetroffen wirst.’ (Offb 18.4). Mit H.-J. Klauck lässt sich fragen, was sich denn den Adressaten realiter als Alternative anbot: ‘Der Untergrund? Das Ghetto? Die Landkommune?’Footnote 54
Johannes von Patmos würde antworten: das neue Jerusalem! Geschickt versteht er es, auch bei der Schilderung dieser zweiten Stadt die Interessen seiner Rezipienten zu bedienen: Es werden sich im ‘neuen Jerusalem’ nicht nur die derzeitigen Machtverhältnisse ins Gegenteil verkehren, sondern auch Luxus und paradiesischer Überfluss herrschen. So bleibt seine Darstellung ein Stückweit der Erde verbunden—und das gilt auch insofern, als das ‘neue Jerusalem’ nicht in ein unbestimmtes Jenseits verlagert wird, sondern als auf die Erde herabkommend gezeichnet wird (Offb 21.2 und 10). Letztendlich aber sind vor das Erscheinen der neuen Stadt der Untergang des ‘ersten Himmels und der ersten Erde’ gesetzt (Offb 21.1). Mit anderen Worten: Wie als die Gegenspieler der Christen universell immer wieder die ‘Bewohner der Erde’ (κατοικοῦντες ἐπὶ τη῀ς γη῀ς Offb 3.10; 6.10 und öfter) genannt werden, so sieht der Autor der Johannesoffenbarung die gesamte gegenwärtige Welt als so korrumpiert an, dass ein Neuanfang nicht mehr innerweltlich gedacht werden kann. Christliche Existenz ist in diesem Sinne nur noch denkbar in konsequenter Hinordnung auf eine transzendente, ganz andere Wirklichkeit, die den Bruch mit dem gesellschaftlichen Umfeld mit allen sich daraus ergebenden schmerzlichen Konsequenzen impliziert.
Blicken wir von hier aus zu Paulus, so lassen sich einerseits bemerkenswerte Berührungspunkte hinsichtlich der Motivik feststellen. Noch vor Johannes von Patmos verquickt Paulus das Stadtmotiv mit demjenigen antagonistischer Frauengestalten. In seiner Replik auf die judaisierenden Forderungen nach Einhaltung des Gesetzes kontrastiert er in Gal 4.25-6 die Magd Hagar, Sinnbild für das gegenwärtige, in Knechtschaft lebende Jerusalem, mit der ‘Freien’, unausgesprochen: mit Sara, die das ‘obere Jerusalem’ repräsentiert und dem Apostel als ‘Mutter’ der Christusgläubigen gilt. Solche Affinitäten lassen sich gewiss am ehesten als gemeinsame Teilhabe an den alttestamentlich-frühjüdischen Zionstraditionen deuten (vgl. vor allem Jes 61.10). Gleichzeitig bereiteten Entwürfe wie derjenige eines ‘oberen Jerusalem’ (ἡ ἄνω ̔Iɛρουσαλήμ, Gal 4.26) den Boden für eine weitere christliche Jerusalemrezeption im Sinne eines ‘himmlischen Jerusalem’ (vgl. auch Hebr 12.22), wie wir sie auch in der Johannesoffenbarung antreffen.
Der damit verbundenen Weltabkehr jedoch hätte Paulus nicht zugestimmt. Zwar ist auch ihm ein apokalyptischer Dualismus grundsätzlich nicht fremd (vgl. 1 Kor 15.24-8; 2 Kor 4.3-4)—doch schließt der Apostel keinesfalls automatisch das Staatswesen in die feindliche Gegenmächte mit ein. Zwar warnt auch der Apostel in Röm 12.2 davor, sich ‘diesem Äon anzugleichen’—doch denkt er dabei keinesfalls an einen Exodus aus der hiesigen Welt. Die Möglichkeit eines ἐκ τοῦ κόσμου ἐξελθεῖν wird von ihm in 1 Kor 5.9-10 explizit verworfen. Die Gemeinde von Korinth, so urteilt er in diesem konkreten Fall, solle zwar die ‘Unzüchtigen, Habgierigen, Räuber und Götzendiener’ nicht in ihrer Mitte dulden, dem generellen Kontakt allerdings mit solchen Menschen könne und solle sie sich nicht entziehen. Von einer solchen Balance, wie sie Paulus hier zwischen einem inklusiven, auf die innergemeindliche Identität bezogenen Ethos und einem exklusiven, auf die Teilhabe am öffentlichen Leben bezogenen Ethos übt, ist Johannes von Patmos weit entfernt.Footnote 55
Der Seher der Offenbarung kann im römischen Imperium nichts als einen irdischen Stellvertreter des Satans sehen (vgl. Offb 13) und stellt staatliche und göttliche Macht einander diametral entgegen. Ganz anders geht Paulus in Röm 13.1-7 selbstverständlich davon aus, dass den staatlichen Autoritäten die ihnen zukommende Ehre erwiesen werden soll, da diese ‘im Dienste Gottes’ handeln. Die in seiner Tradition stehenden Christen sind sich zwar weiterhin des spannungsgeladenen Charakters dieser Koexistenz bewusst, doch zielen sie systematischer noch auf eine Öffnung der Christengemeinde in Richtung pagane Gesellschaft. So ruft der ungefähr zeitgleich zur Johannesoffenbarung entstandene 1. Petrusbrief seine Adressaten dazu auf, sich auch als ‘Fremde’ in der Welt um des Herrn willen ‘jeder menschlichen Ordnung’—d.h. an erster Stelle: dem Kaiser—zu unterwerfen (1 Petr 2.13) und ‘unter den Heiden ein rechtschaffenes Leben zu führen’ (1 Petr 2.11).
Noch stärker macht sich die Tendenz zur Anpassung an die konventionellen gesellschaftlichen Normen in den deuteropaulinischen Schriften bemerkbar—teilweise im Widerspruch zu Paulus selbst (so die Haustafeln in Kol 3.18-4.1 par Eph 5.22-6.9), teilweise aber auch durchaus in fortführender Übereinstimmung. In der Haltung der Pastoralbriefe sieht J. Roloff sogar eine bewusste Polemik gegen die Position der Johannesoffenbarung.Footnote 56 Wünschenswert für das christliche Verhalten wird hier eine vertrauensvolle Unterordnung unter die Herrscher in Fürbitte (1 Tim 2.2) und Gehorsam (Tit 3.1) als Voraussetzung für ein friedliches und geordnetes Miteinander genannt. Der radikalen Aufforderung des Johannes zur Isolation von der Welt stehen Paulus und seine Nachfolger gleichermaßen fern.Footnote 57
3. Paulus von Tarsus—Johannes von Patmos: Zwei unterschiedliche Modelle gelebter Leidenschaft für den Herrn
Ohne dass man an einer Stelle auf eine direkte, unvermittelte und eindeutige Paulusrezeption des Sehers schließen könnte, steht Johannes von Patmos dem Apostel Paulus in manchen (namentlich ekklesiologischen und eschatologischen) Positionen sogar sehr viel näher als die ‘Paulinisten’ seiner Epoche, seien sie nun unter den kanonischen Briefschreibern oder den ‘Irrlehrern’ zu suchen.
Wenn sich der Apokalyptiker dennoch zu keinem Zeitpunkt auf die Autorität des Heidenapostels beruft—auch dort nicht, wo er auf seine Adressaten eingehend die ‘paulinische’ Briefform wählt—, so können mehrere Gründe vorliegen. Zum einen ist an die aufgezeigten tiefgreifenden Unterschiede in Theologie und Weltsicht zu denken. Zum anderen mögen ihm manche der bestehenden Affinitäten auch—als gemeinsame Teilhabe am alttestamentlich-frühjüdischen bzw. judenchristlichen Erbe—gar nicht bewusst gewesen sein. Vor allem aber trifft der vermutlich nach 70 n.Chr. in den kleinasiatischen Raum gekommene Verfasser bereits auf einen vermittelten Paulus. Die Erscheinungsformen des zeitgenössischen ‘Paulinismus’ können dem judenchristlichen Seher nicht behagt haben—und sie mögen letztlich dazu beigetragen haben, dass ihm auch die Gestalt des Heidenapostels selbst suspekt erschien.
Zu keinem Zeitpunkt ist er darum bereit, theologisch-inhaltliche Zugeständnisse zu machen. Er kämpft mit allen ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln und scheut die Konfrontation nicht—weder ‘nach außen’, wie die radikale Frontstellung gegen das römische Imperium belegt, noch ‘nach innen’; davon zeugen sein harter Umgang mit den ‘Gegnern’ und der heilsrelevante Entscheidungsdruck, unter die er die Adressaten setzt. Sein leidenschaftlicher Einsatz für die Christusbotschaft steht dem des Paulus in nichts nach. Doch während der große Heidenapostel auf das entschiedene christliche Zeugnis innerhalb der (noch) bestehenden Welt setzt, während die nachpaulinischen Gemeinden in viel stärkerem Maß als der Apostel selbst die Anpassung an die Gesellschaft suchen, kann sich der Prophet Johannes gelebtes christliches Zeugnis nur noch in radikaler Abgrenzung vorstellen.
Ob sich die Adressaten für die von Johannes vorgebrachte Sicht der Dinge erwärmen konnten, erscheint mehr als fraglich. Zwar deutet der lobende Ton im Sendschreiben an Ephesus zumindest auf einen Teilerfolg hin, das vorherrschende Denken im Kirchengebiet der Asia aber dürfte ein ganz anderes gewesen sein. Kreisen, die der römischen Umwelt gegenüber aufgeschlossener waren, musste die Theologie des Johannes von Patmos nicht nur extrem einseitig erscheinen, sondern wegen ihres aufrührerischen Impetus auch als eine regelrechte Gefährdung für die innergemeindliche Sicherheit und Stabilität.Footnote 58 Es ist gut denkbar, dass Johannes von Patmos—ganz anders als die wirkmächtige Gestalt des Völkerapostels Paulus von Tarsus'—ein ‘einsamer Eiferer ohne unmittelbare Nachwirkung’Footnote 59 blieb.