1. Zwischen Formgeschichte und Rhetorik
‘Verstanden werden kann dieses Kyrios-Bekenntnis <sc. Phil 2.6–11> nur von der frommen Einfalt stillster Andacht. Man lasse alle Kommentare beiseite und bitte einen anatolischen Christen, den Urtext dieses Bekenntnisses einmal leise vorzulesen, in dem psalmodierenden Rhythmus, in dem der christliche Osten die Perikopen der griechischen Bibel im Halbdunkel seiner Kirchen liest: ein Teil der Untertöne des alten Psalms wird dann wieder lebendig, wir werden frei vom Elend der Historie, und wir kommen in einen kultischen Kontakt mit den armen Heiligen Macedoniens, die die ersten Eigentümer des Schatzes waren.’
In geradezu beschwörendem Ton stellt uns Adolf Deissmann in seinem Paulusbuch das Gewicht urchristlicher Kulttexte vor Augen.Footnote 1 Die Bibelwissenschaften des 20. Jahrhunderts haben mit viel Elan hinter den biblischen Texten Überlieferungsstücke identifiziert, die sich als unmittelbarer Niederschlag kultischer Praxis verstehen und so einem bestimmten ‘Sitz im Leben’ zuweisen liessen. Das Interesse der Formgeschichte, die mit der Orientierung der Religionsgeschichtlichen Schule am urchristlichen Kult einherging, richtete sich auf die Bestimmung von Kriterien, die die Rekonstruktion älterer kleiner Formen gottesdienstlicher Herkunft ermöglichen sollten: gehobener Stil, strophische Gliederung, sprachlicher Rhythmus, Relativ- und Partizipialstil, aber auch Kontextüberschuss und theologisches Sondergut. Angeregt von der alttestamentlichen Wissenschaft, die den kultischen Hintergrund des Psalters und seiner Gattungen entdeckte, hat sich auch die neutestamentliche Exegese nicht davon abhalten lassen, ihren ungleich sperrigeren und widerständigeren Texten authentische Dokumente des gottesdienstlichen Lebens zu entlocken.Footnote 2 Bei allem Bewusstsein um den hypothetischen Charakter dieses Zugriffs fand man in der frühchristlichen Literatur eine stattliche Reihe von zumeist fragmentarischen Liedern und Hymnen, deren Auflistung schliesslich zum festen Bestand von Lehrbuch und Proseminar-Manual gehören sollte.Footnote 3 Bereits beim Philologen Josef Kroll nehmen sich die wenigen erhaltenen oder rekonstruierten Fragmente christlicher Hymnodik wie verstreute Inseln einer versunkenen gewaltigen urchristlichen Hymnendichtung aus, die von der Alten Kirche erfolgreich verdrängt worden ist.Footnote 4 Martin Hengel hat schliesslich das inspirierende Bild des Urchristentums als geistgetriebener Kultgemeinde, die eine neue messianische Psalmendichtung erschuf, plastisch vor Augen gestellt.Footnote 5
Die erheblichen methodischen Schwierigkeiten dieses klassischen formgeschichtlichen Unternehmens sind offenkundig.Footnote 6 Das Misstrauen gegenüber dem direkten Rückschluss von den Texten auf kultische und liturgische Handlungen hat sich etwa auch im Blick auf Gebetstexte oder auf die Abendmahlsüberlieferungen verstärkt.Footnote 7 Im Bereich der Hymnen weckt allein schon die enorme Divergenz der verschiedenen Rekonstruktionsvorschläge Unbehagen. Erschwerend kommt hinzu, dass man meist Interpolationen der älteren Stücke durch die neutestamentlichen Autoren behaupten muss, während man umgekehrt die Möglichkeit, dass Zeilen ausgelassen wurden, ausblendet. Das Argument von Spannungen auf der theologischen Ebene, die eine Unterscheidung von überkommener Überlieferung und vorfindlichem Text nahelegen, ist tendenziell der Gefahr von Überbelichtung ausgesetzt. Die Wahrnehmung mangelnder gedanklicher Kohärenz und Inkonsistenz entspringt oft eher dem Herantragen neuzeitlicher Kategorien an die antiken Texte, als dass sie deren Dekonstruktion erlauben könnte. Schliesslich ist auch das ausschlaggebende Argument, das auf der sprachlichen Ebene spielt, in Schieflage geraten. Die jüngere Wiederentdeckung der antik-rhetorischen Kategorien durch die Exegese rückt die Interpretation der zu erklärenden Phänomene in ein anderes Licht. Stilistische Beobachtungen sind als solche kein hinreichender Grund, diachrone Überlieferungsprozesse zu postulieren; möglicherweise lassen sie sich methodisch anspruchsloser lediglich als Indizien für einen Stilwechsel auf der Ebene des vorliegenden Texts deuten. Auch bei anderen Auffälligkeiten wie Sondervokabular und über den unmittelbaren Kontext hinausgreifenden Vorstellungselementen ist zu prüfen, ob man mit dem Verweis auf die Änderung des Stilmodus nicht auskommt.
Ohne das Recht der Rückfrage nach möglichen vorliterarischen Formen und nach kultischen Hintergründen grundsätzlich aufgeben zu müssen, ist man methodisch besser beraten, zunächst auf der Ebene der vorfindlichen Texte literarische Form und argumentative bzw. narrative Funktion zu bestimmen.Footnote 8 So kristallisiert sich eine spezifische Fragestellung heraus: Gibt ein Text Hinweise, die seine Beschreibung mit der Kategorie des ‘Hymnus’ nahelegen? Wir haben uns damit der Frage zu stellen, was wir mit ‘Hymnus’ bezeichnen wollen.
2. Was ist ein ‘Hymnus’?
Parallel zum wachsenden Misstrauen gegenüber einem Rückschluss auf festes liturgisches Überlieferungsgut hat sich die Verunsicherung in Bezug auf die Gattungsbestimmung verstärkt. Anstelle des ‘Hymnus’, bei dem die kultische Funktion im Vordergrund steht, bemüht man heute gern das ‘Enkomion’, also eine Klassifikation aus dem Bereich der rhetorischen Theorie.Footnote 9 Auf der anderen Seite bevorzugt man aus religionsgeschichtlichen Gründen gegenüber dem als zu griechisch empfundenen Hymnus den ‘Psalm’ als angemessene Kategorie.Footnote 10 Offenkundig ist es die unklare Bestimmung der Beschreibungssprache, die zur Aufrichtung von verwirrenden und möglicherweise falschen Alternativen führt—und damit zu wenig ergiebigen exegetischen Schattengefechten.
Im Folgenden formuliere ich einige Leitplanken für einen den Texten angemessenen Umgang mit der Kategorie des ‘Hymnus’. Eine Begriffsbestimmung des von Haus aus griechischen Terminus muss m.E. wenigstens drei Bedingungen erfüllen: (1.) Sie hat die grosse Bandbreite des antiken Sprechens von ὕμνος κτλ. zu berücksichtigen, die eine inter- und transkulturelle Polyvalenz dokumentiert. (2.) Sie hat sich an den spezifischen Eigentümlichkeiten des griechischen Hymnus zu orientieren. (3.) Sie hat sich zugleich abzustimmen auf den in Religionswissenschaft, Theologie und Altertumswissenschaften eingebürgerten Terminus, der sich seinerseits der markanten interkulturellen Anschlussfähigkeit des griechischen Begriffs verdankt. Während es sich beim ersten Eckpunkt um eine objektsprachliche Angelegenheit handelt, bewegen wir uns mit dem zweiten und dritten Punkt weitgehend auf einer beschreibungssprachlichen Ebene.
2.1. Antike Terminologie und Klassifizierungen
1. Die Semantik des griechischen Lexems ὕμνος κτλ. ist breit und überaus unscharf.Footnote 11 Immerhin verdichtet sie sich früh in der Bedeutung ‘Lied für einen Gott’, ‘Gesang, der Götter als Inhalt und Gegenüber hat’. Bereits Platon unterscheidet den Hymnus, der Götter adressiert, vom Enkomion, dem Preislied auf einen Menschen.Footnote 12 Die rhetorische Theorie bleibt an diesem Punkt über die Jahrhunderte hinweg eindeutig und stabil:Footnote 13 Epideiktisches Reden, also das Lob, wird im Hinblick auf das Objekt differenziert; gilt das Lob den Göttern, handelt es sich um einen Hymnus; die übrigen Arten des Lobs richten sich auf Sterbliches.Footnote 14 Allein schon diese kleine Beobachtung signalisiert, dass die in der Exegese beliebte Kontrastierung von Hymnus und Enkomion der antik-rhetorischen Sprachregelung zuwiderläuft. Diese steht freilich ihrerseits in Spannung zur dehnbaren Semantik von ὕμνος κτλ., die weit über göttliche Wesen hinausgreift. Ausserdem ist bei der genannten Differenzierung zu beachten, dass die Grenzen zwischen Göttern und Menschen flexibel sind; so gelten Hymnen nicht nur Göttern, sondern auch Heroen und deifizierten Menschen, zumal Herrschern.
Bevor wir zur rhetorischen Theorie zurückkehren, ist an die interkulturelle Anschlussfähigkeit des griechischen Wortfelds zu erinnern. Bekanntlich hat das griechischsprachige Judentum seine Psalmen auch als ‘Hymnen’ bezeichnet und damit in den Zusammenhang des griechisch-hellenistischen Lobs göttlicher Wesen gestellt.Footnote 15 Dies geschieht gelegentlich in der Septuaginta, häufig bei Josephus und exklusiv bei Philon.Footnote 16
2. Die Rhetoriktheorie bietet relativ wenig Material zum Hymnus, da er von Haus aus kein Redegenus darstellt. Die einzige substanzielle Abhandlung bietet Menander Rhetor, etwa um 300 n.Chr., im Rahmen seiner Darstellung der epideiktischen Rhetorik.Footnote 17
Diese gliedert sich in Lob und Tadel. Bezieht sich das Lob auf Götter, handelt es sich um Hymnen (331.15–20 Sp.). Es folgt eine Glosse, die die je nach Gottheit unterschiedenen Gattungen von Hymnen differenziert.Footnote 18 Interessanter ist Menanders Vollständigkeit beanspruchende Klassifizierung von acht Typen, der eine unsystematische Koordination von funktionalen und inhaltlichen Kriterien zugrunde liegt.Footnote 19
Wir halten für unsere Fragestellung drei Beobachtungen fest: (1.) Bei rund der Hälfte der Klassen besteht eine grosse Nähe zum Gebet. Dazu passt es, dass beim hymnos physikos, der den Typ des philosophischen Hymnus repräsentiert, das Fehlen des Bittgebets eigens festgehalten wird (337.25–6). (2.) Der philosophische Hymnus, der auf dem höchsten Stilniveau spielt, nimmt eine prominente Position ein (336.24–337.32). (3.) Das Vorhandensein zahlreicher Mischformen wird konstatiert (343.27–344.4).
2.2. Griechische Hymnen
Im Bereich griechischer Hymnen ist ein weites Feld in den Blick zu nehmen, in formaler, inhaltlicher wie zeitlicher Hinsicht. Ich orientiere mich für meinen Überblick an vier Wegmarken: Sprachgestalt, Struktur, Funktion und Reflexion. Das Augenmerk gilt spezifischen Eigenarten des griechischen Hymnus; Generelles stellen wir vorderhand zurück.
1. Für griechisches Empfinden ist der Hymnus recht zäh an das Metrum gebunden, stellt also Dichtung dar. Dies geht so weit, dass Josephus der hebräischen Poesie, ihren ‘Oden an Gott und Hymnen’, klassische Metren zuschreibt. Philon seinerseits setzt deren Kenntnis auch bei Mose und vor allem bei den Therapeuten voraus.Footnote 20 Hymnen orientalischer Herkunft kleiden sich wie im Fall der Isis gelegentlich in antike Verse;Footnote 21 auch Zauberhymnen mühen sich um metrische Gestaltung.Footnote 22 Demgegenüber sind für unsere Fragestellung nach ‘neutestamentlichen Hymnen’ Prosahymnen von grossem Interesse. Sie stehen in starker Wechselwirkung mit der Fortentwicklung der epideiktischen Redekunst, zumal des Enkomions; ihr Markenzeichen ist ein feierlicher, dem Thema angemessener Stil.Footnote 23 Freilich handelt es sich um ein Genre, das sich sichtbar erst im Kontext der zweiten Sophistik, also ab dem späten 1. Jh. n.Chr., entwickelt.Footnote 24
Platons Lobreden auf den Eros zeigen, wie das Enkomion bereits im 4. Jh. v.Chr. auch göttliche Wesen zu seinem Gegenstand macht, hier allerdings ohne direkten Anschluss an die hymnische Tradition.Footnote 25 Zwischen Platon und Aristeides' Reden auf Götter um die Mitte des 2. Jh. n.Chr. lassen sich nur verstreute Spuren von Prosahymnen nachweisen,Footnote 26 v.a. eingebunden in andere literarische Gattungen.Footnote 27 Immerhin bezeugt Quintilian, dass die rhetorische Theorie nunmehr auch das Lob der Götter einbezieht.Footnote 28 Seit dem 1. Jh. v.Chr. finden im Rahmen festlicher Anlässe musische Agone statt, in denen nicht nur metrische, sondern auch prosaische Hymen vorgetragen werden.Footnote 29 Im Rahmen des Götter- und Kaiserkults agierten nach Ausweis einiger kleinasiatischer Inschriften theologoi, denen im Unterschied zu den hymnodoi die Rezitation von Prosahymnen oblag.Footnote 30 Neben der Agonistik wurden Festreden auch vor Rats- und Volksversammlungen und bei öffentlichen Banketten vorgetragen. Gleichwohl thematisiert der Rhetor Aristeides, dem wir immerhin zehn solcher Hymnen verdanken, seine metabasis eis allo genos ausdrücklich als Neuerung.Footnote 31 Noch im 4. Jh. hält es Libanios für bemerkenswert, dass ein Redner einen ‘Hymnus ohne Metrum’, in seinem Fall auf Artemis, verfasst.Footnote 32 Es ist kein Zufall, dass der einzige erhaltene Prosahymnus aus hellenistischer Zeit, der die Einwirkung epideiktischer Rhetorik erkennen lässt, eine Isis-Aretalogie, also ein Importprodukt, darstellt.Footnote 33
Gerade die spärlichen Überlieferungen legen den Schluss nahe, dass der Prosahymnus bis in die Kaiserzeit ganz im Schatten des metrischen Hymnus steht. Er stellt keineswegs ein etabliertes Genre dar, das der urchristlichen Hymnodik den Weg bereitet hätte.Footnote 34 Erst mit der Literatur des 2. Jh. n.Chr. erschliesst sich der Prosahymnus dasjenige Terrain, das bislang dem metrischen Hymnus vorbehalten war; so findet er sich etwa bei Epiktet, bei Apuleius und später bei Julian.Footnote 35
Die Breitenwirkung der Konjunktur epideiktischer Rede seit dem 2. Jh. zeigt sich daran, dass Menander den Prosahymnus gleichberechtigt neben den gedichteten stellt und ihn sogar privilegiert. Der Rhetoriklehrer unterstreicht, dass für Prosa strengere Stilregeln gelten als für Poesie.Footnote 36 Dem modernen Leser fällt dabei auf, dass es sich bei nicht wenigen Beispielen, die aus nichtpoetischen Klassikern stammen (vorzüglich aus Platon, sodann aus Thukydides und Isokrates), überhaupt nicht um Textpassagen handelt, die wir heute als ‘hymnisch’ oder gar als Hymnus charakterisieren würden—wieder ein Indiz für die zuvor festgestellte breite Semantik von ὕμνος.
Eine didaktische Hilfe für die Wahrnehmung von Kunstprosa bildet die kolometrische Darstellung (κατὰ κῶλα καὶ κόμματα). Im Layout griechischer Textausgaben sollte sie allerdings m.E. äusserst sparsam eingesetzt werden.Footnote 37
Innerhalb des breiten Spektrums epideiktischer Rede lässt sich der Prosahymnus formal nur schwer vom Enkomion (bzw. anderen Typen des Enkomions) abgrenzen, sieht man von der genannten inhaltlichen Differenzierung im Blick auf das Objekt bzw. den Adressaten ab. Als Signale spezifisch hymnischer Sprache, die auf die Kulttradition sowie auf bestimmte Platonpartien zurückgehen, fungieren kurze Kola, einfache nicht-periodische Strukturen, Asyndeton, Polysyndeton, Anapher und erhabenes Vokabular, zusammen mit Partizipial- und Relativstil.Footnote 38
2. Der griechische Hymnus hat, obschon dies der antik-rhetorischen Beschreibung entgangen ist, einen dreiteiligen Aufbau: Anrufung, Preis und Bitte.Footnote 39 Die Klimax kann im dritten Teil liegen; Anruf und Preis etablieren die für das menschliche Anliegen notwendige Kommunikationsbasis. Das Hauptgewicht kann sich aber auf den Mittelteil verschieben. So ist der dritte Teil optional—er kann fehlen oder er nimmt ganz die Gestalt des Danks an.Footnote 40 Hymnen kommunizieren mit der Gottheit sowohl in der zweiten Person (Du-Stil) wie in der dritten Person (Er-Stil);Footnote 41 lediglich im dritten Teil dominiert die zweite Person. Die Sprechrichtung zum Göttlichen hin gilt auch bei der dritten Person. Der Hymnus organisiert seinen Bauplan unter Rückgriff auf ein reiches Set von Bausteinen. Partizipial- und Relativsätze, typische Merkmale hymnischer Sprache, finden sich im mittleren, prädikativen bzw. argumentativen Teil; er stellt Mythos und Wesen der Gottheit heraus.
3. Von Haus aus haben Hymnen einen kultischen Sitz im Leben. Sieht man aber von einigen Inschriften ab, sind sie uns grösstenteils in literarischer Gestalt überliefert. Hier muss dann nochmals zwischen Hymnen, die mehr oder weniger unmittelbar auf kultische Vollzüge zurückweisen, und literarischen Hymnen, die sich davon ganz emanzipiert haben, unterschieden werden; dabei gibt es zahlreiche Wechselwirkungen. Wie kultisch ist ein hymnisches Gedicht, das an einem Symposion zusammen mit einer Libation rezitiert wird? Wie nah steht der Prooimion-Hymnus an einem rhapsodischen Wettbewerb oder das Chorlied in einer Tragödie dem städtischen, mit Opferhandlungen verbundenen Götterkult? Bereits im Bereich antiker Hymnologie stellen sich dem in der Exegese beliebten Kurzschluss von der literarischen direkt auf die kultische Ebene Schwierigkeiten entgegen.
Holzschnittartig gesprochen lassen sich Hymnen funktional differenzieren—sie nehmen kultische, didaktische oder/und ästhetische Funktionen wahr. Im Blick auf literarische Hymnen ist ihre Platzierung und Funktion in grösseren literarischen Gattungen wie Drama, Roman oder Traktat zu beachten.Footnote 42 Deshalb gilt es, die beiden Kommunikationsebenen des Hymnus sorgfältig zu unterscheiden: Einerseits adressiert er die Gottheit, andrerseits interagieren Sänger und Gemeinde bzw. Autor und Leserschaft.
4. Schliesslich ist auf die Attraktivität des Hymnus für die philosophische und theologische Reflexion hinzuweisen, die sich von Kleanthes, vielleicht schon von Empedokles, bis Proklos durchhält.Footnote 43 Das Nachdenken über Gott erreicht geradezu seine höchste Stufe, wenn es sich über die diskursive Reflexion zum hymnischen Lob aufschwingt.Footnote 44 Der philosophische Hymnus verdankt sich einerseits der allegorischen Hermeneutik, andrerseits der Personifikation von Abstracta, etwa der Tugend, der Gesundheit oder der Philosophie. Gerade in letzterem Fall sind Enkomion und Prosahymnus fast nicht mehr unterscheidbar.
2.3. Hymnen als religionswissenschaftlicher Gegenstand
1. Hymnen eignen sich für den Kulturvergleich.Footnote 45 Neben charakteristischen Unterschieden zwischen griechischen und orientalischen Hymnen, die Eduard Norden bahnbrechend herausgearbeitet hat,Footnote 46 gibt es ein breites Inventar an Formelementen, die sich im mediterranen Raum und weit darüber hinaus kulturübergreifend erheben lassen. Das Feld reicht von Strukturen—wie der Abfolge von Anrufung und Preis—bis zu den Merkmalen hyperbolischer Sprache im Partizipial- und Relativstil.
Für unseren Bereich drängt sich die alttestamentliche Gebetsdichtung auf, an die Hermann Gunkel die Kategorie des Hymnus herangetragen hat.Footnote 47 Mittlerweile hat man Abstand genommen von reinen Urformen oder von festen Gattungsmerkmalen zugunsten der Beschreibung der Einzeltexte, die lediglich durch ein Feld zumeist optionaler Elemente wie Lobaufforderung, Begründungspartikel, Partizipialstil und Sprechrichtung zu Gott in zweiter oder dritter (!) Person verbunden sind.Footnote 48 Markenzeichen der Hymnen ist ausserdem ihre ‘gleichsam magnetische Kraft, theologische Reflexion anzuziehen’;Footnote 49 dies verbindet sie nicht nur mit der griechischen, sondern etwa auch mit der ägyptischen Hymnik. Die Öffnung des formgeschichtlichen Rasters kommt uns im Bereich des frühen Judentums und Christentums insofern entgegen, als sie es erlaubt, ein breites Spektrum von Texten einzubeziehen, freilich mit der Gefahr, in der überwältigenden Erscheinungsfülle Unterscheidungskriterien ganz zu verlieren. Die frühjüdische Literatur enthält eine reiche Zahl von Psalmen, Hymnen und Gebeten, die sich angemessen mit den in der alttestamentlichen Formgeschichte erhobenen Kategorien beschreiben lassen.Footnote 50 Aus griechischer Perspektive handelt es sich bei ihnen so gut wie bei den Liedern des Psalters um Prosahymnen aus dem Schatz barbarischer Frömmigkeit und Weisheit. Ihnen lassen sich die bereits genannten Isisaretalogien zur Seite stellen.Footnote 51
2. Es steht ausser Zweifel, dass das Urchristentum in hohem Ausmass an der Tradition frühjüdischer Gebets- und Hymnendichtung partizipiert, wie überhaupt am reichen Arsenal an Gottesprädikationen, den Bausteinen dieser Redeformen.Footnote 52 Zugleich rezipiert es nicht weniger als das zeitgenössische Judentum die lobpreisenden Sprachformen seiner hellenistischen Umwelt. Man ist gut beraten, gerade in diesem Bereich grundsätzlich von erheblichen kulturellen Austauschprozessen auszugehen und an den Einzeltexten zu eruieren, welche konkrete Gestalt die formalen und inhaltlichen Elemente hymnischer Sprache annehmen. Spezielle Aufmerksamkeit verdient bei ihrer Formbestimmung die Wahl der Beschreibungssprache. In griechischer Sprache formulierte bzw. übersetzte Psalmen und Lieder alttestamentlich-jüdischen (wie überhaupt orientalischen) Typs sind aufgrund ihres fehlenden quantitierenden Metrums als—gehobene—Prosa anzusprechen, für deren Beschreibung die antike Rhetorik geeignete Instrumente bereitstellt. Umgekehrt spiegelt ihre Sprachgestalt mehr oder weniger stark Struktur und Stil semitischer Poesie, folgt also den Regeln für Vers, Rhythmus und Klang, die die Alttestamentler und Orientalisten mit viel Mühe erheben.Footnote 53 Anstatt die Beschreibungssprachen programmatisch gegeneinander auszuspielen, versucht man besser, sie ergebnisorientiert an den Einzeltexten zu testen und zu ermitteln, ob sie komplementär oder alternativ funktionieren.
3. Wir kehren zurück zur Religionswissenschaft. Ein Punkt bedarf besonderer Klärung, nämlich das Verhältnis des Hymnus zum Gebet.Footnote 54 Von Haus aus gehören beide eng zusammen (das ebenfalls komplexe Verhältnis zur Magie klammern wir aus). Die Abgrenzung ist delikat, da auch das Gebet ähnlich strukturiert sein kann und mit preisenden Elementen arbeitet.Footnote 55 Beiden eignet die Sprechrichtung zum göttlichen Wesen. Zwei Kennzeichen erlauben eine Unterscheidung, nämlich Sprachtyp und Kommunikationstyp. Der Hymnus arbeitet erstens mit einer kunstvollen Diktion—stilistisch, poetisch und metrisch geformt—und ist deshalb auch Gegenstand rhetorischer Analyse geworden. Die Sprache des Gebets ist oft viel schlichter. Zweitens hat der Hymnus in kommunikativer Hinsicht sein Gravitationszentrum im Gotteslob, in der Anbetung.Footnote 56 Er bedarf so nicht notwendig einer Gebetsbitte. Die Interaktion mit der Gottheit unterscheidet sich charakteristisch vom Gebet; der Hymnus ehrt die Gottheit mit gehobener, feierlicher Sprache (τιμή). Er stellt selber eine Gabe an die Gottheit dar und kann deshalb auch auf ein Opfer verzichten, das im paganen Raum üblicherweise mit dem Gebet verbunden ist. Die idealtypische Differenzierung von Hymnus und Gebet wird freilich durchkreuzt von ihrer intensiven Wechselwirkung.
4. Die grosse Nähe des Hymnus zum Gebet trotz seines spezifischen Profils bildet einen fundamentalen Eckwert auf unserem langen Weg zu einer Eingrenzung des Phänomens. Der Hymnus hat, kultisch oder literarisch, die Funktion, die Gottheit zu vergegenwärtigen—in griechischen Hymnen gern mit dem Ruf nach ihrem epiphanialen Kommen verbunden. Die Leistung hymnischer Sprache besteht in der Repräsentation der Gottheit. Insofern zählt die Epiklese, die Invokation,Footnote 57 zu den unverzichtbaren Elementen eines Hymnus, bestehe sie auch nur in der schlichten Nennung des Götternamens. Ein Hymnus hat also eine mindestens virtuelle kletische Dimension. Das Moment der Repräsentation bezieht sich sowohl auf seine kultische, seine didaktische wie seine ästhetische Funktion. Das heisst: Auch ein literarischer Hymnus zielt darauf, in seinen Lesern bzw. Hörern eine bestimmte, dem Gegenstand angemessene Einstellung zu erzeugen. Er versetzt sie aus ihrer normalen Welt heraus in einen Raum, der durch die Gegenwart des angerufenen Wesens bestimmt ist. Dies gilt von Sapphos Hymnus auf Aphrodite, die Macht der Liebesgöttin, nicht weniger also von Kleanthes' Lob des Zeus, die alles zum Graden richtende kosmische Intelligenz, oder von Ciceros Anrufung der Philosophie, der weisen Führerin zum Leben.Footnote 58 Natürlich schert an diesem Punkt eine besondere Gattung aus, der parodische Hymnus.
5. So legt sich folgende Sprachregelung nahe: Ein Hymnus besteht in lobendem bzw. preisendem Sprechen oder Singen von und zu göttlichen Wesen (Sprechrichtung). Seine Sprechhandlung zielt auf die Repräsentation der Gottheit. Unsere relativ enge Anbindung des Hymnus an das Gebet nimmt mit Absicht eine bedeutsame Weichenstellung vor, die die zu erwartenden Resultate ein gutes Stück weit kanalisiert.
3. Ein neutestamentlicher Rundgang
Anders als das Alte Testament oder als griechische Sammlungen enthält das Neue Testament keine Dichtungen oder Reden, bei denen es sich als ganze um ‘Hymnen’ oder ‘Gebete’ handelt. Wir haben es vielmehr mit anderen literarischen Gattungen zu tun, die allenfalls Hymnen enthalten. Eine grundlegende methodische Entscheidung besteht darin, primär auf der Ebene der vorfindlichen Texte danach zu fragen, ob ein Hymnus vorliegt oder nicht. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob unsere Texte allenfalls Gebrauch von Hymnen machen, die sich in ihrer schriftlichen oder geprägten mündlichen Gestalt rekonstruieren lassen. Und noch einmal ist davon die Frage abzusetzen, ob diese postulierten Hymnen ursprünglich eine kultische Funktion hatten.
Bewegen wir uns auf der Ebene der vorfindlichen Texte und arbeiten mit der oben vorgeschlagenen Sprachregelung, dann können wir nur dort einen Hymnus erwarten, wo der Makrotext selber Signale bietet, die seiner kletischen Dimension Raum geben.Footnote 59 Der Leser wird ein Stück weit aus dem Erzähl- oder Argumentationszusammenhang hinausversetzt und in die Bewegung des Hymnus, die auf die Repräsentation des göttlichen Wesens zielt, hineingenommen. Es bedarf dafür nicht notwendig einer Epiklese, auch ein Ausruf, eine Zitationsformel oder eine anderweitige Zäsur auf der Textoberfläche, die den Übergang zum Hymnus indiziert, ist ausreichend.
Aus ökonomischen Gründen stellt die folgende Durchmusterung repräsentative Texte zusammen, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen. Dabei stellen sich Fragen der Abgrenzung zu anderen liturgisch geprägten Formen, etwa zu Eulogie oder Doxologie, die aber im Unterschied zu den Hymnen eine v.a. biblisch-jüdische Sonderbildung darstellen.Footnote 60 Besonders schwierig ist die Differenzierung gegenüber Homologie und Bekenntnisformeln, da wir mit vielfachen Wechselwirkungen zu rechnen haben.Footnote 61 Ich orientiere mich in schlichter bibelkundlicher Weise an der kanonischen Folge der Schriften und erlaube mir lediglich aus didaktischen Gründen, den Johannesprolog für den Schluss der tour d'horizon aufzusparen.
1. Das Lukasevangelium bietet uns mit seinen zwei Liedern, die in den Schatz christlicher Hymnodik eingegangen sind, mit dem Magnificat (Lk 1.46–55) und dem Benedictus (1.68–79), ‘Psalmen’, die ganz in alttestamentlicher Tradition stehen. Sie lassen sich unschwer als Hymnen, verbunden mit Elementen des Danklieds des Einzelnen, identifizieren;Footnote 62 beide bieten die von uns gewünschte Textabgrenzung durch den Übergang in direkte Rede (V. 46a, 67b). Beim Magnificat, einem hochorganisierten Patchwork biblischer Sprache, führt das zweifache begründende ὅτι (V. 48a, 49a) von der Einleitung zum Hauptteil, der das Heilshandeln Gottes in dritter Person mit Prädikationen und mehrfachem Parallelismus membrorum preist. Der Hymnus, in dem Gott fast durchwegs als Subjekt agiert, respondiert auf die Engelankündigung von der Geburt des Messias, ist also kontextuell sinnvoll platziert. Auch das mit einer Eulogie eingeleitete Benedictus arrangiert biblische Phrasen, allerdings in komplexerem Satzbau; Gottesprädikationen dominieren nur den ersten Teil (V. 68–75). In seinem Kontext verschränkt es Johannesgeburt und Jesusgeburt. Beide Hymnen stehen genau an dem Ort, wo Israels Verheissungsgeschichte in seine Erfüllungsgeschichte übergeht. Für beide reklamiert eine überwältigende Mehrheit der Exegeten vorlukanische Herkunft, im Fall des Benedictus gern unter Ausschluss redaktioneller Verse oder Versteile. Wie erfolgreich wäre ein erneuter Versuch, die beiden Hymnen als Dichtungen des Auctor ad Theophilum zu beschreiben? Man müsste zeigen können, dass sich das Sondervokabular der Psalmen-Mimesis des mit der Septuaginta so vertrauten Lukas verdankt.
Umgekehrt zeigt gerade ein Gebet wie Apg 4.24–30, wie sehr Lk auch mit älterem Material arbeitet. Es handelt sich zwar nicht im Ganzen um einen Hymnus,Footnote 63 da sich das Lob nach der Anrufung lediglich auf V. 24–25a erstreckt. Es macht einem Psalmzitat mit Auslegung Platz, um dann erst in V. 28 wieder kurz aufgenommen zu werden. Anrufung (V. 29) und Bitten (V. 30) bilden den Schlussteil.
2. In Röm 11.33–36 findet sich ein Lobpreis, der nicht nur Paulus' Ausführung über Gottes Gerechtigkeit und Israel beschliesst (Kap. 9–11), sondern überhaupt den ersten Teil des Briefs. Wir haben einen Gotteshymnus vor uns, bei dem die Anrufung bruchlos in den Preis übergeht und in einer Doxologie gipfelt.Footnote 64 Die Dreizahl strukturiert das Ganze in mehrfacher Hinsicht. Bemerkenswert ist die Mischung von hellenistischen und biblisch-jüdischen Elementen; am meisten sticht das erstere bei der Präpositionenreihe in V. 36a sowie bei der Interjektion hervor, das zweite bei der Doxologie (V. 36b), den Schriftzitaten (V. 34–35) und den Parallelismen membrorum (V. 33b, 34–35). Es spricht viel dafür, dass Paulus das Gotteslob eigens für den Abschluss des Briefteils verfasst hat; die Bezüge zumal zu Kap. 9–11 und hier insbesondere zu 11.25–32 sind überaus dicht. Es gibt kaum überzeugende Gründe, einen vorgegebenen hellenistisch-jüdischen Hymnus, den Paulus mit den Schriftzitaten anreichert, zu postulieren.Footnote 65 Auffällig ist die strikt durchgehaltene theozentrische Perspektive ohne jede Referenz auf Jesus Christus, gerade auch im Vergleich der Präpositionenreihe von V. 36 mit 1 Kor 8.6. Sie ist nicht nur dem Gespräch mit Israel, das Paulus in Röm 9–11 führt, geschuldet (vgl. 9.5), sondern markiert auch eine fundamentale Achse in der Architektur seiner Theologie.Footnote 66
3. Bei Phil 2.6–11 haben wir einen prominenten Repräsentanten der hypothetischen urchristlichen Hymnen vor uns, in den Worten seines Entdeckers, Ernst Lohmeyer: ‘ein Stück urchristlicher Psalmdichtung’.Footnote 67 Je nach Wahl der Beschreibungssprache lassen sich vielfältige Kunstmittel benennen, die die Passage aus ihrem Kontext, der seinerseits auch schon artifizielle Formgebung aufweist (2.1–4), herausheben. Es stechen hervor der antithetische und synonyme Parallelismus membrorum, chiastische Strukturen, progressives Enjambement und Anadiplosis. Sie signalisieren den erheblichen Einfluss alttestamentlich-jüdischer Psalmensprache. Wendet man sich der Gesamtstruktur zu, gibt es für die Anordnung der einzelnen Kola zwar viel Spielraum, die Zweiteilung der Passage sticht aber markant heraus. Syntaktisch handelt es sich um zwei relativ komplex gebaute Perioden. Statt von einem Gedicht mit ‘Strophen’ spricht man besser von kunstvoller Prosa.Footnote 68
Handelt es sich um einen Hymnus? Legen wir unsere Sprachregelung zugrunde, so haben wir zwar eine in feierlicher Sprache gehaltene Erzählung vom Handeln und Ergehen eines göttlichen Wesens vor uns—gleichsam einen Mythos—, es fehlt aber der kletische Aspekt. V. 6–8 bilden einen Relativsatz, der seinerseits abhängig ist von einem elliptischen Relativsatz (V. 5b). Es gibt kein Textgliederungssignal, das zu der für den Hymnus typischen Sprechrichtung zum göttlichen Wesen hin überleitet. Anders stellt sich die Sachlage dar, wenn man hinter dem vorfindlichen Textzusammenhang einen Hymnus postuliert, auf dessen invokativen Anfang der Briefautor verzichtet hätte (um allenfalls noch Interpolationen hinzuzufügen). In diesem Fall bieten sich noch einmal Alternativen an: paulinisch oder vorpaulinisch, didaktisch oder/und kultisch. Die m.E. sparsamste Hypothese geht davon aus, dass Paulus, ein hervorragender Stilist, den Text selber verfasst hat, wenn auch nicht unbedingt eigens für sein Schreiben an die Philipper. Sprachliche Argumente für vorpaulinische Herkunft unterschätzen die Modulationskapazität epideiktischer Sprache, inhaltliche Argumente unterschätzen die Kontextverbundenheit des Stücks, auch seines zweiten Teils.
Handelt es sich nicht um einen Hymnus, um was dann? Konjunktur hat unter Berufung auf die Rhetorik das Enkomion.Footnote 69 Der Nachteil dieser Beschreibung besteht darin, dass die Bezüge zum Hymnus in der gesamten Bandbreite seiner Phänomene auf einen Schlag gekappt werden. Mit der Bezeichnung Enkomion platziert man Phil 2 in einem Genre hellenistischer Rhetorik, das zwar in Wechselwirkung mit dem Hymnus steht, aber seinen Schwerpunkt an einem anderen Ort ausgebildet hat.Footnote 70 Mehr noch: Legt man konsequent die Beschreibungssprache der rhetorischen Theoretiker zugrunde, handelt es sich bei einem Enkomion auf ein göttliches Wesen, das von seiner Haltung, seinen Taten und seinem Geschick (samt seiner Interaktion mit einem anderen göttlichen Wesen) berichtet, just um einen Hymnus! Das Fehlen der Epiklese oder der Bitte spielt hier keine Rolle, da die antike Beschreibung des Hymnus seine strukturelle Dreiteilung nicht kennt.Footnote 71 Klassifiziert man also Phil 2 dezidiert als Enkomion im Kontrast zum Hymnus, kombiniert man zwei verschiedene Beschreibungssprachen—eine antike und eine moderne—, ohne dies eigens auszuweisen.
Ich schlage eine Formbestimmung in einer Beschreibungssprache vor, die die Bezüge sowohl zur rhetorischen Typologie wie zur alttestamentlichen Metasprache offen hält: ein hymnisches Christuslob. Unser Text bietet alles, was man von einem Hymnus erwarten darf, unter Einschluss äusserst verdichteter theologischer Reflexion—ausser dem einen: die direkte Sprechrichtung zu Jesus Christus. In seinem Kontext stellt er eine Digression dar, die den Philippern ein verheissungsvolles exemplum christlicher Selbsterniedrigung präsentiert. Das Christuslob hat im Briefganzen, wenn man von einem einheitlichen Dokument ausgeht, eine zentrale Position; es rückt die Lebensform, die im Raum des Christus massgeblich ist (2.5), plastisch vor Augen. Weil die einzig legitime Herrschaft im Himmel und auf Erden dem Christus gebührt, ruft es dazu auf, dieser Herrschaft auch im solidarischen Gemeinschaftsleben zu entsprechen.Footnote 72
4. Mit Kol 1.15–20 haben wir einen weiteren Text vor uns, der alle Kriterien hymnischer Rede erfüllt, wiederum abgesehen von der kletischen Dimension. Sein ‘Entdecker’ ist, von einigen Vorgängern abgesehen, nicht zufällig Eduard Norden, der Vater der neueren Hymnologie.Footnote 73 Die Struktur der Passage ist deutlich zweigeteilt, die Korrespondenzen zwischen beiden Partien sind überaus dicht. Wiederum handelt es sich um einen Prosatext mit zahlreichen Kennzeichen hymnischer Sprache—rückverweisende Pronomina, Partizipialstil, polysyndetisches καί, kurze Kola, universale Prädikationen u.a. Syntaktisch ist das Ganze Teil eines monströs langen Satzes, dessen Anfang man letztlich in V. 9 zu suchen hat. Die Textstrukturierung im Einzelnen führt zu keinen konsensfähigen Ergebnissen—verkompliziert durch Interpolationshypothesen—; deutlich ist nur, dass die beiden Partien abgesehen von ihrem jeweiligen Anfang überhaupt nicht symmetrisch gebaut sind.Footnote 74 Die Nötigung, ein älteres Überlieferungsstück zu postulieren, hält sich m.E. wieder in Grenzen, ganz abgesehen davon, dass dessen Rekonstruktion methodisch fast nicht mehr kontrollierbar ist. Hinsichtlich der inhaltlichen Spannungen zwischen dem hymnischen Teil und der Argumentation im Briefkontext, v.a. in 2.9–15, dürfte sich eine hermeneutische anstelle einer literarkritischen Erklärung als methodisch weniger aufwendig erweisen.Footnote 75 Das Sondervokabular wiederum lässt sich auch mit der Wahl des Stilniveaus erklären, also rhetorisch statt überlieferungsgeschichtlich.
Für die Klassifizierung bietet sich wie bei Phil 2 das ‘hymnische Christuslob’ an. Gegenüber dem ‘Enkomion’Footnote 76 bietet diese Nomenklatur erneut den Vorzug, dass sie einerseits die hymnische Sprachgestalt und die traditionell mit dem Hymnus verbundene Thematik festhält—insbesondere die ausserordentliche Nähe zum philosophischen HymnusFootnote 77—, andrerseits den Anschluss an die alttestamentlich-jüdische Dichtung, zumal an das Weisheitslob, sicherstellt. Das Christuslob hat in der Argumentation eine entscheidende Funktion: Gegenüber der Attraktivität der kosmischen Mächte, auf die sich offenbar die kolossische ‘Philosophie’ berufen hat, stellt es die alles durchdringende Wirklichkeit und Herrschaft Christi, des Schöpfungsmittlers, heraus.
5. 1 Tim 3.16 gilt mit Blick auf Struktur und Gleichklang der Zeilen als besonders klares Exempel hymnischer Dichtung,Footnote 78 obschon auf der Ebene des vorfindlichen Textbestands kein entsprechendes kletisches Signal erkennbar ist. Tatsächlich legt sich in diesem Fall die Hypothese der Übernahme eines vorgegebenen Stücks durch den Briefverfasser nahe—darauf weist v.a. der schwierige relativische Anschluss. Das Stichwort ὁμολογουμένως deutet freilich eher auf eine kunstvoll gestaltete Bekenntnisformel als auf einen Hymnus, so sehr die beiden Gattungen Lobpreis und Homologie in Wechselwirkung stehen (vgl. 1 Kor 8.6). Fast undenkbar für einen Hymnus ist die durchgehende Passivform der Verben, weil dieser geradezu davon lebt, seinen Gegenstand und Adressaten als Subjekt zu würdigen. Wiederum markiert die christologische Partie eine zentrale Position im Briefganzen, wird doch die Kirche als Haus Gottes, das sich am abwesenden Paulus zu orientieren hat, christologisch im ‘Geheimnis der Frömmigkeit’ verankert (V. 14–16a).
6. Der Verfasser der Apokalypse hat gegen zwanzig in liturgischer Sprache gestaltete Passagen verfasst, die in ihrem jeweiligen Kontext die irdischen Ereignisse aus himmlischer Perspektive deuten. Obschon sie alle mit hymnischen Formelementen arbeiten, sind nur 19.5, 6–8 und 15.3–4, ein Patchwork der Psalmensprache, als Gotteshymnen alttestamentlichen Typs anzusprechen,Footnote 79 während die übrigen mit anderen Formen wie Akklamation und Doxologie in Wechselwirkung stehen. Wir notieren am Rand, dass Christus als Empfänger zweier ‘Würdig’-Akklamationen (5.9–10, 12) und, zusammen mit Gott, zweier Doxologien (5.13; 7.10) fungiert. Der Hymnus von Kap. 19 stellt den Höhepunkt der himmlischen Gesänge dar, weil er unmittelbar die Wiederkunft Christi präludiert: Das hymnisch provozierte Kommen des Herrn überwindet die sphärische Dualität von Himmel und Erde, auf der das szenische Arrangement von Kap. 4–19 beruht.
7. Den Johannesprolog (Joh 1.1–18) können wir an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise würdigen. Angesichts der Unsicherheit, ob es sich bei Texten dieser Art um Kunstprosa oder um Dichtung handelt, stellt sich erneut die Frage nach der angemessenen Beschreibungssprache. Joh 1 zeichnet sich jedenfalls durch eine schlichte, aber vom Erhabenen (ὕψος) bestimmte Diktion aus, an bestimmten Stellen unterbrochen durch Sätze mit gewöhnlicherem Erzählstil, die auf das narrativ angelegte Evangelium vorausweisen (V. 6–8, 15). Die Stellung am Anfang des Evangeliums weist die Passage als Proömium aus,Footnote 80 das von Haus aus eigentlich einen eröffnenden Hymnus bildet. Zahlreiche Dichtungen setzen mit einem Hymnus ein; bei Prosawerken gibt es m.W. zwar keine eröffnenden Hymnen, wohl aber Epiklesen, die Gott um Beistand anrufen. Am nächsten steht Joh 1 das Buch Sirach, das mit einem Weisheitshymnus einsetzt. Wir dürfen beim Johannesprolog von einem Logoshymnus sprechen, der den Namen Jesu erst am Schluss nennt (V. 17). Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Hymnus unabhängig von der Evangelienlesung und damit ohne Zusätze je kultisch verwendet worden ist; bei den Weisheitshymnen in Sir und Sap ist gottesdienstlicher Gebrauch gewiss nicht der Fall. Der hymnische Prolog hat die Aufgabe, die mythischen Dimensionen der irdischen Jesusgeschichte, die das Evangelium erzählen wird, auszuspannen.
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Unser exegetischer Durchgang versuchte, formgeschichtlich zwischen Hymnus im engeren Sinn und hymnischem Lob zu differenzieren. Wir stehen nun vor einem eigentümlichen Ergebnis: Das Neue Testament dokumentiert einige Gotteshymnen, aber nahezu keine Christushymnen. Dieser Befund steht quer zur klassischen Untersuchung von Reinhard Deichgräber, wonach der im Urchristentum seltene ‘Gotteshymnus weitgehend vom Christushymnus verdrängt worden ist’.Footnote 81 Zugleich hat sich aber auch gezeigt, dass die urchristlichen Texte auf eine Fülle von hymnischen Sprachmitteln aus ihrer Umwelt zurückgreifen, um Christus als gottgleiches Wesen zu preisen, und diese hymnischen Figuren stehen in ihrem Kontext oft an zentraler Stelle. Lässt sich dieser spannungsvolle Befund erklären?
4. Monotheismus und hymnisches Christuslob
Wir sind ausgegangen von der geradezu romantischen Vermutung, dass der grösste Teil einer einst reichen frühchristlichen Hymnodik untergegangen sei. Betroffen wären davon insbesondere die Christushymnen. Die Hypothese hat am Neuen Testament selber kaum Anhalt. Nun bietet auch die patristische Literatur der ersten drei Jahrhunderte auffällig wenige Preislieder auf Christus, und diese sind ihrerseits nicht zufällig in quantitierendem Metrum gehalten und haben meist rein literarische Funktion.Footnote 82 Mehr hymnisches Material enthalten gnostische bzw. gnosisnahe Texte und die christlichen Apokryphen; die Zahl der Christushymnen hält sich allerdings, sieht man von den in vielfacher Hinsicht singulären Oden Salomos ab, in recht engen Grenzen.Footnote 83 Kol 3.16 und Eph 5.19 belegen zwar einen inspirierten gemeindlichen Liedergesang, kaum aber spezifische Christushymnen.Footnote 84 Offen lassen wir die Frage, wie stark man den bekannten Hinweis von Plinius auf Lieder ‘für den Gott Christus’ belasten kann.Footnote 85 Im Ganzen legt der Befund nicht die Hypothese eines Verdrängungsprozesses nahe, sondern muss als einigermassen repräsentativ ernst genommen werden. Der Hauptempfänger von Hymnen bleibt auch im frühen Christentum Gott selber, nicht sein menschgewordener Sohn. Ja, die hymnischen Passagen, die Christi Würde preisen, spiegeln vielfach die Ehre der Gottheit zurück—so in Phil 2.9–11 und in 1 Tim 3.16.Footnote 86 Die hier zu beobachtende Theozentrik pflegen wir mit der Kategorie des christologischen Monotheismus zu beschreiben.
An dieser Stelle lohnt sich ein Seitenblick auf die frühchristlichen Gebete, zumal wir ja Hymnus und Gebet einander eng zugeordnet hatten. Von der frühchristlichen Literatur bis tief ins vierte Jahrhundert zeigt sich ein erstaunliches Phänomen: Die uns erhaltenen gottesdienstlichen Gebete werden nach Ausweis der alten Kirchenordnungen und Liturgien ausschliesslich an Gott adressiert, nicht an Christus, so sehr dieser die im Gebet aktualisierte einzigartige Gottesbeziehung eröffnet und trägt.Footnote 87 Nicht von ungefähr rät Origenes in seiner Abhandlung zum Gebet dazu, Gebete allein an Gott zu richten, nicht an den, der selber betet.Footnote 88
Der altkirchliche Befund deckt sich in erheblichem Umfang auch mit der urchristlichen Literatur: Jesus Christus ermöglicht als Mittler und Begründer die Gebetskommunikation mit Gott, wird aber selber nur gelegentlich zum Gebetsempfänger.Footnote 89 Ausnahmen bestätigen die Regel.Footnote 90 Die ab dem Ende des 1. Jh. begegnende Zueignung der Doxologien an Christus allein zeigt aber, dass dieser zunehmend auch als liturgischer Adressat in den Vordergrund rückt.Footnote 91
Unser Bild der um den Christuskult organisierten urchristlichen GemeindenFootnote 92 bedarf offenkundig der Verfeinerung. Möglicherweise ist es nicht primär der Kult im engeren Sinn, der als ‘Brutkammer der hohen Christologie’ anzusprechen ist. Gerade in Lob und Gebet partizipiert die Gemeinde am reichen liturgischen Gut Israels und damit an seiner betont monotheistischen Orientierung, auch dort noch, wo sie selber vom Geist erfüllt Psalmen erschafft. Wenn die Christen Jesus gottgleiche Würde zuschreiben, dann vornehmlich im Modus seiner Teilhabe an Gottes einzigartiger Position—an seinem Namen, seinem Schöpfertum und seiner Weltherrschaft. In anbetenden Sprachgestalten tritt Christus deshalb zugunsten der Gottheit selber in den Hintergrund. Demgegenüber ist eher an Schriftauslegung und Lehrpredigt zu denken, in denen sich die christologische Reflexion in hymnischen Sprachformen ein Stück weit verselbständigt und auf ein Neuland hinauswagt, das Jahrhunderte später die Gestalt der trinitarischen Gottesverehrung und Theologie annehmen wird.