In Aberdeen 2006 untersuchte John Barclay unter der Frage ‘There is Neither Old nor Young?’ die Einstellung des frühen Christentums zu den ‘ancient ideologies of age’Footnote 1 : Nach welchen Kriterien wird entschieden, in welchem Alter jemand den Status eines πρϵσβύτϵρος einnehmen kann? Wie alt sind die gelegentlich erwähnten νϵώτϵροι? Die ‘Ämter’, so stellt Barclay fest, wurden in der Frühzeit des Christentums nicht nach dem Maßstab des Lebensalters vergeben, sondern andere Kriterien waren ausschlaggebend: ‘It is possible to find traces in Paul of an alternative ideology, challenging the structuring assumptions of Roman society’. Später habe sich zwar die römische bzw. hellenistische Praxis der Ämterlaufbahn auch in der Kirche durchgesetzt, doch blieb ‘within the Christian tradition a trace of an earlier, alternative, vision of a social structure that is Spirit-led and age-blind’.Footnote 2 Dieses Ergebnis hat mich gereizt, weiter zurückzugehen: Welche Bedeutung haben im frühen Christentum die ganz jungen Menschen, die (kleinen) Kinder? Unterscheidet sich ihre Stellung in der Kirche von der, die sie in der übrigen antiken Gesellschaft einnehmen? Zu dieser Thematik sind, gerade auch in jüngster Zeit,Footnote 3 wichtige umfassende Untersuchungen erschienen. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich deshalb auf einen Aspekt, nämlich auf die Frage nach der geistigen und geistlichen Erziehung der Kinder in den Gemeinden des frühen Christentums, damit verbunden auf die Frage nach ihrer Taufe.
I.
Kleine Kinder werden im Griechischen παιδία oder βρϕη genannt, τ
κνα sind ‘Nachkommen’, unabhängig von ihrem Alter.Footnote 4 Eine genau zu bestimmende Altersgrenze für ‘Kinder’ gibt es natürlich nicht. Für Aristoteles ist παιδίον das Kind bis zum Alter von etwa drei Jahren (Pol 1336), Philo von Alexandria rechnet die erste Lebensaltersstufe bis zum Alter von sieben Jahren (OpMund 105), talmudische Texte sehen eine Grenze beim Alter von zehn Jahren. Aristoteles meint, es sei angesichts der Gefahren und Widernisse des Lebens am besten, gar nicht geboren zu werden; das Leben, das man als Kind (παῖς) führe, sei jedenfalls nicht erstrebenswert: ‘Kein Vernünftiger würde es auf sich nehmen, den Lauf zurückzuwenden’.Footnote 5 Ebenso wie schon Plato plädiert auch Aristoteles für eine Kontrolle der Zahl der Geburten: Da die sittliche Ordnung (ἡ τάξις τῶν
θῶν) die Kindesaussetzung verbiete,Footnote 6 solle ein über die angemessene Zahl hinaus gezeugtes Kind ‘entfernt’ werden, ‘bevor es Wahrnehmung und Leben erhalten hat’—Geburtenkontrolle durch Abtreibung! Überdies müsse festgelegt werden, in welchem Alter ein Paar überhaupt Kinder zeugen dürfe.Footnote 7
Für Israel in biblischer Zeit sind Kinder der exemplarische Segen (Gen 22.17; 26.4; vgl. 1.28), Kinderlosigkeit kann dementsprechend als Fluch oder als Strafe (Lev 20.20f; Hos 9.11f,16; 2 Sam 6.16–23) verstanden werden. Die ‘unfruchtbare’ Frau, die doch noch Kinder bekommt, gilt real (Ps 113.9) und auch im übertragenen Sinn (Jes 49.20) als Empfängerin einer besonderen Gnadengabe Gottes. Abtreibung und Kindesaussetzung werden deshalb im Judentum und dann auch im Christentum strikt verworfen, obwohl es entsprechende biblische Weisungen nicht gibt; dieses Verhalten wird auch in der Perspektive der Umwelt wahrgenommen.Footnote 8 Im Judentum wird den Kindern religiöse wie nichtreligiöse Bildung vermittelt, für Jungen und Mädchen in unterschiedlicher Weise.Footnote 9
Im allgemeinen gilt der männliche Jugendliche mit dem 16. oder 17. Lebensjahr als erwachsen; als Römer erhält er die toga virilis. Für Mädchen endet die ‘Kindheit’ dagegen schon im Alter von 12 bzw. 13 Jahren; da sie die Kindertracht im allgemeinen im Rahmen der Hochzeitszeremonie ablegen,Footnote 10 gibt es für sie eine Zeit der ‘Jugend’ im Grunde gar nicht, während Männer oft erst im Alter von 25 bis 30 Jahren heiraten.
II.
Der Apostel Paulus spricht in seinen uns erhaltenen Briefen nur einmal von Kindern, und zwar im Zusammenhang seiner Reaktion auf die in 1 Kor 7.1 zitierte These, es sei ‘für einen Menschen gut, eine Frau nicht zu berühren’. Er hält der in Korinth offenbar vertretenen Meinung, dass ein Christ durch die eheliche—zumal sexuelle—Beziehung zu einem ‘ungläubigen’ Menschen ‘unrein’ werde, entgegen, tatsächlich werde der ‘Ungläubige’ durch den christlichen Partner geheiligt (1 Kor 7.14a); der ‘heiligende’ Charakter der christlichen Existenz ist in der Sicht des Paulus also stärker als der ‘verunreinigende’ Charakter der ungläubigen Existenz. Andernfalls, so fährt Paulus fort, wären ja ‘eure Kinder unrein’ (πϵὶ ἄρα τὰ τ
κνα ὑμῶν ἀκάθαρτά
στιν)—in Wahrheit aber sind sie ‘heilig’ (νῦν δ
ἅγιά
στιν, v. 14b). Die von Paulus hier verwendete Begrifflichkeit ist ungewöhnlich: ‘Unrein’ (ἀκάθαρτος) begegnet nur an dieser Stelle,Footnote 11 ‘heilig’ (ἅγιος) hat hier beinahe die Bedeutung ‘(kultisch) rein’. Überdies setzt Paulus offenbar sehr bewußt ein emotionales argumentum ad hominem ein, indem er von der unpersönlichen Redeweise in vv. 12–14a (3. Pers. Sing.) in die direkte Anrede wechselt (v. 14b ‘eure Kinder’) und so an die Adressaten appelliert, sie sollten bei der Frage, ob die Beziehung zum ‘ungläubigen’ Partner ‘unrein’ macht oder nicht, an ihre Kinder denken. Bei der Aussage ‘sie sind heilig’ setzt Paulus die Zustimmung des christlichen Elternteils offensichtlich als gegeben voraus.
Nun sagt das von Paulus hier gebrauchte Wort τκνα nichts über das Alter der Kinder; aber es geht in 1 Kor 7 generell um sexuelle Beziehungen, und in vv. 12–4 steht offensichtlich die mögliche ‘Verunreinigung’ durch sexuelles Handeln in einer ‘gemischten’ Ehe zur Diskussion. Paulus argumentiert: Gäbe es tatsächlich eine solche ‘Verunreinigung’, so wären die so gezeugten und geborenen Kinder wirklich ‘unrein’—sie sind es aber nicht!Footnote 12 Vermutlich denkt Paulus also an Kinder, die in einer ‘inter-religiösen’ Ehe gezeugt bzw. geboren wurden; dann aber können in der ja noch jungen korinthischen Gemeinde diese τ
κνα nur kleine Kinder sein.Footnote 13 Ob die hier erwähnten Kinder getauft und also Glieder der christlichen Gemeinde sind, läßt sich nicht sagenFootnote 14; möglicherweise gelten sie schon infolge ihrer bloßen Abstammung vom christlichen Elternteil als ‘heilig’, nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinde.Footnote 15 Denkbar ist, dass Paulus den christlichen Vater bzw. die christliche Mutter indirekt dazu auffordert, die ‘heiligen’ Kinder entsprechend, also ‘christlich’ zu erziehen. Die den Abschnitt abschließende Aussage in 7.16 (τί γὰρ οἶδας ϵἰ … σώσϵις) ist ja nicht als Zeichen der Resignation, sondern als Aufruf zu einer ‘missionarischen’ Zuversicht zu verstehenFootnote 16; dementsprechend könnte es sein, dass Paulus mit seiner Aussage νῦν δ
ἅγιά
στιν die Adressaten dazu ermutigen will, den Auftrag zum ‘Retten’ nicht nur gegenüber dem Ehepartner, sondern auch gegenüber den ‘heiligen’ Kindern wahrzunehmen.
Warum spricht Paulus von Kindern nur an dieser einen Stelle? Fehlte dem unverheirateten und also vermutlich kinderlosen Apostel das persönliche Interesse? War das Thema sonst niemals an ihn herangetragen worden? Wir kennen nicht alle Briefe des Paulus und sollten sein Schweigen deshalb nicht überbewerten; ohne die komplizierte Beziehung zwischen Paulus und Korinth würden uns ja auch zu anderen Aspekten Gemeindelebens manche Informationen fehlen—man denke nur an die Feier des Herrenmahls. Es ist durchaus möglich, dass Paulus diese Thematik tatsächlich niemals von sich aus erörtert hätte. Fragen kann man, ob sich das Schweigen des Paulus zum Thema ‘Kind’ seiner Naherwartung verdankt, dass also die Geburt von Kindern gar nicht mehr erwartet wird. Tatsächlich könnte die Aufforderung zum ‘Haben als hätte man nicht’ (7.29–31) mit der aus der Perspektive allein des Mannes formulierten Aussage zur Ehe (‘die da Frauen haben, sollen sein, als hätten sie sie nicht’) als Aufruf zur Askese auch in der Ehe verstanden werden; aber in 7.2–5 wird die Praktizierung der Sexualität bejaht, und Paulus fordert nicht dazu auf, man solle angesichts der ‘gedrängten Zeit’ (καιρὸς συνϵσταλμνος) bestehende Bindungen, einschließlich der Sorge um die Kinder, vernachlässigen.Footnote 17
III.
Kinder gelten in der Antike als unmündig (νήπιοι), und dieser ‘Mangel’ soll durch Erziehung beseitigt werden.Footnote 18 Der Schulunterricht beginnt im Alter von sechs oder sieben Jahren, nicht in ‘öffentlichen’ Schulen, sondern beim privaten διδάσκαλος. In der unter Umständen nur kurzen Schulzeit sollen vor allem die Anfangsgründe des Lesens, Schreibens und Rechnens vermittelt werden.Footnote 19 Dabei lassen Texte römischer Autoren des 1. Jahrhunderts n.Chr. zum Thema Erziehung ein recht optimistisches Bild des Kindes und der Chancen der Erziehung erkennen; wieweit die Aussagen repräsentativ oder im Gegenteil rein theoretisch sind, können wir natürlich nicht sagen.
Nach C. Musonius Rufus (ca. 30–108) ist der Keim zur Tugend im Menschen von vornherein angelegt und wird durch den Unterricht zur Entfaltung gebracht.Footnote 20 Auch Frauen sollen philosophieren, Söhne und Töchter sollen nicht unterschiedlich erzogen werden.Footnote 21 Die Frage, ‘ob man den Eltern in allem gehorchen muß’, diskutiert Musonius am Beispiel eines Jünglings (νϵανίας), dem der Vater das Philosophieren (ϕιλοσοϕϵῖν) verbieten will, und er stellt fest: Soll der Sohn zu einer unehrenhaften Handlung veranlaßt werden, dann ist ‘Ungehorsam’ die richtige Haltung und man muß Gott (‘Zeus’) gehorchen, nicht einem Menschen.Footnote 22 Musonius spricht allerdings von Heranwachsenden, die noch unter der Obhut des pater familias stehen; aber er fordert, dass dessen Weisungen sich an einem ethischen Maßstab zu orientieren haben.
Quintilian, ein Zeitgenosse des Musonius (ca. 35-ca. 100) beginnt seine Institutio Oratoria mit grundsätzlichen pädagogisch-psychologischen Hinweisen: Wenn ein Vater von vornherein große Hoffnungen in seinen Sohn setzt, wird er sich von Anfang an mit größerer Sorgfalt um ihn kümmern.Footnote 23 Wie den Vögeln das Fliegen oder den Pferden das Laufen, so sei dem Menschen die Fähigkeit zum Lernen angeboren; der menschliche Geist sei ‘himmlischen Ursprungs’ (origo animi caelestis creditur). Wenn die Erziehung scheitert, so liegt die Ursache nicht in der Natur, sondern in fehlender Fürsorge (manifestum est non naturam defecisse, sed curam). Von Anfang an muß auf das richtige Sprechen des Kindes geachtet werden, denn was man in frühester Kindheit aufnimmt, das hält man am beharrlichsten fest. Die Kinder dürfen aber nicht überfordert werden: ‘Ein Spiel soll das Ganze sein’ (lusus hic sit). Quintilian betont, der künftige Redner müsse früh Lesen und Schreiben lernen; hier zeigt sich, dass seine Aussagen auf die Rhetorik zielen und die Erziehung bzw. Ausbildung von Mädchen, anders als bei Musonius, nicht im Blick ist.Footnote 24
In einem Büchlein unter dem Titel πϵρὶ παίδων ἀγωγῆς, als dessen Autor Plutarch gilt,Footnote 25 wird das Verhältnis von natürlicher Begabung (ϕύσις), Verstand (λόγος) und Gewöhnung (θος) bestimmt. λόγος wird definiert als Fähigkeit zum Lernen (μάθησις),
θος wird im Sinne von Übung (ἄσκησις) verstanden. Die Kinder, so fordert (Pseudo-)Plutarch, sollen nicht durch Ammen, sondern möglichst durch die Mutter erzogen werden. Wenn man sie einem παιδαγωγός anvertraue, solle man Lehrer (διδάσκαλοι) suchen, die die Kinder wirklich zu fördern vermögen.Footnote 26 Die Bildung (παιδϵία) sei es, die den Menschen auszeichne; am wichtigsten seien der Nous und der Logos; der Nous stehe schon deshalb über dem Logos, weil er weder durch das Schicksal (τύχη) noch durch Krankheit oder zunehmendes Alter verletzt werde: ‘Allein die Vernunft verjüngt sich, wenn sie altert’ schreibt der Autor recht optimistisch; die Zeit nehme ja sonst alles fort, dem Alter aber vermehre sie die Einsicht.Footnote 27 Neben der Redekunst sei auch die ‘Allgemeinbildung’ (
γκύκλια παιδϵύματα) zu fördern, insbesondere die Philosophie. Ausdrücklich wendet sich das Büchlein auch an materiell schlecht gestellte Eltern: ‘Auch die Armen müssen also nach besten Kräften versuchen, ihren Kindern die beste Erziehung zu ermöglichen’. Ob der Autor tatsächlich mit der Rezeption seiner Gedanken in Familien der unteren Schichten rechnet, läßt sich nicht sagen; er fordert jedenfalls im Zusammenhang dieser Aussage, dass die Kinder nicht überfordert und mit Arbeiten überlastet werden dürfen, die ihre Kräfte übersteigen; Erholung sei nämlich ‘das Salz der Arbeit’.Footnote 28
Die zitierten Autoren thematisieren nicht die Teilnahme der Kinder an religiösen Handlungen oder an einem regelrechten ReligionsunterrichtFootnote 29; aber die Beteiligung von Kindern am lokalen oder häuslichen Kult ist in der Antike vorausgesetzt.Footnote 30 Schon kleine Kinder konnten die Mysterienweihe erfahren; in der Kaiserzeit entwickeln die Dionysosmysterien ‘eine ausgeprägte Vorliebe für die Einweihung von Kindern’—nicht zuletzt deshalb, weil den Mysten ‘nach dem Tod ein besseres Geschick’ erwartete.Footnote 31 Eine Grabskulptur aus der Zeit um 140 n.Chr. zeigt einen verstorbenen Knaben als Dionysos; eine Büste aus dem 3. Jahrhundert stellt einen Knaben dar, der durch seine Haartracht als ein in das Isis-Mysterium Eingeweihter ausgewiesen ist.Footnote 32
IV.
In der weisheitlichen Literatur des Judentums wird betont, entscheidend sei nicht, überhaupt Kinder zu haben, sondern diese gut zu erziehen. Nach Pseudo-Phokylides soll man von Kindern nicht zu viel fordern, sondern ihnen freundlich begegnen.Footnote 33 Jetzt bezeichnet der Begriff παιδϵία im griechisch sprechenden Judentum, anders als in der lxx, die ‘Erziehung’ bzw. die ‘Bildung’. In EpArist 121 wird gesagt, der Hohepriester für die Übersetzung der Bibel Männer gewählt, die ‘eine hervorragende Bildung (παιδϵία) besaßen und die nicht nur die jüdische Sprache beherrschten, sondern auch eifrig die griechische studiert hatten’. Der König fragt beim Gastmahl einen der Gelehrten, welches die größte Nachlässigkeit sei, und er erhält zur Antwort: ‘Wenn einer sich nicht um seine Kinder (τκνα) kümmert und sich nicht bemüht, sie auf jegliche Weise zu erziehen’. Der Gelehrte fügt hinzu: ‘Wir beten immer zu Gott, nicht so sehr für uns selbst als für unsere Nachkommen, daß sie alle Güter besitzen mögen. Jedoch zu sehen, daß die Kinder (παιδία) besonnen werden, das geschieht durch Gottes Macht’.Footnote 34
Philo sieht eine unmittelbare Verbindung zwischen der Verehrung Gottes und der im fünften Dekalog-Gebot geforderten Verehrung der Eltern durch die Kinder (Decal 111): Bei der Zeugung seien die Eltern Diener Gottes (θϵοῦ ὑπηρται), daher nehme das Eltern-Gebot die Mittelstellung ein zwischen den auf Gott und den auf den Menschen bezogenen Geboten. Die Eltern stehen sogar in der Mitte zwischen der göttlichen und der menschlichen Physis, denn sie vollziehen eine ‘Schöpfung aus dem Nichts’ (τὰ μὴ ὄντα ϵἰς τὸ ϵἶναι παρήγαγον, Spec Leg II 225). Sie vermitteln ihren Kindern das Streben nach den Tugenden (ἀρϵταί) und ermöglichen es ihnen, gut zu leben (§ 228f.).
Zu der auch von Musonius diskutierten Frage, ob Kinder ihren Eltern unter allen Umständen Gehorsam schulden, vertritt Philo die Auffassung, hier könne es einen wirklichen Konflikt kaum geben, da ein wahrer Vater seinem Kinde nichts gebieten werde, was der Tugend zuwiderliefe (SpecLeg II 236). Dem Gehorsam der Kinder entspreche seitens der Eltern die Verpflichtung, angemessen für die Kinder zu sorgen (Op Mund 171).
In Gen 15.16 ist vom ‘vierten Geschlecht’ die Rede, das ins Land zurückkehren wird; daraus folgert Philo, es gebe ‘vier Zeitalter der Seele’: Das neugeborene Kind (βρϕος) bis zum Alter von sieben Jahren habe eine reine Seele wie von Wachs, der die Eindrücke des Guten und des Bösen noch nicht fest eingeprägt seien, so dass die Möglichkeit der Veränderung bestehe. In der zweiten Lebensaltersstufe zeuge die ψυχή dann aber Böses—teils aus sich selbst heraus, teils durch äußeren Einfluß; dadurch werde sie zunächst ganz beherrscht (Philo verweist auf Gen 8,21), bedürfe also der Korrektur, die in der drittten Stufe des Lebensalters erfolge. Erst danach ‘erwachsen der Seele im vierten Zeitalter Kraft und Stärke durch sichere Aufnahme der Einsicht und unerschütterlich festes Beharren in allen Tugenden’, womit das Wort aus Gen 15.16 seine Bestätigung finde.
In seiner Auslegung von Dtn 12.31 lxx (Mose warnt das Volk vor der Nachahmung der religiösen Praktiken der Völker des Landes, die ‘sogar ihre Söhne und ihre Töchter im Feuer verbrennen für ihre Götter’) sagt Philo, zwar sei die Verbrennung der Kinder bei den Barbarenvölkern nicht allgemeine Sitte, aber ‘sie töten die Seelen ihrer Kinder schon von der Wiege an, weil sie ihnen nicht schon im zartesten Kindesalter die Lehren der Wahrheit über den einen wahrhaft seienden Gott einprägen’ (SpecLeg I 313).
Texte aus Qumran (1 QSa I 6–8) und aus dem Talmud, die von Kindern sprechen, beziehen sich vor allem auf die Hinführung zur Tora: ‘Wenn [das Kind] zu sprechen versteht, muß sein Vater ihn [sc. den Knaben] die Tora und das Schema-Lesen lehren’, heißt esFootnote 35; und Jehuda b. Tema lehrt: ‘Mit fünf Jahren für [das Studium der] Schrift, mit zehn für [das Studium der] Mischna, mit dreizehn für [die Pflicht der] Gesetzesübung, mit fünfzehn für [das Studium des] Talmud, mit achtzehn für die Heirat’.Footnote 36 Der Mischna-Traktat Baba Bathra diskutiert die Frage, ob jemand Lärm im Nachbarhof dulden müsse (III,2), und dazu heißt es in der Gemara, der Lärm von Schulkindern sei zu tolerieren; R. Jehošua b. Gamla habe für die Einrichtung von Schulen gesorgt, in denen die Kinder in die Bibel und in die jüdische Tradition eingeführt werden.Footnote 37 Ob diese Entscheidung noch in der Zeit des zweiten Tempels getroffen wurde, ist umstritten.Footnote 38 Auch ist nicht sicher, inwieweit der Begriff ‘Schule’ und die Einführung in die (Heilige) Schrift unbedingt Lesen und Schreiben einschließt; aber Josephus schreibt, man sei verpflichtet, die Kinder lesen zu lehren, damit sie ‘die Gesetze und die Taten der Vorfahren kennenlernen’.Footnote 39 Kinder nehmen am synagogalen Gottesdienst und an häuslichen religiösen Handlungen teil und haben dabei auch eine aktive Rolle, wie vor allem die Feier des Passa-Festes zeigt.Footnote 40 Das spricht für die Vermutung, dass Paulus mit seiner Bemerkung ‘jetzt aber sind sie heilig’ nicht meinen wird, die Kinder sollten—da bereits ‘heilig’—sich selbst überlassen bleiben; eher wird er indirekt dazu aufzufordern, die bereits ‘heiligen’ Kinder entsprechend ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinde zu erziehen.
V.
In der Jesus-Überlieferung ist von Heilungswunderm Jesu auch an Kindern die Rede; deren Alter spielt dabei aber keine besondere Rolle, ausgenommen das zwölfjährige ‘Töchterchen’ (θυγάτριον) des Jairus (Mk 5.42). In einem der Gleichnisse spricht Jesus von Kindern, die spielen bzw. sich der Aufforderung zum Spielen verweigern (Lk 7.31f./Mt 11.16f. Q).
Zweimal wird von Jesu Begegnung mit kleinen Kindern erzählt.Footnote 41 Zunächst ‘nimmt’ Jesus im Anschluß an die Jüngerdiskussion zum Thema ‘Wer ist der Größte?’ (Mk 9.33–35) ein Kind ‘in ihre Mitte’, umarmt es (v. 36) und fordert indirekt dazu auf, ‘eines dieser Kinder anzunehmen’ (v. 37).Footnote 42 Während in der Mt-Parallele der Vorbildcharakter des Kindes betont ist, steht bei Markus das Kind selbst im Mittelpunkt; die Umarmung ist eine symbolische Vorwegnahme des Logions in v. 37, insofern Jesus das Kind ‘annimmt’, während die Jünger nach Größe gefragt hatten.Footnote 43
Auch in Mk 10.13–16 sind die Kinder nicht exempla für ein bestimmtes Verhalten, auch wenn dieser Gedanke in v. 15 anklingtFootnote 44; es geht vielmehr um die Kinder selbst und um ihre Stellung gegenüber Jesus. Die handelnden Personen sind Erwachsene; dadurch wird gerade deutlich, dass Kinder Objekte des Handelns anderer sind.Footnote 45 Die Erzählung beginnt, ähnlich wie die Wundererzählungen in Mk 7.32–37; 8.22–26 damit, dass ‘man’ Kinder zu Jesus bringt (v. 13aα), wobei nicht gesagt wird, wer hier handelt. Jesus, so weiß der Erzähler, soll die Kinder ‘berühren’ (v. 13aβ). Zwar bezeichnet ἅπτϵσθαι in Wundererzählungen oft einen heilenden Gestus; aber da die Kinder nicht als ‘krank’ vorgestellt sind, zielt die Bitte nicht auf Heilung, was sich in v. 16 bestätigen wird. Jesu Jünger machen den nach wie vor nicht näher beschriebenen Personen heftige Vorhaltungen (v. 13b); Gründe dafür werden nicht genannt,Footnote 46 sie agieren also offenbar nur, um Jesu nachfolgende Äußerung zu provozieren. Es liegt also eine ‘ideale Szene’ im Sinne Bultmanns vor.Footnote 47 Jesus wird daraufhin ‘unwillig’, das Verb ἀγανακτϵῖν signalisiert seine große Empörung (v. 14a).
Dementsprechend richtet sich die folgende wörtliche Rede Jesu (v. 14b) direkt gegen die Jünger: Mit dem ersten imperativisch formulierten Satz werden sie angewiesen, die Kinder zu ihm ‘kommen zu lassen’ (ἄϕϵτϵ τὰ παιδία ρχϵσθαι πρός μϵ), wodurch sie, die bis dahin Objekte des Handelns anderer waren, als eigenständig handelnde Personen anerkannt sind. Mit dem zweiten Imperativ ‘Hindert sie nicht!’ (μὴ κωλύϵτϵ αὐτά) wird das ‘Schelten’ der Jünger in v. 13b (
πιτιμᾶν) nun geradezu als ein ‘Verhindern’ bewertet; damit verschärft Jesus den Konflikt, denn nun geht es um die grundsätzliche Entscheidung, den Kindern entweder den Zugang zu Jesus zu gewähren oder sie daran zu ‘hindern’, was Jesus selber eindeutig beantwortet. Dazu stellt er in v. 14c einen direkten Zusammenhang her zwischen den Kindern und der Herrschaft Gottes, nennt also für seine Reaktion auf das Verhalten der Jünger theologische bzw. ‘religiöse’ Gründe. Zwar sind, wie τοιοῦτοι zeigt, nicht nur Kinder gemeint; aber sie gehören jedenfalls dazu; durch das ergänzende Logion v. 15 wird die Aussage auf erwachsene Menschen übertragen.
In v. 16 richtet sich der Blick des Erzählers wieder auf die Kinder: Jesus segnet sie und bestätigt so unmittelbar ihre Zugehörigkeit zum Herrschaftsbereich Gottes. Wieder ist die sprachliche Gestaltung auffällig: Die Segenshandlung (κατϵυλόγϵι)Footnote 48 wird durch die partizipial formulierte Bemerkung gerahmt, dass Jesus die Kinder umarmt und dass er ihnen die Hände auflegt; sein Handeln geht also weit über das hinaus, was eingangs erhofft worden war. Zugleich entspricht Jesu Tun seinen Worten in v. 14, womit die Schärfe seiner Reaktion auf das Verhalten der Jünger unterstrichen wird. Die Erzählung zeigt: Kinder können nicht von sich aus zu Jesus und damit zum Gottesreich gelangen; aber Jesus selber ermöglicht ihnen, gegen den Widerstand der Jünger, zu ihm zu ‘kommen’.
Ob der Szene das Wissen um Jesu grundsätzliche Einstellung zu Kindern oder auch nur die Erinnerung an eine einzelne Begebenheit im Leben Jesu zugrunde liegt, ist unwesentlich; die für das Verständnis des Textes besonders wichtigen Formulierungen in vv. 13,16 verdanken sich jedenfalls dem Erzähler. Die Szene schildert einen Konflikt über die Frage, ob Kinder in einer unmittelbaren Beziehung zu Jesus stehen dürfen oder nicht; die Kinder selber können sich nicht durchsetzen, und so besteht die Lösung des Konflikts darin, dass Jesus zugunsten der Kinder handelt.Footnote 49 Lukas spricht in seiner Textfassung (Lk 18.15) übrigens nicht von ‘Kindern’ (παιδία), sondern von ‘Säuglingen’ (βρϕη); das ist sicher kein Zufall, denn er hat auch sonst ein Interesse daran, das Augenmerk der Leser bewußt auf sehr kleine Kinder zu lenken.Footnote 50
VI.
Die Autoren des Kolosser- und des Epheserbriefes gehen in den Haustafeln auch auf die Beziehung zwischen Kindern und Eltern (bzw. Vätern) ein; die Kinder werden direkt angesprochen.Footnote 51 Aus der Anrede in Kol 3.20a (τὰ τκνα) geht deren Alter nicht hervor; aber die Weisung ‘Gehorcht euren Eltern κατὰ πάντα’ macht es wahrscheinlich, dass zwar nicht ganz kleine, aber auch nicht bereits erwachsene Kinder gemeint sind.Footnote 52 Die in v. 20b folgende Erläuterung, solches Verhalten sei ‘wohlgefällig (ϵὐάρϵστον) im Herrn’, zeigt, dass die Angeredeten jedenfalls zur Gemeinde gehören.Footnote 53 Wenn in v. 21 die Väter (!) gemahnt werden, ihre Kinder nicht zu ‘erbittern’, damit sie nicht ‘mutlos’ werden (ἵνα μὴ ἀθυμῶσιν), so erinnert das an (Pseudo-)Plutarch, der dazu aufruft, die Kinder nicht zu überfordern, denn ‘davon erschöpft sinken sie [die Kinder] ab und sind, auch sonst von ihren Mißerfolgen seelisch niedergedrückt, nicht (mehr) zum Lernen bereit’.Footnote 54 Offenbar steht hinter Kol 3.21 eine ähnliche Einsicht.Footnote 55
Der Autor des Epheserbriefes modifiziert die an die Kinder gerichtete Weisung zum Gehorsam gegenüber den Eltern: Er streicht in 6.1 die adverbiale Bestimmung κατὰ πάντα, was an die Debatte bei Musonius und Philo erinnert, ob man den Eltern ‘in jeder Hinsicht’ gehorchen müsse. Sollte die gut bezeugte Wendung ν κυρίῳ an dieser Stelle (ὑπακούϵτϵ τοῖς γονϵῦσιν ὑμῶν
ν κυρίῳ) die ältere Lesart sein,Footnote 56 wäre damit das Kriterium für den Gehorsam der Kinder und zugleich ein Maßstab für die Weisungen der Eltern genannt. Überdies gibt der Wechsel von τοῦτο γὰρ ϵὐάρϵστόν
στιν
ν κυρίῳ (Kol 3,20) zu τοῦτο γάρ
στιν δίκαιον in der mit γάρ angeschlossenen Erläuterung der ganzen Aussage einen stärker grundsätzlichen Charakter.Footnote 57
Anschließend wird in vv. 2a,3 das biblische Elterngebot zitiert und dazu gesagt (v. 2b), dies sei das erste Gebot, das eine Verheißung enthält. Damit ist ein nach vorn offener zeitlicher Horizont eröffnet; überdies wird die in v. 4a gegebene Mahnung an die Väter, die Kinder nicht zu ‘erzürnen’, durch eine positiv formulierte Aufforderung erweitert (v. 4b): ‘Erzieht sie ν παιδϵίᾳ καὶ νουθϵσίᾳ κυρίου’. Die τ
κνα sind auch hier nicht als ganz kleine Kinder zu denken, denn der Autor setzt voraus, dass sie die von ihm vorgetragene Argumentation nicht nur hören, sondern auch inhaltlich verstehen können. Aber das Verb ‘aufziehen’ (
κτρ
ϕϵιν) spricht doch dafür, dass auch kleinere Kinder mit im Blick sind.
Mit der Mahnung, παιδϵία und νουθϵσία sollten auf den κύριος, also auf Christus, ausgerichtet sein, spricht Eph 6.4 explizit von einer religiösen Erziehung der Kinder. Dabei meint παιδϵία hier nicht ‘Zucht’, sondern ‘Erziehung’, vielleicht sogar ‘Bildung’ im Sinne der zeitgenössischen stoischen Begrifflichkeit. Ähnlich schreibt Philo in seiner Auslegung der Wendung in Dtn 8.5 (ὡς ϵἴ τις παιδϵύσαι ἄνθρωπος τὸν υἱὸν αὐτοῦ οὕτως κύριος ὁ θϵός σου παιδϵύσϵι σϵ ‘… wie ein Mensch seinen Sohn erzieht’), so handele Gott um der παιδϵία und νουθϵσία des Menschen willen (Deus Imm 54).Footnote 58 Der biblische Zusammenhang spricht nicht von ‘Züchtigung’, sondern von der Bewahrung des Volkes; Philo denkt also nicht an ‘Zucht’ und ‘Zurechtweisung’, sondern an ‘Erziehung’ im umfassenden Sinne, und dasselbe Verständnis ist offenbar in Eph 6,4 vorausgesetzt. Damit betont der theologisch ja sehr grundsätzlich argumentierende Epheserbrief den besonderen Aspekt einer christlichen ‘Bildung’; es ist, soweit wir erkennen können, der literarisch älteste Beleg dafür. Der Hinweis auf das biblische Gebot zeigt, dass auch die Verantwortung für die Zukunft im Blick ist; der Autor rechnet ‘mit einem längeren Dasein der Kirche auf Erden und nicht mit einer nahen Parusie, freilich auch nicht mit einer eliminierten Zeit’.Footnote 59
Gewiß enthält die kleine Notiz in Eph 6.4 kein ‘christliches Bildungsprogramm’; aber der auctor ad Ephesios hat seine Vorlage (d.h. den Kolosserbrief) sehr reflektiert bearbeitet, und deshalb darf das Gewicht der in 6.1–4 sichtbar werdenden Änderungen gegenüber Kol 3.20–21 auch nicht unterschätzt werden. Das gilt um so mehr, als die Haustafel des Ersten Petrusbriefes gar keinen entsprechenden Aspekt enthält. Auch die Pastoralbriefe sprechen zwar davon, dass die πίσκοποι und die διάκονοι ihrem ‘Haus’ gut ‘vorstehen’ sollen (1Tim 3.4,12), was die Kinder natürlich einschließt; aber die Kinder selber und ihre Erziehung werden nicht zum Thema gemacht. So ist Eph 6.4 der offensichtlich früheste und zunächst wohl einzige Beleg für den Gedanken einer religiösen Erziehung von Kindern in der christlichen Gemeinde bzw. in den Familien.Footnote 60 Welchen konkreten Inhalt die ‘christliche Erziehung’ hatte und wie sie sich zu den allgemein anerkannten Erziehungszielen verhielt, können wir nicht sagen; der Autor setzt voraus, dass die von ihm angeredeten Väter zur eigenständigen Umsetzung der Aufforderung imstande sind.
VII.
Schulische Bildung war in der Antike im wesentlichen eine Privat- bzw. Familienangelegenheit; daher wird es in den christlichen Familien und Gemeinden bald ein Interesse auch an der religiösen Erziehung der Kinder gegeben haben. Ein Beleg ist 1 Clem 21.6–8; zunächst wird der Kerngedanke der jüdischen Weisheit aufgenommen wird, jungen Menschen (νοι) die Erziehung (παιδϵία) zur Gottesfurcht zu vermitteln (vgl. Sir 1.27), und es heißt dann, ‘unsere Kinder’ sollten ‘der Erziehung in Christus (τῆς
ν Χριστῷ παιδϵίας) teilhaftig werden’, indem sie ‘lernen, was Demut bei Gott gilt, was reine Liebe bei Gott erreicht, wie die Furcht vor ihm gut und groß ist’. Die Kinder sollen also wissen, welche Folgen sittlich richtiges Handeln für die Gottesbeziehung hat. Dieses ‘durch die παιδϵία zu erreichende Ziel’ dürfte der im ganzen Schreiben vertretenen Position entsprechen.Footnote 61 Wieder ist über das Alter der Kinder nichts gesagtFootnote 62; aber der Kontext spricht für die Vermutung, dass sie jedenfalls noch zum ‘Haus’ gehören.
Polykarp mahnt die Adressaten seines Briefes nach Philippi, sie sollten den Kindern ‘eine Erziehung zur Gottesfurcht’ vermitteln (τὰ τκνα παιδϵύϵιν τὴν παιδϵίαν τοῦ ϕόβου τοῦ θϵοῦ, 4,2); an einen spezifischen Unterricht für Kinder denkt er wohl nicht, aber jedenfalls sollen sie das lernen, was auch für alle anderen gilt. Tertullian schreibt unter Bezug auf 1 Kor 7.14, die ‘Heiligkeit’ der Kinder verdanke sich ‘sowohl dem Vorzug der Abstammung als auch der Unterweisung der Erziehung (ex institutionis disciplina)’.Footnote 63 Tertullian nimmt offenbar an, dass es zur Zeit des Paulus einen ‘Unterricht’ im christlichen Glauben gab, und jedenfalls kennt er selber einen solchen Unterricht. Christen, so betont er, können zwar nicht als Lehrer tätig werden, da sie dann ständig mit den heidnischen Göttern bzw. Götzen in Kontakt kommen müssen; aber es sei eher möglich, die Wissenschaft (litterae) nicht zu lehren als sie nicht zu lernen,Footnote 64 und das Lernen sei nötig, da Lesen und Schreiben die Basis alles Wissens sind: ‘Wie könnten wir die weltlichen Studien (saecularia studia) verwerfen, ohne die doch die religiösen Studien (diuina) nicht zu bestehen vermögen?’Footnote 65
Kelsos wirft den Christen vor, bei ihnen seien die ‘am wenigsten gebildeten Menschen’ (ἀπαιδϵυτοτάτοι) darum bemüht, ‘Kinder und unverständige Frauen’ so zu beeinflussen, dass sie den eigenen Vater und auch die Lehrer mißachten. Origenes hält dem entgegen, die Christen seien darum bemüht, ‘auch die philosophisch Gebildeten zur Annahme unserer Gottesverehrung zu bekehren und sie von der Erhabenheit und Reinheit derselben zu überzeugen’. Die Kinder (παῖδϵς) würden nicht vom Unterricht in der Philosophie ferngehalten, sondern sie lernen, dass die wichtigsten philosophischen Lehren schon von den Propheten Gottes und von den Aposteln Jesu vorgetragen worden waren.Footnote 66
Am Rande sei hingewiesen auf die etwa zur selben Zeit entstehenden ‘apokryphen’ Kindheitserzählungen Jesu, die auch von dessen, für den betreffenden Lehrer nicht unbedingt erfreulichen, schulischen Ausbildung sprechen. Sollten sie ein Beleg für das Interesse an der Erziehung und der Bildung der Kinder sein, dann würde mit diesen skurrilen Erzählungen möglicherweise die Überlegenheit der christlichen Erziehung über die traditionelle Bildung zum Ausdruck gebracht werden.Footnote 67
VIII.
Waren Kinder, die eine christliche Erziehung (παιδϵία ν κυρίῳ) empfingen, getauft? Oder war die Taufe das Ziel eines solchen Unterrichts? Keiner der im hier untersuchten Zeitraum entstandenen Texte gibt darauf eine definitive Antwort.Footnote 68 Aber Erwägungen sind möglich: Paulus erwähnt in 1 Kor 1.14–17 seine Tauftätigkeit in Korinth und unterscheidet dabei ausdrücklich die Taufe einzelner Personen (sc. Crispus und Caius) von der Taufe eines οἶκος (‘Haus des Stephanas’). Bei der Taufe des ‘Hauses’ wurden in der Regel vermutlich alle Angehörigen getauft, auch unmündige Kinder bekamen also Anteil an der neuen christlichen Lebenspraxis des ‘Hauses’. Gewiß kam es vor, dass nicht das ganze ‘Haus’ zum Christentum ‘konvertierte’, wie die in 1 Kor 7.12–16 geschilderte Problematik zeigtFootnote 69; aber es besteht kein Grund zu der Annahme, dass Paulus von sich aus Angehörigen etwa des ‘Hauses des Stephanas’ die Taufe verweigert hatte. Der Einwand, die Mahnung in 16.15f. zur Unterordnung unter das ‘Haus’ (οἰκία) des Stephanas schließe die Möglichkeit aus, dass die Kinder mitgemeint sein könnten,Footnote 70 trägt nichts aus—die herausgehobene Stellung eines ‘Hauses’ muß natürlich nicht bedeuten, dass jedem einzelnen Angehörigen des Hauses diese Stellung zukam.Footnote 71
Aus den Angaben der Apostelgeschichte über die Taufe eines ‘Hauses’ lassen sich keine sicheren Schlüsse ziehen: Wo Lukas die Taufe nur kurz erwähnt, ist stets von einer größeren Zahl von Täuflingen die Rede,Footnote 72 und wo von der Taufe einer einzelnen Person erzählt wird, ist außer bei dem ‘äthiopischen Eunuchen’ und bei Paulus immer zugleich gesagt, auch das ‘Haus’ habe die Taufe empfangen.Footnote 73 In keiner der Tauferzählungen wird gesagt, dass jeder einzelne Täufling gläubig geworden sei und womöglich ein Bekenntnis abgelegt habe.Footnote 74 Die Texte sprechen pauschal vom οἶκος, also von der FamilieFootnote 75; Lukas deutet nicht an, dass einer der Angehörigen eines ‘Hauses’ die Taufe ablehnte oder dass sie ihm verweigert wurde.Footnote 76 Wahrscheinlich schloß also nach der Vorstellung des Autors der Apostelgeschichte die ‘Taufe eines Hauses’ die Kinder mit ein; so wird sich die in anderen Texten erwähnte Aufforderung zur Erziehung ν κυρίῳ auf die Vermittlung der Inhalte des (christlichen) Glaubens an diese Kinder beziehen.
IX.
Gibt es explizite Belege für die Taufe von Kindern in den frühen christlichen Gemeinden?Footnote 77 Wenn es richtig ist, dass in Mk 10.13–16 kein zufälliges Ereignis, sondern ein fundamentaler Konflikt geschildert wird, dann spiegelt sich im Verhalten der Jünger (v. 13b) und der Schärfe der Reaktion Jesu eine grundsätzliche Auseinandersetzung, vermutlich auf der Ebene der frühen Gemeinde. Worum ging es? Dass umstritten war, ob Kinder bei gottesdienstlichen Feiern anwesend sein durften, ist wenig wahrscheinlich—von der jüdischen Tradition und Praxis her dürfte ihre Teilnahme üblich oder zumindest möglich gewesen sein.Footnote 78 Auch die Frage, ob Kinder über Jesus belehrt werden durften oder ob ein solcher Unterricht im Gegenteil zu ‘verhindern’ sei, dürfte kaum kontrovers diskutiert worden sein. Es wird in der nachösterlichen Gemeinde auch nicht heftig darüber gestritten worden sein, ob Kinder einst den Segen Jesu hatten empfangen dürfen. Anlaß zu einem Konflikt kann hingegen sehr wohl die Frage gewesen sein, ob Kinder unabhängig von ihrem Alter zur christlichen Gemeinde gehören konnten: Durften sie auf den Namen Jesu getauft werden, oder mußte dies im Gegenteil ‘verhindert’ werden? Natürlich handelt Jesus in Mk 10.13–16 als segnende, nicht als taufende PersonFootnote 79; aber Jesus tauft in der synoptischen Überlieferung ohnehin niemals, der Taufbefehl ist in Mt 28.19f. bewußt erst dem auferstandenen Jesus in den Mund gelegt worden. Auf der Ebene der erzählten Welt des Evangeliums geht es um die Einladung und Segnung der Kinder durch Jesus, und dem wird auf der Ebene der erzählenden Gemeinde am ehesten die Zulassung der Kinder zur Taufe entsprechen. Die Eröffnung der Szene (v. 13a) verweist offenbar auf eine Neuerung, die heftige Reaktion der Jünger (V. 13b) signalisiert die Ablehnung solcher Bestrebungen.Footnote 80 Jesu scharfe Worte in v.14 und sein in v. 16 geschildertes Verhalten bringen zum Ausdruck, dass die Verheißung der Gottesherrschaft gerade auch den Kindern ‘gehört’, dass der ‘Zugang’ zu ihm nicht verhindert und also die Zugehörigkeit zur Gemeinde ihnen nicht verwehrt werden darf. Möglicherweise setzt die Gemeinde mit dem Bild des gegen den Widerstand der Jünger die Kinder annehmenden und sie segnenden Jesus zugleich einen Maßstab für ihr eigenes Verhalten Kindern gegenüber—wobei wir selbstverständlich nicht sagen können, ob die Wirklichkeit diesem Maßstab tatsächlich entsprach.Footnote 81
Zwar läßt sich eine allgemeine Praxis der Kindertaufe für die beiden ersten Jahrhunderte nicht belegen; aber es gibt, abgesehen von Mk 10.13b, auch keinen Text in dieser Zeit, der die Taufe von Kindern explizit verwirft. Angesichts der Praxis der Beschneidung und der religiösen Belehrung der Kinder im Judentum, und angesichts der Weihe von Kindern nicht nur in den Mysterien wäre das Schweigen christlicher Texte zur Frage der Zugehörigkeit von Kindern zur Gemeinde aber kaum zu erklären, wenn in christlichen Gemeinden entsprechende symbolische Handlungen gar nicht vollzogen oder christlichen Eltern die Taufe ihrer Kinder sogar ausdrücklich untersagt worden wäre. Es wäre zumindest diskutiert worden, von welchem Alter an und aufgrund welcher Voraussetzungen Kinder eines christlichen ‘Hauses’ getauft werden konnten; eine solche Diskussion hat es aber, wiederum abgesehen von Mk 10.13, offenbar nicht gegeben. So wird also die Taufe auch der Kinder beim Wechsel eines ‘Hauses’ zum Christentum eher die Regel gewesen sein, als dass sie womöglich aus Altersgründen verweigert worden wäre.Footnote 82 Vermutlich machte man auch keinen Unterschied zwischen Kindern, die in bereits christlichen Familien zur Welt kamen, und Kindern, die zu einem zum Christentum konvertierenden ‘Haus’ gehörten.Footnote 83
Hans-Josef Klauck hat gemeint, ‘das historisch Mögliche brauch[e] nicht schon das theologisch Verpflichtende zu sein’; überdies beziehe sich die moderne Debatte ja weniger auf die Kinder- als vielmehr auf die Säuglingstaufe, und ‘man müßte also für die ,Häuser’ der Apostelgeschichte nicht nur Kinder, sondern Babies postulieren, womit wir endgültig im Bereich der reinen Phantasie angelangt sind'.Footnote 84 Doch angesichts des Wechsels von παιδία in Mk 10.13 zu βρϕη in Lk 18.15 ist der erforderliche Aufwand an Phantasie vielleicht doch nicht übermäßig groß; die Frage einer ‘Altersgrenze’ bliebe überdies gültig. So läßt sich historisch über die ‘Normativität’ der Kindertaufe nicht entscheiden, wohl aber läßt sie sich für die Frühzeit der Kirche wahrscheinlich machen.Footnote 85
Den ersten eindeutigen Beleg für die Taufe kleiner Kinder bietet Tertullian; er lehnt sie ab und betont, die Amtsträger wüßten ja, dass die Taufe nicht vorschnell erfolgen darf.Footnote 86 Tertullian plädiert generell für einen Taufaufschub je nach Alter und Disposition; die Taufe kleiner Kinder gefährde die Paten, wenn diese das mit der Taufe verbundene Versprechen nicht einhalten könnten. Dazu zitiert er Jesu Wort aus Mk 10.13 (‘Hindert sie nicht, zu mir zu kommen’ Nolite illos prohibere ad me uenire), womit belegt ist, dass dieses Jesuswort zugunsten der Kindertaufe verwendet wurde.Footnote 87 Tertullians eigene Auslegung (‘Sie sollen also kommen, wenn sie herangewachsen sind, wenn sie lernen, wenn sie darüber belehrt sind, wohin sie gehen sollen; mögen sie Christen werden, wenn sie Christus zu kennen vermögen’Footnote 88) widerspricht dem in der Szene geschilderten Verhalten Jesu. Tertullian fragt ironisch: ‘Warum hat es das unschuldige Alter so eilig mit der Vergebung der Sünden?’ Er denkt also die Taufe primär von einem eher moralischen Aspekt der Sündenvergebung her, und deshalb hält er auch bei Unverheirateten einen Taufaufschub für geboten, weil diesen in ihrem Leben doch noch mancherlei Versuchungen drohten.Footnote 89 Tertullian kritisiert also eher eine gängige Praxis als dass er eine Neuerung zurückweist.Footnote 90
Die Vorstellung, die Taufe müsse möglichst spät erfolgen, um die Vergebung der nach der Taufe begangenen Sünden nicht zu gefährden, ist für die frühe Zeit nicht belegt; die Taufe wurde vollzogen als wirksames Zeichen der Zugehörigkeit zu Christus und damit zur Kirche.Footnote 91 Es hat ‘für das Alter, in dem Kinder christlicher Familien getauft wurden, bis ins vierte Jahrhundert hinein keine einheitliche Regelung’ gegeben; es sind auch ‘keine Beschreibungen oder Anweisungen für die jeweilige Erziehung getaufter und ungetaufter Kinder erhalten’.Footnote 92 Aber Cyprian, Bischof in Karthago, zitiert in seinem 253 verfaßten Brief an Bischof Fidus aus einem Synodenbeschluß, der es ausdrücklich für falsch erklärt, die Taufe der Kinder bis zum achten Tag nach der Geburt hinauszuschieben; man dürfe ‘keinem einmal geborenen Menschen Gottes Barmherzigkeit und Gnade versagen’, und auch das neugeborene Kind sei, wie alles von Gott Geschaffene, bereits vollkommen.Footnote 93 Das mag eine nur regional gültige Entscheidung gewesen sein; aber sie läßt eine theologische Reflexion erkennen. Wahrscheinlich nahmen getaufte Kinder auch unmittelbar am Abendmahl teil, sobald sie alt genug waren ‘to be physically capable of eating the bread and drinking the wine’.Footnote 94
X.
Das 20. Jahrhundert war als ‘das Jahrhundert des Kindes’ erhofft worden.Footnote 95 Dass sich diese Erwartung erfüllte, wird man nicht sagen dürfen. Aber es wuchs zumindest das theoretische Wissen, dass die Kindheit eine eigene schützenswerte Phase im Leben des Menschen ist und dass die Gesellschaft für die Sicherung des eigenen Wertes der Kinder einzutreten hat. Ähnliches scheint auch für die Frühzeit des Christentums gegolten zu haben; als sich die Gemeinden in der Welt ‘einzurichten’ begannen, wuchs ihr Interesse an einer ‘christlichen’ Erziehung der Kinder, möglicherweise auch unabhängig von der Frage der Taufe. Eine in der Welt existierende Kirche mußte an die Zukunft denken, und solches Denken verband und verbindet sich naturgemäß mit der Sorge um die Kinder. Der Aufruf des Epheserbriefes zur παιδϵία καὶ νουθϵσία κυρίου, verbunden mit dem Hinweis auf das biblische Gebot der Elternverehrung und der Verheißung des ‘langen Lebens auf Erden’, nimmt dabei in der ‘Bildungsgeschichte’ des frühen Christentums offenbar so etwas wie eine Schlüsselrolle ein.