1. Zur Form und Funktion eines Summariums—Mk 1.32–34 als Beispiel
32 Als es aber Abend geworden war, als die Sonne untergegangen war, brachten sie alle (πάντας) zu ihm, denen es schlecht ging und die dämonisch besessen waren.
33 Und es war die ganze (ὅλη) Stadt versammelt vor der Tür.
34 Und er heilte viele (πολλούς), denen es schlecht ging—(die) mit verschiedenartigen Krankheiten—und trieb viele (πολλά) Dämonen aus und ließ die Dämonen nicht reden, denn sie kannten ihn.
Mk 1.32–34 wird in der Markus-Exegese gemeinhin als ein sog. Sammelbericht oder als Summarium bzw. ‘summary’Footnote 1 oder ‘sommaire’Footnote 2 bezeichnet. Es handelt sich um eine summarische Zusammenfassung des Wunderwirkens Jesu:Footnote 3 Jesus heilt viele Kranke und Besessene auf einmal. Adela Yarbro Collins versteht den Textabschnitt in ihrem Markus-Kommentar von 2007 zuletzt als ein ‘editorial summary’,Footnote 4 d.h. sie bewertet ihn als eine kurze editorische Zusammenfassung und mißt ihm so faktisch weder literarisch noch theologisch eine eigenständige Bedeutung bei.Footnote 5 Ich möchte eine andere Bewertung des Textes vorschlagen, die die spezifische literarische und theologische Bedeutung der Summarien in den Blick nimmt, und beginne mit einer eigenen Betrachtung des ersten Summariums.
Das Summarium in 1.32–34 hat zunächst eine anaphorische Erzählfunktion. Denn die Themen ‘Exorzismus und Krankenheilung’ wurden bereits früher in Kapitel 1 eingeführt: In Mk 1.23–27 lehrt Jesus am ersten Tag seines Wirkens in der Synagoge in Kapernaum und fungiert hier als Exorzist. Unmittelbar danach, in 1.29–31, wirkt er als ein Wunderheiler, indem er—immer noch in Kapernaum weilend—im Haus des Petrus dessen Schwiegermutter vom Fieber heilt. Im Summarium werden die Erzählmotive von Krankheit (1.30) und dämonischer Besessenheit (1.23) nun terminologisch neu gefasst und dabei gewissermaßen auch abstrahiert: Denn nun ist verallgemeinernd von Dämonen und Menschen, ‘denen es schlecht ging’, die Rede. In 1.30 war die Krankheit der Schwiegermutter des Petrus konkret als πυρέσσουσα bezeichnet, in 1.32 spricht Markus von τούς κακῶς ἔχοντας. Wurde die dämonische Besessenheit in 1.23 als ἐν πνεύματι ἀκαϑάρτῳ gefasst, so heißen die Besessenen in 1.32 hingegen τούς δαιμονιζομένους. So lässt sich im Summarium in 1.32–34 beides beobachten: die Wiederaufnahme oder Rekapitulation von bereits bekannten Erzählmotiven und deren sprachlich-abstrahierende Neuformulierung. Das Summarium fungiert in narrativer Hinsicht also als variierende Wiederholung, die hyperbolische Züge trägt.Footnote 6
Über diese ersten Textwahrnehmungen führen die Beobachtungen hinaus, die Ulrich Wendel 1998 zu den sprachlichen und grammatischen Formmerkmalen für synoptische Summarien insgesamt gemacht hat. Sie finden sich auch in Mk 1.32–34 und weisen den Text damit der Textgruppe der Summarien zu, ja sie machen unseren Ausgangstext sogar zu einem prototypischen markinischen Summarium.Footnote 7
Bevor wir den Text diachron betrachten (s.u. 2.), zunächst weiter zur synchronen Textbeschreibung: Mk 1.32–34 ist ein eigenständiger Textabschnitt, der eine in sich abgeschlossene literarische Einheit darstellt. Denn der Text ist durch Zeit- und Ortsangaben formal-literarisch von seinem Mikrokontext nach vorne (1.31) und nach hinten (1.35)Footnote 8 abgrenzbar: Die im Vergleich zur Gesamtlänge des Textes relativ ausführliche einleitende Wendung in V. 32—‘als es aber Abend geworden war, als die Sonne untergegangen war’—markiert den Einsatzpunkt der summarischen Erzählung und grenzt V. 32 von der vorausgehenden Heilungsgeschichte ab. Nach hinten wird der Textabschnitt durch das Schweigegebot in V. 34 sowie durch eine neue Zeit- und Ortsangabe, die Jesu Aufbruch aus Kapernaum in V. 35 einleitet, abgegrenzt: ‘Und früh, als es noch dunkel war…’.
Besonders interessant sind die Zeitangaben in V. 32 und V. 35, die an einander anknüpfen, mehr noch: ‘Die zweite erläutert die erste und malt sie aus’:Footnote 9
Mit Hilfe dieser chronologischen Angaben historisiert Markus den Erzählzusammenhang in Kapitel 1.Footnote 10 Zugleich aber dramatisiert er die Erzählung, denn er stellt vor Augen, wie Jesus selbst in der Nacht noch als Wunderheiler und Exorzist tätig ist. Dabei findet zumindest die Erzählfolge in Mk 1.29–38 an einem Tag und an einem Ort statt:Footnote 11 die Heilung der Schwiegermutter des Petrus (1.29–31), die im Summarium erzählte Heilung vieler Kranker und Besessener (1.32–34) sowie schließlich der Aufbruch Jesu aus Kapernaum (1.35–38). Wilhelm Egger (1976) hält gerade die literarische Abgrenzbarkeit für ein grundsätzliches Merkmal der markinischen Summarien.Footnote 12 Er betont bei seiner Analyse von Mk 1.32–34 dann aber vor allem, wie hier die Zeit- und Ortsangaben den Summarium-Text in den erzählerischen Zusammenhang der Kapernaum-Überlieferungen einbetten.Footnote 13 Darauf ist nun unter 2. zurückzukommen.
2. Zur Herkunft und literarischen Bewertung von Mk 1.32–34—historische Reminiszenz oder redaktionelle Bildung?
Im Unterschied zu den vorausgehenden Textabschnitten erzählt Markus in 1.32–34 mit generalisierenden Angaben über Jesu Wunderwirken: Er nennt keinen Individualfall einer spezifischen Krankenheilung oder eines Exorzismus, sondern berichtet von einer Mehrzahl von Heilungen und Exorzismen und verwendet dazu die adjektivischen Quantoren πάντα, πολλοί und πολλά. Diese Quantoren stellen Jesu Wundertätigkeit universalisierend dar, was besonders in V. 32 (πάντα) und V. 33 (ὅλη) deutlich wird: ‘…sie brachten alle zu ihm… Und es war die ganze Stadt versammelt’. Trotz Generalisierung und Universalisierung hält Markus jedoch insgesamt an einer eher ‘realistischen’ Darstellungsweise fest, die dann erst im matthäischen Paralleltext (Mt 8.16) unscharf wird: Während bei Markus zwar ‘alle’ kommen, doch nur ‘viele’ geheilt werden, werden in Mt 8.16 schlichtweg ‘alle’ Kranken geheilt.
Die summarisch erzählten Heilungen und Exorzismen finden ‘vor der Tür’ (1.33: πρὸς τὴν ϑύραν) statt—der Erzähllogik zufolge ist offenbar die Tür des Hauses Petri gemeint. Doch ist hier wohl kaum mit einer historischen Reminiszenz oder mit dem Vorliegen einer Einzeltradition zu rechnen. Wenn wir zudem wie Daniel Marguerat die Ortsangaben innerhalb von Mk 1.21–34 symbolisch verstehen,Footnote 14 dann fällt auch von hierher ein besonderes Licht auf die Kompositionstechnik, mit der Markus die Perikopenfolge in Kapitel 1 anordnet. Warum aber schafft er plötzlich in 1.32–34 diese Generalisierung, nachdem er zuvor individuelle Heilungen geschildert hatte? Hat Markus—wie Egger andeutet—hier speziell ‘petrinische Erinnerung’ gekannt und verarbeitet?Footnote 15 Eine andere Erklärung scheint plausibler zu sein: Offensichtlich lag Markus in 1.32–34 gerade keine Überlieferung vor, so dass er vom Wunderwirken Jesu ‘nur’ generalisierend sprechen kann. Wie kommt es zu diesem Urteil? Es wertet die Beobachtungen zur Semantik weiter aus: Besonders πᾶς und πολύς in V. 32 und 34 sind nämlich—neben z.B. φέρω in V. 32—sog. ‘markinische Vorzugswörter’.Footnote 16 Sie gehen also auf Markus selbst zurück. So zeigt Mk 1.32–34 sprachlich-philologisch eine redaktionelle Prägung durch Markus an, während—wie schon Rudolf Bultmann gezeigt hat—die Individualberichte über den Exorzismus in Mk 1.21–28 und die Krankenheilung in 1.29–31 zumindest in ihrem Grundbestand auf Traditionen, d.h. vormarkinische Überlieferungen, zurückgehen.Footnote 17 Dass das Summarium in 1.32–34 redaktionell geprägt ist, zeigt sich dann auch thematisch an dem für die markinische Evangelien-Konzeption typischen Schweigegebot an die Dämonen in V. 34. Hier stimme ich in der Tat Joachim Gnilka zu, der vermutet, dass die ganze Erzähleinheit in 1.32–34 ‘vom Evangelisten gestaltet ist’Footnote 18 und nicht vormarkinischen Ursprungs ist.
Dies Urteil hat allerdings in der Forschung zu einer Unterbewertung der Summarien geführt und daher auch selbst Kritik hervorgerufen. Folgen wir nämlich zunächst Gnilka, Bultmann Footnote 19 oder der anfangs zitierten Adela Collins darin, Mk 1.32–34 für eine solche ‘redaktionelle Bildung’ zu halten, so laufen wir Gefahr, die Summarien lediglich als sekundäre Elemente der Evangelien-Erzählung abzuwerten und darauf zu beschränken, verschiedene Einzelüberlieferungen redaktionell zu verknüpfen. Demnach wären die Summarien für die literaturgeschichtliche Entstehung der Evangelien-Erzählung des Markus völlig unbedeutend,Footnote 20 wie ja auch Gnilka selbst Mk 1.32–34 als ‘blasse und allgemeine Schilderung’ versteht.Footnote 21
Dagegen wendet sich zu recht Klaus Berger. Berger hat die literarische Geringschätzung der Summarien kritisiert und aus diesem Grunde zugleich literarkritische Analysen dieser Texte abgelehnt.Footnote 22 Seiner Meinung nach sind Summarien vielmehr ‘Basis-Berichte’, da sie die ‘entscheidende Fülle des Wirkens’ bieten, denn sie ‘sind die Grundlage der Erzählung, aus der sich die Einzelszenen wie Schaumkronen aus dem Meer erheben’.Footnote 23 Auch Egger meint, der Sammelbericht sei ‘mehr… als nur eine Verallgemeinerung von Heilungs- und Austreibungsgeschichten’.Footnote 24Egger setzt aber—im Unterschied zu Berger—bei literarkritischen Fragen an und will in Mk 1.32–34 einen ‘traditionellen Bericht’Footnote 25 erkennen. Vor allem die oben schon erwähnte starke temporale Verknüpfung mit dem Mikrokontext in Kapitel 1 wertet Egger als Hinweis darauf, dass Mk 1.32–34 nur zusammen mit 1.29–31 überliefert worden sein könne.Footnote 26
Nun meine ich weiterhin—gegen Egger—und mit der Mehrheit der Exegeten, dass Mk 1.32–34 auf die markinische Redaktion zurückzuführen sei. Ich möchte dies Urteil aber nicht so bewerten, dass die Summarien auf redaktionelle Überleitungen oder ‘editorial summaries’ reduziert würden. Berger hat ja zu recht das Augenmerk auf die eigenständige literarische Form des Summariums gelenkt. Und Egger betont ebenfalls zu recht dessen spezifische narrative Funktion innerhalb von Mk 1. Ich stimme beiden Exegeten darin zu, dass die Summarien viel stärker als eigenständige literarisch und theologisch bedeutsame Textgruppe wahrgenommen werden müssen. Die formgeschichtliche und literarkritische Analyse allein ermöglichen diese Sicht auf die Summarien aber nicht. Vielmehr muss neben die Betrachtung der Summarien auch die angemessene Beachtung der literarischen Strategie ihres Verfassers treten. Denn der Evangelist Markus ist keineswegs nur ‘Sammler und Redaktor’,Footnote 27 wie die Formgeschichte und letztlich auch die Redaktionsgeschichte annahmen. Und obwohl Werner Georg Kümmel meinte, die ‘redaktionsgeschichtliche Forschung’ habe erkannt, dass Markus ‘ein die Tradition bewύt gestaltender Schriftsteller’ sei,Footnote 28 bleiben beim redaktionsgeschichtlichen approach—so etwa in Dieter Lührmanns Markus-Kommentar—die Summarien faktisch deutlich unterbelichtet.Footnote 29
3. Zur literarischen Strategie des Verfassers in Mk 1.32–34
Und damit bin ich bei meiner These: Gerade bei der Konzeption von Summarien weist sich Markus als selbständiger Schriftsteller aus, denn er schreibt seine Geschichte nicht nur auf, sondern er ‘schreibt sie fort’.Footnote 30
Was ist an dieser These neu, und was leistet sie für die Interpretation des Markus-Evangeliums? Die jüngste Erzähl-Forschung hat das Augenmerk auf Markus als Erzähler gelenkt und damit gewissermaßen die entstandene Diskrepanz zwischen dem Redaktor sowie dem Erzähler, Schriftsteller oder Autor ‘Markus’ zu überwinden gesucht (z.B. Willem S. Vorster).Footnote 31 Allerdings führt diese Erkenntnis—soweit ich sehe—bislang nicht dazu, die Summarien als wichtige literarische und theologische Elemente der Evangelien-Erzählung zu betrachten. Ein ähnliches Desiderat ist—in Fortsetzung der Erzähl-Forschung—im sog. reader-response-criticism (z.B. Bas M. F. van Iersel; Robert M. Fowler)Footnote 32 zu beobachten: Hier wird die narrative Interaktion von Autor und Leser untersucht, nicht aber nach der spezifischen literarischen Funktion der Summarien gefragt. Und in den Feldern von oral/aural criticism oder zuletzt auch performance criticism wird zwar die narrative Funktion von Summarien bei der Rezeption der Evangelien-Erzählung durch die Zuhörerschaft (audience) mitbedacht.Footnote 33 Allerdings ziehen die beteiligten Exegeten aus diesen Beobachtungen keine oder nur wenig Rückschlüsse auf das Autor-Profil des Evangelisten Markus.Footnote 34 Schließlich lassen auch solche Textanalysen, die das sozial-historische Profil der markinischen Hörer- und Leserschaft zu rekonstruieren suchen (Hendrika Nicoline Roskam),Footnote 35 teils speziell aus einer post colonial perspective (Richard Horsley),Footnote 36 den Aussagehalt und das literarische Profil der Summarien als Verdichtung der Evangelien-Erzählung unberücksichtigt.
Doch erweisen sich die Summarien gerade, weil sie eine bestimmte stützende und strukturierende Funktion im Erzählduktus haben, nicht nur für die Analyse der Autor-Hörer- oder Autor-Leser-Relation als relevant. Eine literaturgeschichtlich geschärfte Sicht auf die Textgruppe der Summarien hilft daher der Markus-Exegese, den Evangelisten Markus bei seiner Arbeit am literarischen Profil und der theologischen Deutung seiner Evangelien-Erzählung konturiert als Autor und Schriftsteller hervortreten zu lassen. Mit der Frage nach der theologischen Tendenz und der literarischen Struktur der Evangelienschrift kommen wir letztlich auch der seit William Wrede offenen Frage nach dem ‘Messiasgeheimnis’Footnote 37 im Markus-Evangelium auf die Spur.
Zunächst dient ein Summarium der HistorisierungFootnote 38 und—wie Martin Dibelius meinte—der ‘Verbreiterung’ der Erzählung, durch die die ‘Taten Jesu… ins Typische’ erhoben warden.Footnote 39 So hat Mk 1.32–34 nicht nur eine anaphorische Erzählfunktion, indem die zuvor geschilderten Individualfälle nun rekapituliert werden. Vielmehr erweckt Markus ‘den Eindruck eines umfassenden Geschehens, indem er zwischen die Einzelberichte… Sammelberichte einfügt’.Footnote 40 Markus gestaltet also maßgeblich durch 1.32–34 den Erzählzusammenhang in Kapitel 1 aus. Er nutzt aber die Summarien-Form nicht nur historisierend-narrativ, sondern auch zu einer theologischen Reflexion. Das wird an einem Vergleich der sog. ‘Schweigegebote’ in Mk 1.25, 1.34 und 3.12 deutlich:
Im Bericht über den Exorzismus in der Synagoge in Kapernaum in Mk 1.23–28 bedroht Jesus den unreinen Geist, zu verstummen und aus dem Menschen auszufahren (V. 25). Unklar ist hier, wie die Wendung φιμώϑητι καὶ ἔξελϑε ἐξ αὐτοῦ zu deuten sei: Gerd Theißen versteht den Ausruf Jesu als Teil der exorzistischen Handlung und wertet das ‘Fehlen exorzistischer Rituale’, wie sie etwa bei Josephus über den jüdischen Exorzisten Eleazar berichtet werden (ant 8.46–48), als ein Charakteristikum ‘für die Exorzismen Jesu’.Footnote 41Bernd Kollmann hingegen sieht keine direkten semantischen Parallelen zu der Wendung φιμώϑητι in der ‘traditionellen antiken Exorzismustopik’,Footnote 42 die der in Mk 1.25 geschilderten Situation analog wären. Er meint daher, Mk 1.25 reagiere auf die ἅγιος τοῦ ϑεοῦ-Proklamation in V. 24 und stelle insofern bereits eines der für Markus typischen Schweigegebote dar.Footnote 43Joel Marcus hingegen deutet sowohl die Proklamation in 1.24 als auch den Ausruf Jesu in 1.25 vor dem Hintergrund eschatologischer und apokalyptischer Kampfterminologie.Footnote 44
Wichtig scheint mir indes, die Entwicklung des Motivs von Mk 1.24f. über 1.34 zu 3.11f. zu verfolgen. In 1.12 hat Markus das Schweigemotiv wohl aus dem vormarkinischen Exorzismus-Bericht übernommen.Footnote 45 Im Vergleich dazu erscheint das letzte Schweigegebot, das an die Dämonen in 3.12 ergeht, als deutliche motivische Weiterentwicklung:Footnote 46 Denn am Schluss des Heilungs-Summariums in 3.10–12 bekennen die ‘unreinen Geister’ nun noch präziser als in 1.24 Jesus als den ‘Sohn Gottes’ (3.11), woraufhin Jesus ihnen noch deutlicher als zuvor das Gebot, ihn nicht offenbar zu machen, erteilt.Footnote 47 In Mk 1.34 löst Markus also das Schweigemotiv aus dem konkreten Zusammenhang eines Exorzismus (1.25) und transformiert es zu einem Schweigegebot. In 3.12 geht Markus darüber noch hinaus, indem er nun das Schweigegebot konkret mit der Gottes-Sohn-Erkenntnis der Dämonen in Zusammenhang bringt. So liegt in Mk 1.34 eine theologische Schaltstelle vor, an der Markus seine Messiasgeheimnistheorie theologisch selbständig zu entwickeln beginnt. Es wäre zu fragen, ob Markus, indem er die Schweigeformel hier zu einer theologischen Deutungskategorie macht, letztlich literarisch—um mit Walter Benjamin zu sprechen—die mit den Exorzismen verbundene ‘Magie liquidiert’.Footnote 48
4. Die Summarien in Mk 1–6 als eigenständige Textgruppe
Ich gehe nun von dem ersten und prototypischen Summarium weiter zur Textgruppe der markinischen Summarien insgesamt.
Mk 1.32–34 ist das erste von Markus erzählte Summarium und auch insofern prototypisch.Footnote 49 Entgegen der Meinung einiger ExegetenFootnote 50 lässt sich Mk 1.14–15, der Bericht über den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa, nicht als ein Summarium verstehen.Footnote 51 Zwar wird auch in Mk 1.14–15 ein summarischer Erzählstil erkennbar, doch hat der Abschnitt keine anaphorische Erzählfunktion. Vielmehr werden hier unverzichtbare, weil für das Markus-Evangelium singuläre Informationen geliefert: Markus begründet den Beginn der Evangeliumsverkündigung Jesu (Mk 1.14) und teilt zugleich den Inhalt der Predigt Jesu (Mk 1.15) mit, den wir sonst nur aus Q 10.9.11 erschließen können.Footnote 52 Ich bestimme Mk 1.14–15 daher nicht als ein Summarium, sondern besser als eine Verkündigungs-Epitome,Footnote 53 mit der Markus gleichsam exzerptförmig das Thema von Jesu Auftreten und Wirken benennt.Footnote 54 So findet sich im Markus-Evangelium einerseits die Textgruppe der Epitome (1.14f.; 8.31ff. s.u.) und andererseits die davon zu unterscheidende Textgruppe der Summarien.Footnote 55
Wie aber läßt sich die Textgruppe der markinischen Summarien insgesamt definieren und als spezifische Form erfassen? Ich gehe bei der nun folgenden Definition von der Kriteriologie aus, die Dietmar Mathias (1989) entwickelt hat. Nach Mathias sind Summarien ‘das Resümee oder Fazit aus einer Summe von Einzelereignissen’, die durch ‘Verallgemeinerung und Typisierung der Einzelberichte’ zustande kommt. Sie ‘erfüllen eine redaktionelle Funktion durch die Gliederung größerer Zusammenhänge’ und sind ‘am ehesten durch die Gattungsbezeichnung “konstruierter Bericht” erfaßt…’.Footnote 56 Demnach lassen sich insgesamt drei wichtige Kriterien festhalten, anhand derer die markinischen Summarien identifiziert werden können: Markinische Summarien sind abgrenzbare literarische Text-Einheiten,Footnote 57die über eine bloße redaktionelle Bearbeitung oder Erweiterung von Überlieferungen hinausgehen Footnote 58und deren Inhalt eine summarische Zusammenfassung des Wirkens Jesu ist.Footnote 59Es handelt sich um personenzentrierte Kurztexte mit einer erhöhten Relevanz für die literarische und theologische Modellierung der Person Jesu.
Doch wo im Markus-Evangelium finden sich Summarien, die dieser Definition entsprechen? Die folgende Übersicht über die Forschungsgeschichte der letzten ca. 35 Jahre zeigt, dass sich die Markus-Exegeten nicht einig sind über die genaue Anzahl und das Vorkommen von ‘Summarien’.
Die erkennbare Uneinigkeit rührt überwiegend daher, dass unklar bleibt, wie die markinischen Summarien in Abgrenzung von verwandten Textformen zu klassifizieren und zu typologisieren seien:Footnote 65 Mir scheint notwendig, dass Summarien oder Sammelberichte erstens von kurzen summarischen Notizen (z.B. Mk 1.39; 2.13; 6.6b),Footnote 66 zweitens von Epitomai (z.B. Mk 1.14f.), drittens von Periochai und viertens von Geschichtsabrissen unterschieden werden. Das Markus-Evangelium enthält weder Periochai Footnote 67 noch sog. Geschichtssummarien,Footnote 68 die für Teile der Apostelgeschichte (z.B. Apg 7.2bff.; 13.17–25)Footnote 69 und z.B. für die GeschichtspsalmenFootnote 70 charakteristisch sind—eine Textform, die treffender als ‘Geschichtsabrisse’ zu bezeichnen ware.Footnote 71
Wenn wir also von der oben formulierten konzisen literarischen Definition eines ‘Summariums’ ausgehen, so lassen sich neben Mk 1.32–34Footnote 72 nur 3.7–12Footnote 73 und 6.54–56Footnote 74 als Summarien, d.h. als generalisierende Zusammenfassungen des Wirkens Jesu oder besser als ‘konstruierte Berichte’, verstehen.Footnote 75 Es handelt sich bei diesen drei Texten ausschließlich um Summarien über Jesu Wunderwirken als Heiler und Exorzist. Es finden sich hingegen keine Summarien über Naturwunder,Footnote 76 so etwa über Jesu Herrschaft über Wind und Meer (Mk 4.35–41; 6.45–52) oder über Speisungswunder (Mk 6.32–44; 8.1–9).
Den drei Summarien-Texten in Mk 1. 3 und 6 ist gemeinsam, dass sie eigenständige literarische Einheiten (Mk 1.32–34) darstellen oder sich innerhalb dieser (Mk 3.7–12; 6.54–56) befinden. Zudem haben sie jeweils eine anaphorische Funktion: Mk 3.10–12 rekapituliert wiederum die vorausgehenden Heilungen in Mk 2.1–12 und 3.1–5. Und Mk 6.56 greift sogar vier konkrete Begriffe aus der Geschichte über die Heilung der blutflüssigen Frau in Mk 5.23–28 auf (κἂν, ἅπτομαι, ἱμάτιον, σῴζω). Doch neben dieser Wiederaufnahme von bekannten Erzählmotiven bringen die Summarien in Mk 3 und 6 auch eine gewisse narrative Steigerung zum Ausdruck: Das Schweigebot in Mk 3.12 geht über die vorausgehenden Schweigemotive (1.25, 34) hinaus. Und in Mk 6.56 geschehen die Heilungen in maximaler Öffentlichkeit (ἐν ταῖς ἀγοραῖς). Sie setzen nun, über die Heilung der Blutflüssigen hinausgehend, lediglich die Berührung des Saumes von Jesu Gewand voraus, wodurch Jesu Vollmacht als Wundertäter noch einmal gesteigert wird.Footnote 77
Offenbar liegt am Ende von Kapitel 6 also der Akzent auf dem Wunderheiler Jesus,Footnote 78 so dass weitere Exorzismen hier nicht mehr erwähnt werden. Doch weisen die drei Summarien in Kapitel 1. 3 und 6 im Detail auch einige Unterschiede auf.Footnote 79 Markus also hat die Summarien-Form nicht standardisiert. Er bleibt vielmehr literarisch flexibel und schafft keine Stereotypen.
5. Die markinischen Summarien als makrotextuelle Scharniere und narratives emplotment
Besonders auffallend und erklärungsbedürftig ist schließlich der Umstand, dass Markus die Gestaltung der Summarien auf den ersten Teil seines Evangeliums, der in Galiläa stattfindet, noch genauer: auf die Kapitel 1–6, beschränkt.Footnote 80 Es finden sich hingegen weder Summarien in den Jerusalem-Überlieferungen, d.h. in den Kapiteln 11–16, noch in den Abschnitten, in denen Jesus sich vermehrt auch außerhalb von Galiläa aufhält (Mk 7–10). Diese Beobachtung verlangt nach einer Deutung. Ich versuche in dreifacher Hinsicht, eine solche Deutung zu geben, nämlich überlieferungsgeschichtlich, narratologisch und schließlich auch theologisch.
[1] Zunächst zu den überlieferungsgeschichtlichen Aspekten: Martin Dibelius hat beobachtet, wie Lukas besonders in Apostelgeschichte 1–5 sog. Gemeindesummarien (z.B. Apg 2.42–47; 4.32–35; 5.12–16)Footnote 81 in die Überlieferungen von der Jerusalemer Urgemeinde einfügt, um damit offenbar die ihm vorliegende schlechte, weil unzusammenhängende Überlieferung zu kompensieren: ‘Denn eine fortlaufende Erzählung von den Schicksalen der jerusalemischen Gemeinde gibt es überhaupt nicht…’ und ist ‘dem Verfasser weder überliefert noch von ihm gestaltet worden’.Footnote 82 Ähnlich begrenzt und unzusammenhängend sind für Markus offenbar die Galiläa-Überlieferungen. Demnach täte sich—um noch einmal mit Dibelius zu sprechen—das pragmatische Bestreben des Autors der Apostelgeschichte wie des Markusevangeliums ‘nur in den verschiedenen Sammelberichten kund, die, zwischen die einzelnen Szenen und Erzählungen gestellt, Überleitungen und Verbreiterungen schaffen und so das in jenen Geschichten berichtete Einzelne als Spezialfall des hier geschilderten Zuständlichen erscheinen lassen’.Footnote 83 So gesehen wird Markus—wohl aus Mangel an einer zusammenhängenden vormarkinischen Galiläa-Überlieferung—der Erfinder einer Kompositionstechnik, die besonders erfolgreich von Lukas adaptiert wird.Footnote 84 Und wenn—wie Dibelius meint—gerade die Komposition von Summarien in der Apostelgeschichte Lukas zum ‘Schriftsteller’ macht, muss Analoges auch für Markus gelten.Footnote 85
[2] Markus liegt da, wo er über Jesu Wirken in Galiläa erzählt, kein kausal verknüpfter vormarkinischer Erzählzusammenhang vor, den er weiter ausgestalten könnte. Das ist in der Passionsgeschichte in Mk 14–16 deutlich anders: Diese beginnt vermutlich mit dem Tötungsplan des Hohen Rates (Mk 14.1f.) und endet mit der Erzählung vom leeren Grab (Mk 16.1–8). Die Passionsgeschichte hat daher—narratologisch gesprochen—einen plot, d.h. eine fortschreitende dramatische Handlung.Footnote 86 Während Markus mit der Passionsüberlieferung bereits eine Erzählung mit logischen Kausalverknüpfungen, also ein plot, vorgegeben ist, muss er einen solchen Erzählzusammenhang in Mk 1–6 selbst erst herstellen.Footnote 87 Dieser Vorgang lässt sich nach Martinez/Scheffel als emplotment bezeichnen, nämlich als ‘Erklärung durch formale Schlußfolgerung und Erklärung durch ideologische Implikation’.Footnote 88 Als ein solches emplotment hatte Hayden White die narrative Strategie innerhalb von historiographischen Werken definiert, die die erzählte Geschichte mit Sinn (meaning) versehen soll:Footnote 89 ‘Providing the “meaning” of a story by identifying the kind of story that has been told is called explanation by emplotment’.Footnote 90 Das emplotment folgt gleichsam ‘einer anthropologisch bedingten Grunddisposition des Menschen als eines “pattern-building-animal”.’Footnote 91
Auch Markus agiert als ‘pattern-building-author’ und schafft ein solches emplotment in zweifacher Weise: Mit dem Hinweis auf den Tötungsplan in Mk 3.6 deutet er die Konsequenzen des Wirkens Jesu in Galiläa und verknüpft den ersten Teil seines Evangeliums mit dem plot der Passionsgeschichte.Footnote 92 Mit den Summarien in Kapitel 1, 3 und 6 nimmt Markus ein mehrdimensionales emplotment vor: Er gliedert die Kapitel 1–6 makro-textuell, indem er die Summarien sachlich und geschichtlich gleichsam als Scharniere zwischen den Einzelerzählungen positioniert.Footnote 93 Daneben präsentiert er mit den Summarien die essentials des Erzählten und deutet die Erzählung, indem er sie summiert und resümiert: Er wiederholt das in den Individualberichten Erzählte und verfolgt offenbar damit auch eine didaktische Intention: Dem Hörer oder Leser sollen sich besonders Jesu Wirken als Wunderheiler und Exorzist und damit ein durchaus erfolgreicher Aspekt des Wirkens Jesu einprägen.Footnote 94 Wenn wir davon ausgehen, dass die Evangelienschrift zunächst auditiv rezipiert wurde, helfen die Summarien nicht nur dabei, die essentials der Erzählung zu memorieren, sondern auch den Erzählzusammenhang zu erfassen.Footnote 95 So zielen die Summarien faktisch darauf, wichtige Aspekte des Wirkens Jesu zu einer generalisierenden story zu machen, die dann auch vom Hörer oder Leser jenseits von an Zeit, Ort und Personen gebundenen Einzelereignissen mnemohistorisch verstanden werden kann:Footnote 96 Markus generiert hier eine ‘hot memory’.Footnote 97 Zugleich deuten die Summarien die von Markus erzählte Geschichte und gewähren auch Einblick in die ‘ideologischen Implikationen’, die seiner Evangelienschreibung zugrundeliegen: Hörer und Leser außerhalb Galiläas sollen den Erzählzusammenhang verstehen und die essentials memorieren können.
Doch warum begrenzt Markus die Summarien auf die Kapitel 1–6? In Mk 8–10 scheinen an die Stelle der Summarien nun die Leidensweissagungen Jesu zu treten (Mk 8.31; 9.31; 10.32–34). Auch sie gliedern die Erzählung makro-textuell und haben, indem sie zweimal wiederholt werden, eine didaktische Funktion.Footnote 98 Im Unterschied zu den Summarien in Mk 1–6 greift Markus mit den Leidensweissagungen jedoch nicht anaphorisch auf bereits Erzähltes zurück, sondern exzerpiert hier kataphorisch Teile des frühchristlichen Kerygmas, wie wir es vor allem aus 1 Kor 15.3b-5 kennen: So sind die Leidensweissagungen in Hinsicht auf ihre literarische Funktion am ehesten mit der Verkündigungs-Epitome in Mk 1.14f. zu vergleichen und dann am besten als Passions-Epitome zu bezeichnen.
Mit der Konzeption seiner Summarien ist Markus der Erfinder einer Textgruppe, die von den Seitenreferenten Matthäus und Lukas rezipiert, z.T. auch literarisch ausgebaut wird. Matthäus und Lukas führen Markus in der Komposition und Anordnung der Summarien weitgehend fort: Matthäus folgt der markinischen Vorlage durchgängig, nimmt aber auch Umstellungen vor und bearbeitet auch darüber hinaus die ihm vorliegenden Summarien redaktionell, verdoppelt sie teilweise sogar.Footnote 99 Auch Lukas greift—mit Ausnahme in seiner sog. Auslassung (Mk 6.45–8.26)—die markinischen Summarien auf.Footnote 100 Zugleich hat er—wohl stärker als Matthäus—‘die summarische Form als eigenständige Größe wahrgenommen und verarbeitet’.Footnote 101 Dies zeigt sich nicht nur, wie schon gesehen, in Apg 1–5, sondern auch bereits innerhalb des Lukas-Evangeliums (z.B. Lk 4.31–44; 24.53).Footnote 102
Interessanterweise verzichtet das Johannes-Evangelium vollständig auf Summarien. Es wäre weiterführend zu fragen, ob Johannes sowie ein späterer Redaktor diesen Mangel an einer übergreifenden und generalisierenden Darstellung des Wunderwirkens Jesu, wie er sich bei Markus findet, im ersten und zweiten sog. Epilog in Joh 20.30f. und Joh 21.25 selbst sehen und reflektieren:Footnote 103 ‘Gewiß tat Jesus viele und andere (πολλὰ… καὶ ἄλλα) Zeichen vor [seinen] Jüngern…’ (Joh 20). ‘Es gibt aber auch vieles Andere (καὶ ἄλλα πολλὰ…), was Jesus tat…’ (Joh 21).
Die markinischen Summarien sind also als eine spezifische literarische Leistung des Autors und Schriftstellers Markus zu würdigen. Das wird auch daran deutlich, dass Matthäus und Lukas diese Textgruppe rezipieren und ausbauen. Dem für die weitere Auslegungsgeschichte prägenden Diktum Johann Gottfried Herders: ‘Kein Evangelium hat so wenig Schriftstellerisches und so viel lebendigen Laut eines Erzählers wie dieses’,Footnote 104 können wir uns also nicht einfach anschließen.Footnote 105 Denn gerade die Summarien zeigen die schriftstellerische Leistung des Evangelisten Markus.
[3] Wichtig ist weiterhin die eigenständige theologische Funktion der Summarien, die ich abschließend skizzieren möchte. Mit Mk 1.32–34 und 3.10–12 entwickelt Markus wichtige Aspekte seiner Messiasgeheimnistheorie: Weil die Dämonen die einzigen Wesen sind, die zwischen der Taufe Jesu (Mk 1.9; 1.1) und dem Bekenntnis des Petrus (Mk 8.29) die Messianität Jesu erkennen,Footnote 106 müssen sie zum Schweigen gebracht werden. Auf der Erzählebene ist dieses Schweigen übrigens durchaus erfolgreich, denn die ‘Dämonen übertreten das Gebot nicht’.Footnote 107
Mit dem Summarium in Kapitel 6 schließlich steigert Markus die Wundertätigkeit Jesu im Blick auf das Wunderwirken und den Grad der Öffentlichkeit: Jetzt genügt zur Heilung, den Saum des Gewandes Jesu zu berühren. Da diese Heilungen in größter Öffentlichkeit stattfinden (ἐν ταῖς ἀγοραῖς), können hier keine Dämonen mehr erwähnt werden, da diese die wahre Identität Jesu zu früh offiziell verbreiten würden. Doch offiziell und unwidersprochen wird die Identität Jesu erst nach seinem Tod durch den Kenturio (Mk 15.39) erkannt und coram publico bekannt werden. So modelliert Markus mit den Summarien einen wesentlichen Teil seiner Jesulogie und deutet besonders das Wunderwirken Jesu in Galiläa aus: ‘An der verallgemeinernden Zustandsschilderung liegt dem Evangelisten offenbar ebensoviel wie am Aufweis der Kohärenz der Ereignisfolge’.Footnote 108
Mit der Textgruppe der Summarien entwickelt Markus gleichsam einen wichtigen Bestandteil einer Erzählung über die Jesus-Christus-Geschichte.Footnote 109 Er gibt zugleich Einblick in seine literarischen Intentionen, die er mit der Abfassung seiner Evangelienschrift insgesamt verfolgt: Er will die Jesus-Christus-Geschichte generalisierend und universalisierend erzählen. Der ‘Sitz im Leben’ der Summarien bzw. das sozio-kulturelle setting ist die Lektüre des Evangeliums selbst. So sind die Summarien als schriftstellerische Leistung des Markus kaum zu überschätzen.
Als William Wrede 1901 schrieb, Markus sei als ‘Schriftsteller’ zu begreifen, wollte er der seinerzeit historistischen Ansicht entgegentreten, Markus habe ‘bei seiner Geschichtserzählung die wirklichen Verhältnisse des Lebens Jesu annähernd deutlich’ vor Augen gehabt.Footnote 110 Gegenwärtig bedeutet die Einsicht in die schriftstellerische Tätigkeit des Markus, von bloßen Quellentheorien oder Erzähltextanalysen loszukommen. Dagegen ist eine Sicht auf die literarische Leistung des frühesten Evangelisten notwendig: Denn so wie Markus der Schriftsteller und Theologe mit den Summarien eine synoptische Textgruppe kreiert und das Wirken Jesu deutet und fortschreibt, so generiert er mit seiner Schrift ein zugleich narratives wie theologisches genre, nämlich Evangelienliteratur.
German abstract: Ausgehend von einer konzisen Bestimmung der literarischen Form eines Summariums, die zu dessen Abgrenzung von einer Epitome oder einem Geschichtsabriss führt, untersucht der vorliegende Beitrag die literarische und theologische Funktion der drei Summarien, die im Markus-Evangelium (Mk 1.32–34; 3.7–12; 6.54–56) begegnen: Durch diese Summarien gliedert der Verfasser seine Erzählung in Kap. 1–6 makro-textuell. Zugleich nimmt er mit den Summarien eine theologische Interpretation und ein narratives emplotment der galiläischen Wirksamkeit Jesu vor und führt dabei wichtige Themen der Evangelienerzählung selbständig aus.