1. Quellen und Forschungsstand
Zur Geschichte der 1938 gegründeten Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) gibt es bisher nur wenig Forschungsliteratur.Footnote 1 Boobyer,Footnote 2 der erste Sekretär der SNTS, hatte im Jahr 1950 einige Seiten unter dem Titel ‘The Early History of Studiorum Novi Testamenti Societas’ abgefasst.Footnote 3 Diese bis heute einzige Darstellung der Entstehung der Gesellschaft berichtet über einen Zeitraum, der sich von dem ersten Treffen einiger Neutestamentler am Rande der Weltkirchenkonferenz ‘Faith and Order’ im August 1937 in Edinburgh bis zur ersten Generalversammlung der Gesellschaft am 26. und 27. März 1947 in Christ Church, Oxford erstreckt. Der Bericht schließt mit der Bemerkung, dass die nachfolgende Geschichte der Societas aus den Protokollen der Generalversammlung zu entnehmen sei. Aus den Ausführungen Boobyers und aus den Protokollen der Generalversammlung erfährt man tatsächlich einiges über die Gesellschaft, aber eine wirkliche Geschichte lässt sich auf dieser Basis nicht schreiben. Etwas aufschlussreicher sind die Protokolle des Vorstands (committee), des wichtigsten Entscheidungsgremiums der SNTS. Aus ihnen lassen sich Überlegungen, Beweggründe und Diskussionen rekonstruieren, die ein deutlicheres Bild von der Gründungsphase und den Absichten der Gründungsmitglieder vermitteln.Footnote 4 Auf der Basis dieser Protokolle hat Telford einen Vortrag mit dem Titel ‘SNTS, its Origins, and Robin McL. Wilson's Contribution to the Society’ erarbeitet.Footnote 5 Er erläutert zunächst die Struktur der Gesellschaft und konzentriert sich dann auf die Beiträge, die von den Neutestamentlern der Universität St. Andrews erbracht wurden.
Neben den genannten Ausführungen zur Geschichte der Gesellschaft stößt man in deutschsprachigen Quellen immer wieder auf vereinzelte Aussagen, die darauf hinweisen, welch hohe Bedeutung die Gesellschaft für das Selbstverständnis einiger deutscher Neutestamentler während und nach der NS-Herrschaft hatte. Bereits 1942 findet sich im vierten Band des Theologischen Wörterbuchs des Neuen Testaments bei der Würdigung der im Krieg gefallenen Mitarbeiter des Nachschlagewerks zwei Mal der Hinweis ‘Mitglied der Studiorum Novi Testamenti Societas’.Footnote 6 Besonders intensiv und häufig beriefen sich diejenigen Neutestamentler, die nach 1945 wegen ihrer aktiven Unterstützung des NS-Regimes um ihren Verbleib im Amt bangen mussten, auf die Mitgliedschaft in der SNTS. Sie verfolgten dabei in der Regel das Ziel, sich als unpolitische und international anerkannte Fachgelehrte darzustellen. Diese Inanspruchnahme der Mitgliedschaft erwies sich in den Entnazifizierungs- und Wiedereingliederungsverfahren ehemaliger Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) als durchaus wirksam, provozierte aber auch Nachforschungen. Im Jahr 1996 wollte Wolfgang Schenk die Frage klären, wieso man 1939 den gerade erst 32jährigen Jenaer Professor Walter GrundmannFootnote 7 in die SNTS berufen hatte. Der damalige Sekretär der Gesellschaft, William Telford, konnte den Sachverhalt nicht aufklären und antwortete am 10. März 1996: ‘I made a careful check through the minutes of the General Meetings since 1938 but was unable to find a reference to the election of W. Grundmann’.Footnote 8 Heute wird man die Frage etwas ausweiten müssen: Wieso gehörten ausgerechnet diejenigen drei deutschen Neutestamentler, die am aktivsten judenfeindliche Forschung und Propaganda betrieben hatten, nämlich Gerhard Kittel,Footnote 9 Karl Georg KuhnFootnote 10 und eben Grundmann,Footnote 11 zu den ersten deutschen Mitgliedern der Gesellschaft? Diese Frage lässt sich auf der Basis der bisher unbekannten Berichte, die der Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel über die Gründungsphase der Gesellschaft abgefasst und den staatlichen Institutionen des NS-Regimes zugänglich gemacht hat, beantworten.Footnote 12 Die im Bundesarchiv Berlin lagernde Akte des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) mit dem Titel ‘Neutestamentler Tagung’ macht deutlich, dass die Vorgänge um die Gründung der SNTS, die sich während einer weltpolitisch hochbrisanten Phase ereigneten, mit großer Aufmerksamkeit von den Institutionen des NS-Staates bis hin zu dem NS-Geheimdienst SD (Sicherheitsdienst) und dem Reichsführer SS Heinrich Himmler verfolgt wurden. Es waren die Jahre der außenpolitischen Erfolge des NS-Regimes und der großen Zugeständnisse der europäischen Staaten an Deutschland, die heute als so genannte Appeasement-Politik kritisch beurteilt werden. Der diplomatische Höhepunkt dieser Entwicklung war das Münchener Abkommen vom 30. September 1938, mit dem die europäischen Großmächte den Untergang der Tschechoslowakei einleiteten. Zu dieser Zeit reagierten Hitler und die Führung des NS-Staates noch äußerst empfindlich auf Vorgänge, die ihr internationales Ansehen beeinträchtigen konnten. Auch die scheinbar unpolitische Geschichte der Gründung der SNTS wurde in den Sog dieser Zeitereignisse hineingerissen und blieb von ihnen nicht unberührt.
Aus den bisher bekannten Quellen zur Entstehungsgeschichte der SNTS ergeben sich zwei Varianten einer Gründungserzählung, die sich miteinander harmonisch in Beziehung setzen lassen. Auf der einen Seite steht das Bild, das sich aus der Auswertung der Materialien und aus ihrer Aufarbeitung durch Boobyer und Telford ergibt. Danach erscheint die Gesellschaft als eine Gründung von Fachgelehrten der britischen Insel und des europäischen Kontinents, deren kontinuierliche Entwicklung selbst durch die Ereignisse des Krieges nur unterbrochen, nicht aber wirklich beeinflusst wurde. Die Schrecken der Jahre 1937–1945 haben sich nicht wesentlich auf ihre Geschichte ausgewirkt. Klarster Ausdruck dieser Sichtweise ist die Notiz über die Annahme des letzten Vorkriegsprotokolls aus dem Jahr 1938 in der ersten Nachkriegssitzung am 23. April 1946, die Boobyer in seiner Geschichte der SNTS mit eleganter Lakonie zitiert: ‘The minutes of the last meeting held on December 20th, 1938, were read and signed’. Diese ‘britische’ Perspektive auf die Gründungsgeschichte der Gesellschaft wird durch die ‘deutsche’ Perspektive ergänzt, wie sie von den drei genannten Neutestamentlern nach 1945 vertreten wurde und von einigen Fachkollegen bis heute weitergegeben wird.Footnote 13 Nach dieser Sichtweise haben rein fachliche Gesichtspunkte die britischen Kollegen dazu geführt, aus dem Kreis der zahlreichen deutschen Neutestamentler gerade auch diese drei für die Mitgliedschaft auszuwählen. Diese Entscheidung unabhängiger internationaler Fachgelehrter belege eindrücklich die hohe wissenschaftliche Qualifikation der genannten Neutestamentler, deren Integrität auch durch ihre Nähe zum Nationalsozialismus nicht beeinträchtigt worden sei.
Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass die ‘deutsche’ Perspektive Teil einer Legende ist, welche die genannten Exegeten nach 1945 dringend für die Wiederherstellung ihres Ansehens und für die Wiedererlangung kirchlicher und universitärer Ämter benötigten und erfolgreich einsetzten.Footnote 14 Es stellt sich zudem die Frage, ob nicht auch die ‘britische’ Perspektive wichtige Aspekte ausblendet: Die politische Situation des nationalsozialistischen Deutschland in den Jahren 1937–1939 war ebenso bekannt wie die Haltung Kittels, Kuhns und Grundmanns zum NS-Staat—und die bisher unbekannten Quellen unterstreichen, dass Kittel sehr offen seine Nähe zum ‘Führer’ zur Sprache brachte. Es drängt sich damit die Frage auf, ob die Gründungsgeschichte der SNTS ein Abbild der Appeasement-Politik war, die die europäischen Großmächte gegenüber Hitler in den Jahren 1937–1939 verfolgten.
Die britischen, niederländischen, französischen und skandinavischen Gelehrten, die sich 1938 zur Gründung der Gesellschaft und 1945 zur Weiterführung ihrer Bemühungen entschlossen hatten, waren wohl der Ansicht, dass es möglich und erstrebenswert sei, die neue Institution für die wissenschaftliche neutestamentliche Exegese weitgehend unabhängig von politischen Ereignissen und zeitbedingten Erfahrungen aufzubauen. Dieser Wunsch, Wissenschaft losgelöst von den Weltläufen zu betreiben, ist nachvollziehbar. In ihm drückt sich das humane Ideal aus, nach dem doch zumindest in der Wissenschaft eine Wahrheitssuche betrieben werden solle, die frei von äußeren Zwängen sei. Gerade aber derjenige, der an diesem Ideal festhält, hat die Aufgabe, die Gefährdungen der wissenschaftlichen Freiheit wahrzunehmen und zur Diskussion zu stellen.Footnote 15 Im folgenden Beitrag soll deswegen die politische Seite der Gründungsgeschichte der SNTS unter Einbeziehung bisher noch nicht ausgewerteter Quellen aus den Archiven des NS-Regimes beleuchtet werden.
2. Die Initiative von Johannes de Zwaan im Jahr 1937
Die ersten Aktivitäten zur Gründung der Gesellschaft fallen in ein Jahr, das auch für die ökumenische Bewegung von großer Bedeutung war. In Oxford versammelte sich vom 12. bis 26. Juli 1937 der Ökumenische Rat für praktisches Christentum (Life and Work) und in Edinburgh fand vom 3. bis 18. August 1937 die Weltkirchenkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung (Faith and Order) statt. Am Rande der Konferenz in Edinburgh wurden während einer informellen Zusammenkunft einiger Neutestamentler Überlegungen zur Gründung einer Gesellschaft für die Erforschung des Neuen Testaments angestellt. Zu diesem ersten Treffen in Edinburgh hatte Johannes de Zwaan geladen.Footnote 16 Der Leidener Neutestamentler war mit den Verhältnissen auf der Insel bestens vertraut.Footnote 17 Seine Idee, eine internationale wissenschaftliche Gesellschaft zu gründen, stieß bei den britischen Kollegen auf Interesse, zumal sie außerdem das Vorbild der bereits 1917 gegründeten ‘Society for Old Testament Studies’ vor Augen hatten. Über die Einzelheiten der Gespräche ist wenig bekannt. Jedenfalls erinnerten sich noch W. MansonFootnote 18 im Jahr 1940 und E. P. DickieFootnote 19 im Jahr 1949 in ihren Schreiben an den finnischen Teilnehmer E. G. GulinFootnote 20 gerne an die Zusammenkunft und an die persönlichen Begegnungen, die damit verbunden waren.Footnote 21 An dieser Sitzung in Edinburgh nahmen neben de Zwaan folgende Neutestamentler teil: G. H. Boobyer, H. Clavier,Footnote 22 E. P. Dickie, C. H. Dodd,Footnote 23 G. S. Duncan,Footnote 24 H. L. Goudge,Footnote 25 E. G. Gulin, H. L. MacNeill,Footnote 26 T. W. Manson,Footnote 27 H. G. Wood,Footnote 28 W. Manson. Von den zwölf Anwesenden stammten einer aus Frankreich, einer aus Finnland, einer aus Kanada, einer aus den Niederlanden, drei aus Schottland und fünf aus England. Alle Teilnehmer waren ordinierte Geistliche ihrer Kirchen. Unter den Teilnehmern war kein deutscher Exeget. Angesichts der Bedeutung der deutschen Exegese in diesen Jahren ist dieser Sachverhalt auffällig und bedarf einer Erklärung, die in den kirchlichen und politischen Rahmenbedingungen dieser Jahre zu suchen ist.
Ein wichtiges Thema der Konferenz in Oxford war die Situation der deutschen Kirchen, die in der Ökumene als Kirchen der Reformation ein besonderes Gewicht hatten. Längst hatten die Auseinandersetzungen innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland über die Folgen der Machtergreifung Hitlers für die Kirche, der so genannte ‘Kirchenkampf’, internationale Aufmerksamkeit gefunden. Die Vorgänge in Deutschland wurden im Ausland vor allem als Eingreifen des nationalsozialistischen Staates in die Freiheit der Kirchen interpretiert. Die Einschränkung der Religionsfreiheit wurde gerade in Großbritannien und in den USA, beides Länder, die im Gegensatz zu Deutschland über eine eindrucksvolle demokratische Tradition verfügten, sehr sensibel wahrgenommen und genau verfolgt.Footnote 29 Der sich entwickelnde Kirchenkampf schädigte das Ansehen des nationalsozialistischen Regimes. Dies wurde wiederum von Hitler als großes Hindernis für das Erreichen seiner außenpolitischen Ziele empfunden. Alfred Wiener (1885–1964), der Leiter des jüdischen Informationszentrums zum Nationalsozialismus (Jewish Central Information Office), urteilte nach dem Krieg, der Kirchenkampf habe erheblich dazu beigetragen, dass man in England den ‘wahren Charakter des Nationalsozialismus’ erkannte.Footnote 30 Auch die Vorgänge um die deutsche Delegation zur Weltkirchenkonferenz 1937 machen aus heutiger Sicht deutlich genug, mit welchen Willkürmaßnahmen man in Deutschland zu rechnen hatte und wie diese im Ausland wahrgenommen wurden. Am 14. Mai 1937 wurde fünf Mitgliedern der deutschen Delegation zur ökumenischen Konferenz, darunter Martin Niemöller (1892–1984), der Reisepass entzogen.Footnote 31 Am 3. Juni 1937 verbot Hitler schließlich der gesamten Delegation, für die von Seiten der Bekennenden Kirche neben Niemöller auch Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) vorgesehen war, die Teilnahme an der Konferenz.Footnote 32 Am 23. Juni wurden acht führende Repräsentanten der Bekennenden Kirche aus einer Sitzung des Reichsbruderrates heraus verhaftet. Noch mehr internationale Aufmerksamkeit erregte allerdings die Inhaftierung Niemöllers am 1. Juli.Footnote 33 Der Bischof von Chichester, George K. A. Bell (1883–1958), protestierte gegen diese Maßnahmen und schrieb in der Londoner Times vom 2. Juli, dass nun das gesamte Verhalten des Deutschen Staates gegenüber dem Christentum und gegenüber den christlichen Werten zur Debatte stehe.Footnote 34 Diese Vorgänge um das Reiseverbot der Delegation aus Deutschland standen während der ökumenischen Treffen des Jahres 1937 im Mittelpunkt des Interesses.Footnote 35 Am 19. Juli verabschiedete die Konferenz in Oxford die ‘Botschaft an die Deutsche Evangelische Kirche’. Sie wurde am 19. Juli in der Times kommentiert und in Auszügen abgedruckt. Die Erklärung beklagte die ‘Prüfungen vieler Pfarrer und Laien’ (‘the afflictions of many pastors and laymen’) in Deutschland und lobte deren ‘Kampf gegen Verfälschung und Unterdrückung des christlichen Zeugnisses’ (‘against distortion and suppression of Christian witness’).Footnote 36 Aber weder in Deutschland noch in England wurden diese Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates einmütig verurteilt. Diejenigen Teile der deutschen evangelischen Kirche, die dem NS-Staat gegenüber Loyalität beweisen wollten, wandten sich von der ökumenischen Bewegung brüsk ab und widersprachen der Einschätzung, dass die Kirche in Deutschland verfolgt werde.Footnote 37 Die Freikirchen aus Deutschland, die an der ökumenischen Konferenz teilnehmen durften, und einige der protestantischen Kirchen der deutschen Minderheiten in Polen und Südosteuropa protestierten noch in Oxford gegen jene Teile der Botschaft, welche die Religionspolitik des NS-Staates kritisiert hatten.Footnote 38 Aber auch in England gab es beschwichtigende Stimmen. So äußerte der Bischof von Gloucester, Arthur C. Headlam (1862–1947), immer wieder Verständnis für die nationalsozialistische Kirchenpolitik in Deutschland.Footnote 39
Alle diese Vorgänge waren Tagesgespräch während der ökumenischen Konferenzen. Die Teilnehmer der ersten Versammlung zur Gründung der Gesellschaft waren selbst zu einem großen Teil Delegierte ihrer Kirchen zur Weltkirchenkonferenz. Sie waren über das Reiseverbot der deutschen Delegation informiert, kannten die Diskussion um die ökumenische Botschaft an die deutsche evangelische Kirche und waren über die problematischen kirchlichen Verhältnisse in Deutschland im Bilde. Schließlich verfügte fast jeder der Genannten über eigene Quellen, aus denen er Informationen über Deutschland bezog. Viele der Neutestamentler hatten in Deutschland studiert, hielten zum Teil engen Kontakt nach Deutschland oder waren sogar gerade in diesen Jahren selbst dort gewesen. So war z. B. Duncan, der in dieser Frühphase eine führende Rolle einnehmen sollte, offensichtlich bis 1936 jährlich nach Deutschland gereist.Footnote 40
Vor diesem Hintergrund erklärt sich der auffällige Sachverhalt, dass kein deutscher Neutestamentler an diesem ersten Treffen teilnahm, am besten aus dem politisch motivierten Reiseverbot, das gegen die deutsche Delegation zur Weltkirchenkonferenz ausgesprochen worden war. Alle an der Gründung der Gesellschaft Beteiligten waren sich zudem darüber im Klaren, dass Reiseerlaubnisse von deutschen Theologen nach England keine Selbstverständlichkeit waren und solche Kontakte von den Vertretern des NS-Staates mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt wurden. Bei den weiteren Planungen für die Gründung der Gesellschaft mussten die politische Situation in Deutschland und deren Folgen für internationale Kontakte berücksichtigt werden.
Boobyer berichtet, dass der Vorschlag de Zwaans zur Gründung einer Gesellschaft für die Erforschung des Neuen Testaments auf dieser Zusammenkunft sehr positiv aufgenommen wurde. Die Durchführung des Unternehmens wurde nun aber vor allem von den britischen Gelehrten betrieben. Im Archiv der SNTS findet sich dazu nur ein von Duncan formuliertes offizielles Einladungsschreiben vom 8. März 1938, das an eine beschränkte Anzahl von Fachkollegen versandt wurde. Er machte darin die Absicht bekannt, eine internationale Gesellschaft zu gründen, nannte die beteiligten Personen und stellte die Gründung einer internationalen Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft in Aussicht.Footnote 41 Schließlich regte er eine erste offizielle Zusammenkunft im September 1938 in England an. Es ist nicht genau bekannt, an welche Personen dieses Schreiben versendet wurde. Da sich im September in Birmingham schließlich 19 Gelehrte versammelten und im Protokoll von 13 Absagen die Rede ist, wird man mit etwa 30–35 Einladungen zu rechnen haben. Unter den Eingeladenen waren nun auch drei deutsche Neutestamentler. Duncan hatte G. Kittel, H. LietzmannFootnote 42 und M. DibeliusFootnote 43 angeschrieben.
Man hatte sich damit gewiss für drei gewichtige Fachvertreter aus Deutschland entschieden. Kittel hatte als Herausgeber des Theologischen Wörterbuchs weltweit großen Eindruck gemacht.Footnote 44 Lietzmann galt als der führende deutsche Exeget dieser Zeit und war als Herausgeber der Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und des Handbuchs zum Neuen Testament bekannt und geschätzt, war aber persönlich niemals in Großbritannien gewesen. Dibelius hatte durch zahlreiche gewichtige Publikationen, etwa seine Formgeschichte und seine Kommentare zu den ‘kleinen’ Paulusbriefen im Handbuch Lietzmanns, ebenfalls international auf sich aufmerksam gemacht und verfügte über zahlreiche Kontakte zu britischen Kollegen. Er hatte neben Adolf Deißmann (1866–1937) als Vertreter der universitären Theologie an der ökumenischen Konferenz in Chamby vom 21. bis 25. August 1936 teilgenommen und war auch als Teilnehmer der deutschen Delegation für Oxford im Gespräch gewesen.Footnote 45 Schließlich war er auch der Doktorvater von Boobyer, der als erster Sekretär der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen sollte.
Wer unter den Eingeladenen auffälligerweise nicht erscheint, ist R. Bultmann.Footnote 46 Lietzmann schrieb in einem Brief vom 15. Februar 1938, in dem er mögliche Berufungen nach Berlin erörterte, dass Dibelius und Bultmann diejenigen Neutestamentler seien, die ‘gegenwärtig das internationale Ansehen der neutestamentlichen Forschung Deutschlands vertreten’.Footnote 47 Sie kämen aber aus politischen Gründen nicht für eine Berufung nach Berlin in Frage. Ob die Gründungsmitglieder der Gesellschaft Bultmann, der sich offen auf der Seite der Bekennenden Kirche positioniert hatte, bei der Auswahl der deutschen Teilnehmer ebenfalls ‘aus politischen Gründen’ übergangen hatten? Ebenso wenig scheint man eine Mitgliedschaft von Ernst Lohmeyer (1890–1946) in Erwägung gezogen zu haben, obwohl er international hohes Ansehen genoss, im September 1937 zu einer Vortragsreise nach Schweden (Stockholm, Lund, Uppsala) eingeladen war und mit A. Fridrichsen und R.H. Lightfoot im Briefwechsel stand. Lohmeyer war 1935/36 nach Greifswald strafversetzt worden und ebenfalls ‘politisch’ belastet.Footnote 48
Mit der getroffenen Auswahl beschränkte man sich jedenfalls von Anfang an auf Personen, die sich in einem gewissen Maße an die Verhältnisse im nationalsozialistischen Deutschland angepasst hatten. Lietzmann war eher der kirchlichen Mitte zuzuordnen, die auf einen Ausgleich der verschiedenen Kirchenparteien hoffte und die eine Mitwirkung am Aufbau des nationalsozialistischen Staates anstrebte.Footnote 49 Dibelius hatte wegen seines Eintretens für die Weimarer Republik vom NS-Staat zahlreiche Repressalien wie Gehaltskürzung, Hausdurchsuchungen und Passentzug zu ertragen und hielt sich wohl deswegen in politischen Fragen und im Kirchenkampf zurück.Footnote 50 Kittel schließlich genoss das Wohlwollen des NS-Staates. Er war Mitglied der NSDAP, hatte die Beteiligung von NSDAP-Mitgliedern an der Leitung der evangelischen Kirche gefordert, trat ab Juni 1933 öffentlich für Maßnahmen gegen Juden ein und hatte als Mitglied des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland, Abteilung Judenfrage in der nationalsozialistisch dominierten Wissenschaftslandschaft über die Grenzen der Theologie hinaus erheblichen Einfluss gewonnen.Footnote 51 So war es kein Zufall, dass von den drei Eingeladenen nur Kittel ausdrücklich sein Kommen zusagen konnte. Als Boobyer am Anmeldetermin, dem 14. Juli 1938, feststellte, dass Kittel der einzige Deutsche sein würde, bemühte er sich am 18. Juli noch einmal um Lietzmann. Er versuchte, diesem deutlich zu machen, wie wichtig seine Anwesenheit wäre: ‘I have just heard that Prof. Kittel is intending to be present, and any increase of the German representation would be appreciated’.Footnote 52 Da sowohl Lietzmann als auch Dibelius der Einladung nach Birmingham nicht folgten, drohte die Stimme Kittels in den Fragen, die die deutsche neutestamentliche Wissenschaft betrafen, ein unangemessen großes Gewicht zu bekommen.
3. Gerhard Kittel, der NS-Staat und die Gründung der SNTS (20. Oktober 1937–19. Dezember 1938)
Am 20. und 21. Oktober 1937 hielt der Tübinger Neutestamentler in Cambridge einen Vortrag über das Konzept des Theologischen Wörterbuchs unter dem programmatischen Titel ‘Lexicographia Sacra’.Footnote 53 Er vertrat darin die These, dass die neutestamentlichen Begriffe zwar aus den Sprachen der Umwelt entlehnt seien, im Neuen Testament aber gewönnen sie durch ihre Beziehung zu ‘Jesus’ bzw. zu Christus eine völlig neue Bedeutung.Footnote 54 Kittel berichtete später, er sei bei dieser Gelegenheit ‘mit den beiden massgebenden Cambridger Neutestamentlern Dodd und Creed’, aber auch mit anderen Neutestamentlern in engeren persönlichen Kontakt gekommen.Footnote 55 Es ist anzunehmen, dass Kittel bei diesem Anlass die ersten Informationen über die Gründung einer Gesellschaft für die neutestamentliche Wissenschaft erhielt. Kittel ordnete das Unternehmen nicht nur in seine wissenschaftlichen Ambitionen ein, sondern erfasste sofort die politische Dimension des Vorhabens. Er war alles andere als ein ‘weltfremder Gelehrter’Footnote 56 und bezog die Institutionen des nationalsozialistischen Regimes in seine Planungen mit ein.
Aus den Akten des Reichserziehungsministers geht hervor, dass Kittel bereits am 15. Dezember 1937 mit Zustimmung des Dekans der Theologischen Fakultät, Artur Weiser (1893–1978), ebenfalls NSDAP-Mitglied, den Rektor der Universität Tübingen um die Erlaubnis bat, die ihm angetragene Mitgliedschaft der neuen Gesellschaft anzunehmen:
Es besteht zunächst die Absicht, ein Komitee zu bilden, das aus je einem Vertreter der theologisch und wissenschaftlich wichtigen Länder bestehen, und das im Sommer 1938 in England eine Sitzung abhalten soll. Wie mir von englischer und holländischer Seite mitgeteilt ist, besteht der Wunsch, dass ich als Vertreter Deutschlands an der Sitzung des Komitees teilnehme.
Kittel beantragte gleichzeitig die Genehmigung der Reise und die Bereitstellung von Devisen für einen 14tägigen Englandaufenthalt. Der Vorgang wurde vom Rektor und von der NS-Dozentenschaft befürwortet. Der Reichserziehungsminister stellte fest: ‘Politische Bedenken gegen Prof. Kittel bestehen hier nicht’.Footnote 57 Das Reichskirchenministerium willigte ebenfalls ein.
Ehe aber die Zusage an Kittel ergangen war, waren am 12. März 1938 deutsche Truppen in Österreich einmarschiert. Die Teilnahme an der SNTS-Tagung gewann nun noch eine weitere politische Facette hinzu. Der Reichserziehungsminister beabsichtigte die Reise zu genehmigen, fragte aber zunächst noch am 28. April über den Rektor der Universität bei Kittel an, ‘was über die Teilnahme österreichischer Wissenschaftler bekannt ist’.Footnote 58 Kittel beschränkte sich nun nicht nur darauf, am 2. Juni über den Rektor mitzuteilen, dass ihm darüber nichts bekannt sei, sondern trat am 17. Juni direkt an das Reichsministerium heran. Er wiederholte seine Bitte um Genehmigung der Dienstreise und schilderte etwas genauer, welche Informationen er bis zu diesem Zeitpunkt hatte. Es sei die Gründung einer ‘New Testament Academy’ mit etwa 15 Fachgelehrten aus ‘in der Regel je einem Teilnehmer eines jeden Landes’ geplant.Footnote 59 Kittel zählt neben England die Länder Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark, Schweiz, Italien, Ungarn, Griechenland und Holland auf. Eine wissenschaftliche Zeitschrift solle gegründet werden. Die Aussagen Kittels verweisen darauf, dass die Struktur der geplanten Gesellschaft noch ungeklärt war. Kittel hob schließlich seine eigene Rolle hervor: ‘Soviel mir bisher bekannt ist, ist außer mir kein weiterer deutscher oder österreichischer Teilnehmer eingeladen, soll ich vielmehr als Vertreter meines Faches für das gesamte Deutschland gelten’. Die förmliche Genehmigung der Reise Kittels vom 14.–16. September 1938 nach Birmingham erging am 5. Juli 1938. Kittel wurde angewiesen, einen Bericht über die Tagung vorzulegen.
Vom 14. bis zum 16. September 1938 versammelten sich in Birmingham neunzehn Teilnehmer, um über die weiteren Schritte zum Aufbau der Gesellschaft zu beschließen.Footnote 60 Mehrere Vorträge skizzierten die möglichen Aufgaben einer solchen Gesellschaft. Zunächst sprach am 15. September de Zwaan über ‘Some general observations on the interpretation of the Epistles of St. Paul’. Aus dem dreiseitigen Protokoll des Vortrags, das im Archiv der SNTS erhalten ist,Footnote 61 geht hervor, dass de Zwaan einige Kritik an einer theologischen Exegese übte, die nicht klar zwischen Tatsachen (‘facts’) und Interpretationen (‘comments’) unterscheide. Eine Theologie des Paulus müsse hingegen unter Berücksichtigung religionspsychologischer Aspekte den wirklichen Paulus (‘the real Paul’) zu Wort kommen lassen. T. W. Manson sprach über ‘The Idea of a Society for N.T. Studies’ und wurde hinsichtlich gemeinsamer Forschungen etwas konkreter. Es sollten Absprachen getroffen werden, um Überschneidungen der Forschung zu vermeiden. Er regte auch die Erstellung einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments an.Footnote 62 Am gleichen Tag trug W. F. Howard vor über ‘Tasks immediately ahead in New Testament Interpretation’. Auch dazu ist ein dreiseitiges Protokoll im Archiv der SNTS erhalten.Footnote 63 Howard beschränkte sich auf die Evangelien, da Paulus von de Zwaan behandelt worden sei. Er erörterte Fragen, die durch die Formgeschichte gestellt waren, und ging dann auf die Forschungen zum Menschensohn und zum Reich Gottes ein.
Der wichtigste Beschluss dieser Zusammenkunft betraf jedoch die Bildung des ersten provisorischen Vorstands (‘Provisional Committee’) und dessen Aufgaben.Footnote 64 Es wurden benannt: J. M. Creed,Footnote 65 W. F. Howard, G. Kittel, T. W. Manson, J. de Zwaan und G. H. Boobyer. Dem Vorstand war das Recht erteilt worden, sowohl weitere Gelehrte zur Mitgliedschaft einzuladen als auch weitere Mitglieder in den Vorstand zu berufen. Man kooptierte sogleich den Verfasser der Einladung, G. S. Duncan. Dieser bekam zudem die Aufgabe, eine erste Generalversammlung im September 1939 in Birmingham zu organisieren. In seiner ersten Sitzung noch in Birmingham am 16. September beschloss der Vorstand die Einladung von achtzehn weiteren Neutestamentlern, die bereits schriftlich ihr Interesse bekundet hätten.Footnote 66 Unter diesen achtzehn war aus Deutschland wiederum nur Dibelius genannt. Dieser auffällige Sachverhalt hatte seine besondere Bewandtnis.
Sofort nach seiner Rückkehr aus Birmingham verfasste Kittel seinen Bericht, den er wie alle weiteren mit den Worten einleitete: ‘Auftragsgemäss erstatte ich folgenden Bericht’. Er schickte diesen am 22. September 1938 direkt an das Erziehungsministerium. Auf vier Seiten schilderte Kittel seinen Aufenthalt in Birmingham. Aus seinen Ausführungen wird deutlich, wie sehr die politische Situation die Zusammenkunft geprägt hat. Es waren die Tage vor dem Münchener Abkommen vom 30. September, das einerseits die Abtretung der Sudetengebiete von der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich verfügte und damit das Ende der jungen tschechoslowakischen Demokratie einleitete, und andererseits in England und Deutschland als Friedensabkommen gefeiert wurde. Das Abkommen gilt bis heute als trauriger Höhepunkt der Appeasement-Politik der europäischen Mächte gegenüber Hitler. Kittel berichtet davon, wie die dramatische politische Situation die Gespräche prägte:
Schon die Tatsache meiner Anwesenheit in Birmingham in diesen Tagen wurde von den ausländischen Kollegen stark eingeschätzt; noch grösser war allerdings ihr Erstaunen, als sich herumsprach, dass ich unmittelbar aus Nürnberg kam und dass ich dort als Ehrengast des Führers am Reichsparteitag teilgenommen hatte. Ich musste unendlich viel über Deutschland und insbesondere über die Nürnberger Tage erzählen; das Interesse darüber zu hören—und vor allem über den Führer selbst—war ungeheuer.
Tatsächlich hatte Kittel viel zu erzählen. Im Rahmenprogramm des Reichsparteitages 1938 hatte er an der Ausstellung mit dem Titel ‘Europas Schicksalskampf im Osten’ mitgewirkt und einen ganzen Raum gestaltet, der sich mit der Ausbreitung des Judentums im Römischen Reich befasste.Footnote 67 1939 wurden die von Kittel verantworteten Materialien auch in einer Ausstellung im naturhistorischen Museum in Wien über ‘Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden’ verwendet. Wie viel Kittel von seinen judenfeindlichen Forschungen berichtete, kann man nur ahnen. Der Stil seines Berichts macht aber deutlich, dass Kittel seine Nähe zum Nationalsozialismus und zu Hitler betonte und meinte, damit einigen Eindruck bei den Kollegen gemacht zu haben.
Der Bericht widmet sich nun Details: Kittel erwähnt die Anwesenden wie die Nichterschienen namentlich. Er verweist darauf, dass Dibelius und Lietzmann nicht angereist seien und dass er A. StumpffFootnote 68 wegen seiner Sprach- und Englandkenntnisse mitgenommen habe. Im weiteren Bericht erörtert Kittel seine Aktivitäten während der ersten Sitzung. Er habe daran mitgewirkt zu verhindern, dass eine rein englische Gesellschaft gegründet worden wäre, was insbesondere durch die lateinische Form des Namens und durch die Wahl von zwei Kontinentaleuropäern in den Vorstand der Gesellschaft zum Ausdruck komme. Insgesamt äußert sich Kittel recht negativ zur ‘englischen Mentalität’ und zum Führungsanspruch der ‘englischen Seite’, schließt aber von dieser Kritik den Präsidenten Creed aus, der von Kittel als ‘ein für die deutschen Fragestellungen in besonderem Maße aufgeschlossener Mann’ charakterisiert wird. Es sei die Mitgliedschaft einer größeren Anzahl deutscher Wissenschaftler geplant. Näheres solle im Dezember 1938 besprochen werden. Jedenfalls solle die Mitgliedschaft nur auf Einladung erfolgen. Nach dieser Schilderung geht Kittel zu seinen operativen Planungen über, in die er das Ministerium einbezieht. Er habe nur vorläufig zugesagt und wolle Näheres mit dem Ministerium erörtern, das betreffe auch die Frage, welche weiteren deutschen Neutestamentler eingeladen werden sollen. Dieser Passus fand das besondere Interesse des Reichserziehungsministeriums und wurde deswegen rot angestrichen. Kittel plädiert für die Beteiligung deutscher Wissenschaftler an der Gesellschaft. Unterbleibe eine deutsche Beteiligung, ‘so wird damit der gesamte Einfluss den Engländern widerspruchslos ausgeliefert’. Eine Teilnahme und die ‘rein fachliche Zusammenarbeit’ könne sich ‘im Blick auf die kirchen-politischen Spannungen für das deutsch-englische Verhältnis entlastend auswirken’. Kittel zeigt sich zudem überzeugt, dass das fachliche Gewicht deutscher Teilnehmer so anerkannt sei, dass sie ein Gegengewicht gegen die englische Dominanz bilden könnten, wenn ‘eine Beteiligung einer Anzahl anerkannter älterer und einiger wissenschaftlich hochqualifizierter jüngerer deutscher Fachgelehrter’ vom Ministerium ermöglicht werde. Kittel führt dann noch aus: ‘Es wird dabei vielleicht nicht unerheblich sein, dass ich als Mitglied des Vorstandes die Möglichkeit haben würde, auf die Auswahl der aus Deutschland einzuladenden Fachgenossen einen gewissen Einfluss auszuüben’. Schließlich fasst er seine Anliegen an das Ministerium in fünf prägnante Fragen zusammen, die er dem Ministerium zur Entscheidung vorlegt. Kittel will wissen, ob seine Beteiligung gewünscht werde, wie groß die deutsche Delegation sein solle, ob er sich am Vorstand beteiligen solle, ob die Mitgliedsbeiträge übernommen würden und ob für die Reisen Devisen bereitgestellt werden würden. Schließlich bittet Kittel, dem Ministerium ‘im Lauf der nächsten Wochen’ mündlich berichten zu dürfen.
Das Anliegen und die Einschätzungen Kittels wurden nun in einer ausführlichen Korrespondenz näher erörtert. Ein achtseitiger Vermerk, am 19. Dezember von Minister Rust abgezeichnet, informiert über die Vorgänge innerhalb und zwischen den Ministerien und NS-Institutionen.Footnote 69 Angesichts der politischen Brisanz der deutsch-englischen Beziehungen und der Bedeutung der kirchlichen Konflikte für das Ansehen Deutschlands im Ausland wurden zahlreiche weitere Institutionen des NS-Staates beteiligt. Um Stellungnahmen wurden das Reichskirchenministerium, das Auswärtige Amt, der Chef des Sicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich (1904–1942) und der Reichsführer SS Heinrich Himmler (1900–1945) gebeten. Am 19. November 1938 erklärte das Reichskirchenministerium seine Zustimmung zu den Vorschlägen Kittels und bejahte die von ihm aufgeworfenen fünf Fragen. Andere Institutionen hatten allerdings noch Vorbehalte. So forderte das Reichserziehungsministerium am 26. November 1938 Kittel auf, zu drei Fragen Stellung zu nehmen: 1. welche deutschen Theologen ‘von englischer Seite’ als Mitglieder gewünscht würden, 2. welche deutschen Theologen Kittel vorschlage, und 3. ob es weitere internationale Zusammenschlüsse gebe. Auch dieses Schreiben wurde nachrichtlich sowohl an das Kirchenministerium als auch an den Reichsführer SS und den Chef des Sicherheitshauptamtes geschickt. Aus dem bereits genannten Vermerk geht hervor, dass Kittel diese Fragen in einem mündlichen Vortrag im Ministerium beantwortet haben muss. Nach seinem Besuch im Reichserziehungsministerium berief dieses eine Ressortbesprechung für den 2. Dezember ein, zu der Vertreter des Auswärtigen Amts, des Reichskirchenministeriums und des Sicherheitshauptamts hinzugezogen wurden. Die Beteiligung des Geheimdienstes wird eigens begründet: ‘Zu der Heranziehung des SD [Sicherheitsdienstes der SS, LB] gab mir [Sachbearbeiter Dahnke des REM, LB] die Erwägung Veranlassung, dass der vorliegende Sachverhalt die Vermutung nahelegt, dass von englisch-ökumenischer Seite die staatsfeindlichen klerikalen Tendenzen in Deutschland gestützt werden sollen’.Footnote 70 Gegenstand der Besprechung war vor allem die personelle Zusammensetzung der deutschen Delegation. Kittel hatte dem Ministerium mitgeteilt, dass er zu den Vorschlägen für deutsche Mitglieder, welche die englische Seite vorbringen würde, werde Stellung nehmen müssen. Er erwarte ‘mit Sicherheit’ folgende Namen: H. Lietzmann, J. Behm,Footnote 71 R. Bultmann, M. Dibelius und J. Schniewind.Footnote 72 Würde das Ministerium von ihm verlangen, dass er diese Personen ablehne, rechne er mit erheblichem Widerstand. Das ‘liberale Ressentiment’ der Engländer könnte dazu führen, dass eventuell ‘die Aufnahme des Pfarrers Niemöller’ vorgeschlagen würde.Footnote 73 Erwarte man von Kittel die Ablehnung der Genannten, dann wäre es besser fernzubleiben. Gestehe man aber deren Beteiligung zu, dann könne Kittel wiederum folgende sieben Personen mit Aussicht auf Erfolg vorschlagen: H. Kittel,Footnote 74 E. Stauffer,Footnote 75 H. Seesemann,Footnote 76 J. Horst,Footnote 77 H. Beyer,Footnote 78 K. G. Kuhn, H.-D. Wendland.Footnote 79 Man beschloss, den Vorschlägen Kittels zu folgen. Unerwünscht seien zwar Dibelius und Schniewind, von Dibelius werde aber korrektes Verhalten erwartet, weil man ‘Dibelius für zu klug und für zu korrekt hält, als dass er im Auslande entsprechend seiner kirchenpolitischen Einstellung gegen Deutschland Stellung nehmen könnte’.Footnote 80 Schniewind hingegen könne man keine Genehmigung erteilen, denn er sei gerade in einem Disziplinarverfahren bestraft worden. Die Beteiligung Kittels werde unterstützt, um das ‘skandinavisch-englisch-amerikanische Übergewicht’ in der Evangelischen Theologie zu verhindern. Eine Delegation unter Führung Kittels sei dafür die beste Möglichkeit. Er sei ‘Ehrengast des Führers’ am Reichsparteitag gewesen und ‘politisch durchaus positiv zu bewerten’. Kittel werde die Delegation ‘in der politisch erwünschten Form’ führen. Man könne ihn wohl auch dazu bewegen, auf unerwünschte Mitglieder so einzuwirken, dass sie ‘aus einem persönlichen Grunde der Tagung’ fernbleiben. ‘Insbesondere hat sich der Vertreter des SD mit dieser Lösung einverstanden erklärt’.
Über die Ergebnisse der Ressortbesprechung wurde Kittel im Rahmen eines Gesprächs im Ministerium am 17. Dezember 1938 in Berlin informiert. Daraus ergab sich weiterer Klärungsbedarf, der Gegenstand eines zweiten Gesprächs mit Kittel im Ministerium am 19. Dezember war. Die Reise wurde schließlich genehmigt und Devisen bereitgestellt. Kittel solle einen Bericht in vierfacher Ausfertigung vorlegen. Vom Ministerium aus reiste er direkt weiter zur Sitzung des Vorstands nach London, die für den 20. Dezember angesetzt war.
Der ausführliche Vermerk wurde in zahlreichen Abschriften an die beteiligten Institutionen, an die Auslandsorganisation der NSDAP, an den Reichsführer SS und an den Chef des Reichssicherheitshauptamtes versendet. Das gesamte weitere Vorgehen Kittels wurde von nun an vom Ministerium regelmäßig dem Sicherheitsdienst der SS mit der Bitte um Kenntnisnahme bzw. Stellungnahme bekannt gemacht.
4. Die Auswahl der deutschen Mitglieder (20. Dezember 1938–28. August 1939) und die erste Nachkriegssitzung des Komitees (23. April 1946)
Am 20. Dezember 1938 traf sich der provisorische Vorstand in London. Es nahmen Creed, Manson, Howard, Boobyer und Kittel teil, de Zwaan und Duncan fehlten. Die Planungen für die erste Generalversammlung wurden vorangetrieben. Die Darstellung von Boobyer weicht etwas von den Ausführungen ab, die in den Protokollen der SNTS und in den Berichten Kittels festgehalten sind:Footnote 81 Während Boobyer mitteilt, dass ‘zu dieser Zeit’ eine Mitgliederzahl von etwa 70 unter Einschluss von 24 kontinentalen Neutestamentlern erreicht worden sei, nennt das Protokoll der Sitzung vom 20. Dezember nur die Zahl 35, darunter 9 kontinentale. Auf 20 neue Einladungen zur Mitgliedschaft seien 16 positive Antworten eingegangen. H. Lietzmann und J. Y. Campbell hätten nicht reagiert, J. A. Findlay, C. A. Scott und K. G. Götz aus Altersgründen abgelehnt. Positiv reagiert hätten demgegenüber R. Newton Flew, R. H. Lightfoot, B. T. D. Smith, R. H. Strachan, G. S. Duncan, G. H. C. Macgregor, A. Fridrichsen, C. J. Cadoux, A. J. Wensinck, E. G. Gulin, V. Taylor, A. Barr, M. Dibelius, J. Pongracz, H. N. Bate. Im Protokoll ist festgehalten, dass de Zwaan und Kittel beauftragt wurden, eine Liste von etwa 30 Vorschlägen kontinentaleuropäischer Gelehrter zusammenzustellen.
Im Protokoll wird auch deutlich, wie bedeutsam die Unterscheidung von Engländern und Schotten einerseits und von Briten und Kontinentaleuropäern andererseits für den ersten provisorischen Vorstand gewesen ist. Die Vortragenden der ersten Generalversammlung sollten nämlich folgende Nationalitäten abdecken: ‘one German, one from Scotland, and one from England’.Footnote 82 Näherhin wurde bestimmt:
The committee decided to invite in the following order of choice (a) Hans Lietzmann, or Martin Dibelius, or Julius Schniewind from Germany; (b) G. S. Duncan, or William Manson, or J. Y. Campbell from Scotland; but in the event of G. S. Duncan himself declining, he was be consulted about his subsequent choices; (c) R. H. Lightfoot, A. E. J. Rawlinson, or B. T. D. Smith from England.Footnote 83
Auf der Sitzung war also noch keine Entscheidung über die weiteren deutschen Mitglieder getroffen worden. Vielmehr wurden Kittel und de Zwaan beauftragt, eine Vorschlagsliste zu erstellen. Aus dem Bericht Kittels vom 28. Dezember erfährt man Genaueres:Footnote 84 In dem zugehörigen Anschreiben zum Bericht vertieft Kittel zunächst den konspirativen Charakter seiner Zusammenarbeit mit dem Erziehungsministerium.Footnote 85 Er wolle vermeiden, dass seine Informationen ‘durch die vielen Hände des Dienstweges Tübingen-Berlin gehen’. Er führt weiter aus: ‘Es wird auch Ihre Meinung sein, dass es besser ist, wenn einige in dem Bericht angedeutete Erwägungen vor allem personeller Art nicht über den Kreis der unmittelbar mit der Gesamtangelegenheit befassten Herren hinausgehen’. Er bittet schließlich darum, dass das Ministerium an Lietzmann herantreten solle, um ihn zum Vortrag anlässlich der ersten Generalversammlung im September 1939 zu bewegen.
Kittel schildert zunächst Veränderungen in der Atmosphäre der Zusammenkunft. Es habe zwar ein freundschaftlicher Umgang geherrscht, aber die Lage eines Deutschen in England sei ‘schwierig’. Er habe ‘jedes weitere private Zusammensein vermieden, um nicht in unnötige und peinliche Erörterungen hereingezogen zu werden’. Kittel erläutert nun sein Wirken in der Sitzung. Er habe auf eigene Vorschläge zur Satzung, ‘etwa Durchführung des Führerprinzips’, verzichtet. Es sei aber Einvernehmen darüber erzielt worden, dass immer ein deutscher Vertreter im Komitee sein solle, der ‘gleichzeitig das Vertrauen der Engländer und gleichzeitig das der deutschen Regierung hat’. Kittel erwähnt noch, dass er bei der Auswahl des deutschen Vortragenden für die erste Generalversammlung Lietzmann vorgeschlagen und gegen die Alternativvorschläge Dibelius und Schniewind durchgesetzt habe. Er habe damit erreicht, ‘dass keinem Ausländer auch nur von ferne zum Bewusstsein kommt, dass an diesen beiden Herren gewisse Schwierigkeiten haften’.
Nun geht er auf die besonders wichtige Frage der Mitgliedschaft ein und entfaltet ein konspiratives Szenario. Es habe sich ‘durch einen glücklichen Zufall eine für uns besonders günstige Lage ergeben’, denn die ‘Abwesenheit de Zwaans benützend’ habe er erreichen können, dass er und dieser eine Liste der kontinentalen Mitglieder vorlegen sollten. In Zukunft werde hingegen die Vollversammlung entscheiden. Für die Erstellung dieser Liste treffe er sich im Januar mit de Zwaan. Er könne dann eine deutsche Liste nach Gefallen aufstellen und zugleich auf die Auswahl der anderen kontinentalen Europäer einwirken. Kittel erwähnt ausdrücklich, dass die Engländer hinsichtlich der deutschen und der kontinentalen Mitglieder ‘unsicher und ziemlich desinteressiert’ waren. Da noch dazu de Zwaan nach der Einschätzung Kittels ‘ein verständiger und politisch einsichtiger Mann und kein Freund Barths’ sei, sehe er gute Möglichkeiten, nicht nur auf die Auswahl der deutschen, sondern auch auf die der anderen kontinentalen Mitglieder einzuwirken. Er macht auch sofort deutlich, in welcher Weise er die Liste beeinflussen will:
Das scheint mir von besonderer Bedeutung vor allem für die Schweiz. Ich hoffe bestimmt, dass es möglich sein wird, 2 bestimmte Schweizer Neutestamentler auszuscheiden, von denen der eine Halbjude und der andere deutscher Emigrant und dezidierter Barthianer ist, und damit die Schweizer Delegation so zu gestalten, dass es für uns tragbar wird. Ich halte diesen Punkt für einen der allerwichtigsten im Aufbau der Societas.
Kittel hatte hier seinen theologischen und politischen Intimfeind Karl Ludwig Schmidt (1891–1956) und den späteren Nachfolger Bultmanns in Marburg, Werner Georg Kümmel (1905–1995), im Auge.
Am 28. Dezember 1938, als das Treffen mit de Zwaan, das in Köln stattfinden sollte, noch bevorstand, schrieb er an das Ministerium und unterstrich dabei, dass er sich an der Gründung der Gesellschaft ausschließlich wegen der politischen Erwartungen des Ministeriums beteiligt habe: ‘Ich habe die beiden Reisen (London und Köln) nicht als Privatmann auf mich genommen, hätte sie überhaupt bestimmt nicht unternommen, wenn das Ministerium nicht so nachdrücklich meine Mitarbeit gewünscht haben würde’. Am 31. Dezember korrigierte er die Reisepläne von Köln nach Leiden und bat um einen erweiterten Zuschuss in ‘holländischer Valuta’.Footnote 86 Das Treffen mit de Zwaan, das für die Auswahl der kontinentalen Mitglieder der Gesellschaft entscheidend sein sollte, fand am 15. Januar 1939 in Leiden statt. Erneut machte Kittel auf der Reise nach Leiden einen Zwischenhalt in Berlin und sprach am 13. Januar 1939 im Ministerium vor. Über die Inhalte dieser Unterredung ist in den Unterlagen nichts vermerkt. Über das Treffen mit de Zwaan berichtete Kittel ausführlich dem Ministerium am 25. Februar.Footnote 87 Er habe mit diesem ‘in voller Harmonie’ eine Liste von 15 deutschen Neutestamentlern zusammengestellt, die inzwischen in England übernommen worden sei. Da Kittel und de Zwaan die Aufgabe hatten, 30 Vorschläge zusammenzustellen, liegt die Annahme nahe, dass man sich auf 15 deutsche und 15 weitere kontinentale Fachgelehrte verständigt hatte. Kittel teilte mit, dass die deutschen Neutestamentler ‘auch unter politischen Gesichtspunkten sehr sorgfältig ausgewählt’ seien und stellte dabei besonders heraus, ‘dass z.B. es gelang, in Pg. [Parteigenosse, LB] Dozent Dr. Kuhn einen jungen Orientalisten mit einzuführen, der gleichzeitig Fachmann in allen die Judenfrage betreffenden Dingen ist’. Kuhn war bereits seit 1932 NSDAP-Mitglied, Scharführer der SA und ‘Referent für weltanschauliche Schulung des SA-Sturmbann I/R 125’.Footnote 88 Er arbeitete eng mit Kittel im Reichsinstitut für die Geschichte des neueren Deutschland, Abteilung Judenfrage, zusammen.Footnote 89 Kittel behauptete, dass er hinsichtlich der Teilnehmer aus dem Baltikum und Polen wirksamen Einfluss auf die Berufung auslandsdeutscher Wissenschaftler habe nehmen können. Kittel konnte de Zwaan dazu bewegen, Horst aus Posen, als Vertreter Polens und Seesemann aus Riga, als Vertreter des Baltikums zu nominieren.Footnote 90 Beide wurden im Sommer 1939 als Mitglieder zur ersten Generalversammlung eingeladen. Weiterhin stellte Kittel heraus, dass er sein Ziel hinsichtlich der Schweizer Mitglieder habe erreichen können: ‘Für die Schweiz wurde der Fachvertreter von Basel (Marxist, Emigrant) und einer der beiden Zürcher Fachvertreter (Halbjude) ausgeschaltet. Beide wären, wenn die kontinentale Liste von England durchgesprochen worden wäre, sicher vorgeschlagen worden.’ Im Ergebnis legte Kittel dem Ministerium eine ‘Liste der vom englischen Sekretariat zum Beitritt in die Studiorum Novi Testamenti Societas aufgeforderten deutschen Herren’ vor, die 15 Namen enthält: Behm, Beyer, Bultmann, Dibelius, Grundmann, Gutbrod, Jeremias, G. Kittel, H. Kittel, Kuhn, Lietzmann, Schniewind, Strathmann, Stumpff, Wendland. Während Behm, Bultmann, Dibelius und Lietzmann bereits von britischer Seite genannt worden waren, begegnen hier die Namen Grundmann, J. JeremiasFootnote 91 und H. StrathmannFootnote 92 zum ersten Mal. Jedenfalls wird man vermuten dürfen, dass Jeremias wie Behm, Bultmann und Dibelius durch die Einflussnahme der britischen Mitglieder des Komitees und/oder de Zwaans durchgesetzt worden waren. Vielleicht gilt das auch für Strathmann. Mit Kittel hatte er sich Ende 1936 wegen eines Aufsatzes von Helmut Gollwitzer in den Theologischen Blättern, die Strathmann gemeinsam mit K. L. Schmidt herausgab, bitter zerstritten.Footnote 93 Kittel wusste aber nur zu genau, dass Strathmann seine Macht fürchtete und deswegen eine Versöhnung anstrebte.Footnote 94 Grundmann wiederum war unter den deutschen Neutestamentlern weitgehend isoliert. Jeremias und Bultmann hatten im Jahr 1937 von Kittel ‘wegen der Art seiner Propaganda für seine kirchliche Richtung’ Grundmanns Ausschluss aus dem Mitarbeiterkreis des theologischen Wörterbuchs gefordert.Footnote 95 Kittel hielt auch deswegen zu Grundmann einen gewissen taktischen Abstand. Dennoch wird die Benennung des international wenig bekannten Theologen auf das Zusammenwirken Kittels mit dem Ministerium zurückgehen. Grundmann selbst war jedenfalls der Meinung, er habe die Mitgliedschaft durch die Fürsprache Kittels erlangt.Footnote 96 Stumpff und Gutbrod wiederum verdankten ihre Mitgliedschaft ausschließlich der Tatsache, dass Kittel auf die Unterstützung seiner Assistenten nicht verzichten wollte. Die Vorschläge von Beyer,Footnote 97 H. Kittel,Footnote 98 Kuhn und WendlandFootnote 99 gehen nachweislich auf den Einfluss Kittels zurück. Das Ministerium leitete den Bericht am 22. März 1939 erneut weiter an die beteiligten Ämter und an den ‘Reichsführer SS z. Hd. Dr. Six’.Footnote 100
Boobyer hatte es übernommen, die von de Zwaan und Kittel benannten Neutestamentler einzuladen. Am 5. März 1939 teilte Jeremias dem Erziehungsministerium mit, dass er aus Birmingham ‘die Einladung erhalten habe, der neugegründeten Studiorum Novi Testamenti Societas beizutreten’.Footnote 101 Er habe von Kittel gehört, dass die Genehmigung des Beitritts ‘behördlicherseits’ für seine Person zugesagt worden sei. Er bitte um die Genehmigung zum Beitritt. Ein ähnliches Schreiben ist auch im Nachlass Bultmanns zu finden.Footnote 102 Im Falle Strathmanns ist auch der Schriftwechsel mit Boobyer erhalten: Am 10. März erklärte Strathmann gegenüber Boobyer seinen Beitritt, den dieser wiederum schon am nächsten Tag bestätigte.Footnote 103 Gleichzeitig ersuchte Strathmann im Ministerium mit Verweis auf Kittel um die Genehmigung der Mitgliedschaft nach.Footnote 104
Am 12. April schrieb Kittel einen ausführlichen Rundbrief an alle Kollegen.Footnote 105 Er fragte nach Englischkenntnissen und nach der Bereitschaft, eine Reise nach England zu unternehmen. Er deutete an, dass die Auswahl derjenigen, denen die Reise nach Birmingham gestattet werden würde, auch von ‘den augenblicklichen politischen Umständen’ beeinflusst sei. Er machte vor allem deutlich, welchen Einfluss er auf die Entscheidungen des Ministeriums hatte:
Ebenso bitte ich schon jetzt ebenso herzlich, dass es mir von keinem der betroffenen Herren später übelgenommen werden möge, wenn sich seine Teilnahme in diesem Jahre nicht ermöglichen lässt. Die Herren dürfen versichert sein, dass ich alles in meinen Kräften Stehende tue, für möglichst viele Herren die Genehmigung der Teilnahme zu ermöglichen.
Parallel dazu begann das aufwändige staatliche Genehmigungsverfahren, in dem sich Kittel immer wieder beim Ministerium zu Wort meldete, um über die Größe der Delegation und die Bereitstellung von Reisekosten und Devisen zu verhandeln. Im Zuge jeder einzelnen Genehmigung über den Dienstweg nahmen die Dekane, Rektoren und die NS-Dozentenbünde Stellung. Nur der NS-Dozentenbund aus Halle lehnte am 10. Mai 1939 die Reise von Schniewind ab. Das Ministerium überging diesen Einwand mit Verweis auf die Überlegungen Kittels, nach denen ein Reiseverbot gegen Schniewind das ganze Unternehmen in Frage stellen würde.
In einem undatierten Rundbrief an alle Mitglieder informierte Boobyer im Frühjahr 1939 über den Stand der Dinge.Footnote 106 Er teilte mit, dass die Gesellschaft sich seit der Konferenz im September 1938 gut entwickelt habe. Inzwischen seien weitere 46 Gelehrte Mitglieder geworden. Die Gesamtmitgliedschaft läge nun bei 65, 22 davon seien nichtbritisch. Das Komitee plane die nächste Konferenz für den 20.–22. September 1939 und gedenke die Einladung aus Birmingham anzunehmen. Die Vorträge hierfür seien an de Zwaan, Lietzmann, Duncan und Knox vergeben. Eine Satzung (‘constitution for the Society’) sei vorbereitet, die Beitragszahlungen sollten nun an W. F. Howard erfolgen, der jetzt der Schatzmeister (‘treasurer’) sei. Dieses Schreiben ist vermutlich Ende April versendet worden, denn am 5. Mai beantragte Grundmann bereits seine Reisegenehmigung.Footnote 107 Am 19. Mai 1939 schrieb Boobyer an Bultmann, er habe eine anonyme Überweisung aus Marburg erhalten und verstehe dies als Bultmanns Beitragszahlung an die SNTS.Footnote 108 Die Zuversicht des Gründungskomitees spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass nun ein repräsentativer Briefkopf, auf dem die Namen aller Mitglieder des provisorischen Komitees verzeichnet sind, die Schreiben des Sekretärs ziert.
Im Juli 1939 musste sich Kittel nochmals mit dem Ministerium über den engeren Teilnehmerkreis verständigt haben, wie ein Schreiben von Jeremias an den Reichserziehungsminister vom 19. Juli belegt.Footnote 109 Jeremias schreibt, Kittel habe ihm mitgeteilt, dass Jeremias nicht für die Teilnahme an der Generalversammlung in Birmingham habe berücksichtigt werden können. Wie sehr Jeremias an einer Teilnahme interessiert war, zeigt der Sachverhalt, dass er sich dem Reichserziehungsminister ‘als Ersatzmann’ anbot.
Boobyer gibt an, dass die Einladung im Juni an 70 Mitglieder versendet worden sei, darunter 25 nicht-britische.Footnote 110 Die Mitgliederliste im gedruckten Programm umfasst allerdings 91 Namen. Als deutsche Mitglieder sind genannt: H. W. Beyer, R. Bultmann, M. Dibelius, W. Grundmann, J. Horst, J. Jeremias, G. Kittel, H. Kittel, K. G. Kuhn, J. Schniewind, H. Seesemann, H. Strathmann und H.-D. Wendland. Kittel hatte aber nicht alles durchsetzen können: Im Programm war auch der Züricher Neutestamentler W. G. Kümmel aufgelistet, gegen den Kittel, getrieben durch seine rassistischen Ressentiments, offensichtlich erfolglos intrigiert hatte. Allerdings konnte er die Mitgliedschaft von Beyer, Grundmann, Horst, H. Kittel, Kuhn, Seesemann und Wendland erreichen. Außer Horst waren alle von Kittel in Kooperation mit dem Ministerium Vorgeschlagenen Mitglieder in der NSDAP oder in einer anderen NS-Organisation (SA, NSLB). Von denjenigen hingegen, die unabhängig von Kittel in die SNTS aufgenommen wurden, nämlich Behm, Bultmann, Dibelius, Jeremias, Schniewind und Strathmann, war nur Behm in einer der genannten NS-Organisationen. Behm war zudem erst 1937 in die NSDAP eingetreten. Wie es zu dem Vorschlag Strathmanns gekommen ist, ist aus den Quellen nicht ersichtlich.Footnote 111 Am 15. August 1939 erging der abschließende Erlass des Ministeriums ‘Betr. Tagung d. Studiorum Novi Testamenti Societas in Birmingham vom 20.–22. September 1939’.Footnote 112 Dieser enthielt nun auch einige Überraschungen. Zunächst wird vermerkt, dass Kittel am 1. Oktober 1939 einen Bericht vorlegen solle. Er wird zum ‘Führer der deutschen Teilnehmer an dieser Tagung’ ernannt, zur Delegation gehören nun aber neben Kittel nur Behm, Dibelius, Grundmann, Kuhn, Lietzmann, Schniewind, Seesemann, Stumpff und Gutbrod. Im Juli 1939 war also nicht nur die Entscheidung gefallen, Jeremias nicht zu berücksichtigen, sondern auch Beyer, Bultmann, H. Kittel, Strathmann und Wendland wurden übergangen oder waren zurückgetreten. Horst, der zu diesem Zeitpunkt polnischer Staatsbürger war, wurde von diesem Vorgang nicht erfasst. Der Minister notiert: ‘Eine Ergänzung der Teilnehmerliste behalte ich mir vor’. Die Teilnehmer erhalten eine Abschrift des Erlasses und erfahren dadurch, dass sie aufgefordert werden ‘Ihren [Kittels, LB] Anordnungen und Wünschen als Führer der Teilnehmer nachzukommen, damit ein geschlossenes und wirkungsvolles Auftreten der deutschen Teilnehmer auf der Tagung gewährleistet ist’. Neben weiteren formalen Hinweisen wird ausdrücklich festgehalten, dass auch der ‘Stellvertreter des Führers’ (Rudolf Heß) und die Auslandsorganisation der NSDAP über die Reise benachrichtigt seien. Für Lietzmann werden als Reisekosten 300 RM, für die weiteren Teilnehmer je 100 RM bereitgestellt. Zu Schniewind wird erneut vermerkt, dass seine Mitgliedschaft wegen ‘der besonderen Situation der deutschen Gruppe’ geboten und Bedenken ‘mit Rücksicht auf die Führung der deutschen Teilnehmer durch Prof. Dr. Gerhard Kittel’ zurückzustellen seien. Ergänzend zum Erlass wurde noch am 28. August 1939 Hermann Strathmann aufgefordert, die Mitgliedschaft der SNTS zu erwerben.Footnote 113 Allerdings erreichte ihn dieses Schreiben über den Dienstweg erst am 15. September 1939 mit dem Hinweis, ‘daß der Erlaß vor dem Kriegszustand mit England ergangen ist’. Zuvor hatte am 28. August ein ‘Schnellbrief’ vom Auswärtigen Amt alle Stellen dazu aufgefordert, ‘die deutschen Teilnehmer an dem Kongreß in Birmingham von der Ausreise zurückzuhalten’.Footnote 114 Am Morgen des 1. September überfielen deutsche Truppen Polen und der Zweite Weltkrieg begann.
Der Kriegsausbruch hatte verhindert, dass die erste Generalversammlung der SNTS hatte stattfinden können. Während des Krieges hielten die britischen Kollegen aber die Idee der Gesellschaft lebendig. 1940 starb Creed und Boobyer unterrichtete vermutlich alle Mitglieder davon. Im Falle des finnischen Professors an der Universität Helsinki, Gulin,Footnote 115 ist ein persönliches Schreiben Boobyers vom 15. März 1940 erhalten.Footnote 116 Der Briefumschlag aus England trägt eine Manschette mit der Aufschrift ‘Opened by Censor’. Boobyer geht zunächst auf die bedrückende Kriegslage in Finnland ein und versichert Gulin, dass die Mitglieder der Gesellschaft in ihren Gedanken bei ihm seien. Der unerwartete Erfolg der finnischen Truppen im Abwehrkampf gegen die Rote Armee im Winterkrieg 1939/40 hatte auch bei den neutestamentlichen Kollegen großen Eindruck hinterlassen. William Manson hatte bereits am 2. Februar 1940 an Gulin geschrieben und sich dabei außerordentlich anerkennend über den heldenhaften Kampf der großen finnischen Nation (‘heroic struggle of your great nation in the present’) geäußert.Footnote 117 Boobyer wiederum hatte die Aufgabe, vom Tod Creeds zu berichten. An dessen Stelle als Vorsitzender des Komitees (‘chairman’) sei nun T. W. Manson getreten. Boobyer schließt dann optimistisch: ‘We are hoping to be able to arrange a conference of the Society for next September’. Das Schreiben Boobyers war auf dem neugestalteten Briefpapier der Gesellschaft versandt worden. Der Briefkopf der Gesellschaft nannte alle Mitglieder des provisorischen Komitees, auch Gerhard Kittel. Diese Briefvorlage blieb mindestens bis 1947 unverändert in Gebrauch. Wie oft sie zwischen den Jahren 1940 und 1945 noch verwendet wurde, ist unbekannt. In den Jahren des Krieges äußerten sich jedoch zahlreiche deutsche Theologen öffentlich über ihre Sicht der englischen Politik, darunter auch die Mitglieder der ersten Stunde Dibelius und Kittel. Dibelius verfasste eine ausführliche Abhandlung über das britische Christentum, in der er England ‘Heuchelei’ und ‘Pharisäismus’ vorwarf.Footnote 118 Kittel äußerte sich noch schärfer in der angesehenen Historischen Zeitschrift, auf die er als Mitglied der Forschungsabteilung Judenfrage unmittelbaren Zugriff hatte:Footnote 119 Er diagnostizierte dem ‘englischen Inselpharisäer’ ‘unheiligsten zynischsten Materialismus’, um schließlich zu behaupten: ‘Immer wieder erhebt sich für uns die Anklage: Pharisäismus! Ich wende dieses Wort nicht erst jetzt, im Kriege, an. Ich darf es tun, weil ich es drüben, an englischen Kaminen, Auge in Auge, manchesmal ausgesprochen habe.’Footnote 120 Wenn die Behauptung Kittels, er habe diesen Vorwurf an englischen Kaminen ausgesprochen, einigermaßen zutrifft, dann kann es nicht verwundern, dass er die Situation anlässlich seiner Teilnahme an der Sitzung des provisorischen Komitees am 20. Dezember 1938 als ‘schwierig’ empfunden hatte.
Am 23. April 1946 trafen sich die britischen Mitglieder des provisorischen Komitees zur ersten Sitzung seit dem 20. Dezember 1938. T. W. Manson, C. H. Dodd, W. F. Howard, J. Lowe und G. Boobyer nahmen die Entschuldigungen für das Fernbleiben von J. de Zwaan und G. S. Duncan zur Kenntnis und verabschiedeten das Protokoll der letzten Sitzung: ‘The minutes of the last meeting held on December 20th, 1938, were read and signed’.
5. Ergebnis und Ausblick (1946–1954)
Die Berichte Kittels an das Reichserziehungsministerium sind eine einzigartige Quelle. Durch sie bekommt man einen Einblick in die Gründungsphase der Gesellschaft, der weder durch die Protokolle der SNTS noch durch die Darstellung Boobyers eröffnet wird. Zur Glaubwürdigkeit der Quellen wird man zunächst sagen können, dass keine der Aussagen Kittels sich im Abgleich mit den Unterlagen im Archiv der SNTS als unzutreffend erwiesen hat. Seine Mitteilungen über Termine, Tagungsorte, Namen und Entscheidungen stimmen mit den Angaben, die sich aus dem Archiv der SNTS und aus den übrigen Quellen ergeben, überein. Die Einschätzungen, die Kittel über einzelne Personen äußert, sind ebenfalls nachvollziehbar. So vertrat Creed, von dem Kittel mitteilte, er habe Verständnis für die deutschen Belange gezeigt, eine sehr national orientierte Sichtweise des Verhältnisses von britischem Staat und anglikanischer Kirche, die es durchaus plausibel erscheinen lässt, dass er für die nationalkirchlichen Einigungsbestrebungen in Deutschland eine gewisse Sympathie hegte. Ähnliches lässt sich von Kittels Urteil über de Zwaan sagen, er sei ‘politisch’ vernünftig und theologisch gegen Barth eingestellt. Etwas zurückhaltender wird man allerdings sein müssen, wenn Kittel gegenüber dem Ministerium bestimmte Entwicklungen als sein Verdienst darstellt. Die Behauptung, er habe darauf hingewirkt, dass die Gesellschaft keine rein englische Angelegenheit geworden sei, ist insofern übertrieben, als durch das Engagement von de Zwaan bereits vor Kittels Einflussnahme die besondere Rolle eines kontinentalen Europäers feststand.
Den größten Einfluss übte Kittel zweifellos auf die Auswahl der deutschen und einiger kontinentaler Mitglieder aus. Besondere Bedeutung hatte hier das Treffen mit de Zwaan im Januar 1939, das in den bisherigen Darstellungen der Geschichte der SNTS nicht erwähnt worden ist. Kittel besprach nur mit de Zwaan die Fragen der deutschen und kontinentalen Mitgliedschaft. Sein konspiratives Zusammenwirken mit den NS-Institutionen konnte durch den weitgehenden Verzicht des Komitees auf Mitsprache eine fast unkontrollierte Wirksamkeit entfalten. Immerhin waren auch die Reisegenehmigungen für Schniewind und Dibelius zu einem guten Teil Kittel zu verdanken, wenn auch einschränkend hinzuzufügen ist, dass hier taktische Gesichtspunkte leitend gewesen sind. Kittel selbst setzte vor allem NSDAP-Mitglieder und Mitglieder von anderen NS-Organisationen (SA, NSLB) durch, die einerseits eine gute neutestamentliche Qualifikation mitbrachten—Grundmann, Horst, H. Kittel und Seesemann hatten begriffsgeschichtliche Studien vorgelegtFootnote 121—und die andererseits auch politisch einen klaren pro-nationalsozialistischen Kurs garantierten. Bei Kuhn und Beyer ist die exegetische Qualifikation weniger offensichtlich. Beyer war zwar im Jahr 1937 Professor für Neues Testament in Leipzig geworden, aber von Hause aus war er Kirchengeschichtler gewesen. Seine Publikationen im Bereich des Neuen Testaments bis 1937 sind überschaubar und umfassen vor allem einige Artikel im Theologischen Wörterbuch. Kuhn war weder Theologe noch Neutestamentler. Seine Dissertation zum tannaitischen Midrasch Sifre zu Numeri war noch nicht vollständig erschienen.Footnote 122 Seine orientalistische Habilitation umfasst 81 Seiten und versucht nachzuweisen, dass der syrische Text der Psalmen Salomos direkt auf eine hebräische Urfassung zurückgeht.Footnote 123 Gerade bei Kuhn ist es überdeutlich, dass es letztlich die Zusammenarbeit mit Kittel in der Forschungsabteilung Judenfrage und die Mitarbeit am Aufbau einer nationalsozialistisch orientierten Judenforschung war, die den ‘Pg. Dozent Dr. Kuhn’ aus der Sicht Kittels und des Ministeriums qualifizierte.
Für Wendland liegen die Dinge etwas komplizierter. Er war ein Schüler von Dibelius, gehörte nicht zum Mitarbeiterkreis des Theologischen Wörterbuchs, hatte aber gute Kontakte zum Reichserziehungsministerium.Footnote 124 Er und Kittel begegneten sich in Tübingen, als Wendland dort über ‘Evangelium und Nationalismus’ vortrug.Footnote 125 In seinen Memoiren berichtet dieser, er sei in Kittels Büro gebeten worden: ‘Dieser thronte in einem vornehm ausgestatteten Zimmer hinter einem mächtigen Schreibtisch wie ein Generaldirektor’.Footnote 126 Am 1. November 1933, während der Aufnahmesperre zur NSDAP, war Wendland in die Reichschaft Hochschullehrer im nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) eingetreten und hatte sich dort auch aktiv beteiligt.Footnote 127 Wendland gehörte zum so genannten ‘bischöflichen Flügel’ der Bekennenden Kirche, der jegliche politische Opposition zum NS-Regime zu vermeiden suchte.Footnote 128
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass offenbar keine der sieben von Kittel durchgesetzten Mitgliedschaften (Beyer, Grundmann, Horst, H. Kittel, Kuhn, Seesemann, Wendland) von den britischen oder anderen europäischen Gründungsmitgliedern aufgrund von international anerkannten wissenschaftlichen Leistungen vorgeschlagen oder auch nur erwogen wurde. Angesichts des Sachverhalts, dass bei der Zusammenstellung der deutschen Delegation für die erste Generalversammlung Bultmann und Jeremias übergangen, die NSDAP-Mitglieder Grundmann, Kuhn und Seesemann hingegen berücksichtigt wurden, wird deutlich, welche Gesichtspunkte letztlich leitend waren. Für Kittel und das REM war die wissenschaftliche Qualifikation der deutschen Mitglieder nur eine notwendige Voraussetzung, ihre politische Ausrichtung hingegen galt ihnen als die entscheidende Bedingung für ihre Auswahl.
Welche Kenntnisse die deutschen Kollegen von Kittels politischem Zusammenwirken mit den NS-Institutionen hatten, ist schwer einzuschätzen. Die Berichte Kittels belegen, dass ihm selbst an einer konspirativen Zusammenarbeit mit dem Ministerium gelegen war. Dieses bezog wiederum den Geheimdienst der SS in die Absprachen mit ein und schließlich hatte auch der ‘Stellvertreter des Führers’, Rudolf Heß, Interesse an den Vorgängen. Kittels näheres Umfeld ahnte zumindest von den besonderen Möglichkeiten, über die dieser Mann im NS-Staat verfügte. Am 18. Juni 1939 schrieb Kittels Tübinger Assistent, Albrecht Stumpff, an Richard Gutteridge, Birmingham,Footnote 129 er rechne fest mit einer Genehmigung der Reise zur ersten Generalversammlung im September 1939: ‘Prof. Kittel hat in seiner bemerkenswert geschickten Art die Erlaubnis zur Reise für uns schon beinahe erwirkt’.
Wie die Vorgänge von den übrigen Mitgliedern des Komitees eingeschätzt wurden, ist ebenfalls kaum zu entscheiden. Kittel bescheinigte ihnen jedenfalls einerseits Desinteresse und eine Fixierung auf die innerbritischen Fragen, andererseits sah er sich aber auch einem gewissen Druck ausgesetzt, Neutestamentler, die der Bekennenden Kirche nahe standen, zu berücksichtigen. Die Drohung, den verhafteten Martin Niemöller einzuladen, ist möglicherweise nie ausgesprochen worden, für Kittel stand sie aber jedenfalls im Raum. Das Komitee hielt auch an der Einladung von Kümmel fest, wie überhaupt antijüdische Ressentiments auf britischer Seite keine Rolle gespielt haben dürften, was nicht zuletzt die Einladung der 1933 aus Deutschland emigrierten David Daube (1909–1999) und Günther Zuntz (1902–1992) zur 1939 geplanten ersten Generalversammlung nahe legt.Footnote 130
Das Engagement, das Kittel selbst für die Gesellschaft entfaltete, scheint, soweit sich das aus den genannten Quellen erschließen lässt, weniger fachlichen Gesichtspunkten entsprungen zu sein, als vielmehr einer national orientierten aggressiv-expansionistischen Weltsicht mit judenfeindlicher Ausrichtung. Steinweis urteilt über Kittel: ‘If there is a single tragic figure in the history of Nazi anti-Jewish scholarship, it is Gerhard Kittel’.Footnote 131 Wenn man allerdings mit Aristoteles daran festhält, dass zur Tragik das Moment des Unverschuldeten oder zumindest das Unwissen über die Zusammenhänge gehört, dann wird man Kittel angesichts seines bewussten Engagements für den Nationalsozialismus nur bedingt eine tragische Figur nennen können.
Wahrscheinlich ist es aber ohnehin angemessener, das Verhalten der deutschen und der britischen Fachgelehrten vor dem Hintergrund kultureller und mentalitätsgeschichtlicher Prägungen zu beurteilen. Zahlreiche vergleichende kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu den deutsch-britischen Beziehungen in der Zwischenkriegsperiode stellen heraus, dass einer individualisierten, liberalen, staatsfernen, unmilitärischen und an nationalen Fragen wenig interessierten britischen Haltung eine eher kollektive, gemeinschaftsorientierte, militarisierte, nationalistische und oft rassistische Haltung auf der deutschen Seite gegenüberstand.Footnote 132 So wird man die Haltung der britischen Gründungsmitglieder, die Kittel als ‘Desinteresse’ und ‘Bequemlichkeit’ deutete,Footnote 133 als Ausdruck einer liberalen und offenen wissenschaftlichen Kultur ansehen können, die an der Bildung von individuellen wissenschaftlichen Netzwerken (Ego-Netzwerken) interessiert war und für national orientierte und unter nationalen Gesichtspunkten konkurrierende Wissenschaftlergemeinschaften, wie sie Kittel und seine Gruppe anstrebten, kein Verständnis hatte. Die Schwäche des liberalen Ansatzes bestand nun darin, dass man de Zwaan und Kittel sich selbst überließ, ohne die politischen Implikationen zu bedenken, die im Falle der Person Kittels mit Händen zu greifen waren. Man akzeptierte zudem, dass der deutsche Vertreter das ‘Vertrauen … der deutschen Regierung’ haben solle, die in diesen Jahren eine Regierung unter der Führung Hitlers war. Was als Appeasement-Politik oder einfach als Naivität gegenüber Kittel erscheinen mag, ist dann aber doch auch als Ausdruck eines stabilen liberalen wissenschaftlichen Selbstverständnisses zu bewerten, das darauf vertraut, dass sich die Wahrheit in einer staatsfernen und selbstorganisierten Wissenschaftlergemeinschaft früher oder später durchsetzen wird.
Wie entwickelte sich nun die Gesellschaft nach dem Krieg und im Wissen um die von Deutschen begangenen Verbrechen dieser Jahre weiter? Am 23. April 1946 traf sich das Komitee zum ersten Mal nach dem Krieg. Man diskutierte wieder die Vergabe von Mitgliedschaften, erneut befasste sich das Komitee selbst nur mit den britischen Vorschlägen und erneut wurde de Zwaan gebeten, eine Liste der kontinentalen Mitglieder zusammenzustellen.Footnote 134 De Zwaan sollte auch einen kontinentalen Europäer bestimmen, der an Stelle des inzwischen verstorbenen Lietzmann den Hauptvortrag während der Generalversammlung übernehmen sollte. Im Briefkopf der Gesellschaft wurde Kittel als Mitglied des Komitees weiter geführt und auch die Mitgliedschaften der deutschen Wissenschaftler wurden beibehalten. Man plante allerdings, auf eine Ersetzung der Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft durch ein internationales Organ hinzuwirken.Footnote 135
Die deutschen Mitglieder erhielten weiterhin die Schreiben der Gesellschaft. Strathmann etwa reagierte enthusiastisch auf die Einladung zur Generalversammlung am 26.–28. März 1947, die ihn im Mai 1946 erreichte. Er schrieb am 11. Juni 1946 an Boobyer: ‘Die Taube brachte nach der Sintflut einen Ölzweig. So erschien mir der kleine Brief vom 21. Mai, den mir die Post dieser Tage brachte.’Footnote 136 Wie ging nun aber das Komitee mit Grundmann, Kittel und Kuhn um? Alle drei hatten ihre Ämter verloren. Kittel war am 3. Mai 1945 verhaftet worden und blieb bis Oktober 1946 interniert. Die judenfeindlichen Aktivitäten der Genannten waren spätestens seit der Veröffentlichung von Weinreichs Studie ‘Hitler's Professors’ im Jahr 1946 in Grundzügen bekannt.Footnote 137 Aus den Protokollen der SNTS ist nicht zu entnehmen, dass ihre Mitgliedschaft überdacht wurde. Man hielt zu Kittel brieflich Kontakt und lud ihn zu allen Sitzungen ein. Am 20. Dezember 1946 schrieb ihm Boobyer und drückte sein Mitgefühl aus: ‘purely as private person, let me express my sympathy’.Footnote 138 Er legte Kittel nahe, persönlich an das Komitee zu schreiben, da seine Lage sicher diskutiert werden würde. Am 26. März 1947 wurde im Komitee ein Schreiben Kittels verlesen:
A Letter was read from Prof. Gerhard Kittel in which he expresses his great disappointment at not being able to attend the committee and the General meeting. He also made reference to the suffering he had undergone; but from other letters received by the secretary from Prof. Kittel it was learnt that Prof. Kittel was now able to resume academic work in the library of a Benedictine abbey at Beuron in the French zone of Germany. The committee decided that the new President, Prof. J. de Zwaan, and the secretary should together write a letter to Prof. Kittel on behalf of the committee.Footnote 139
In den Entnazifizierungsunterlagen Kittels findet sich das Schreiben von de Zwaan und Boobyer vom 29. März 1947, welches den Briefkopf mit der Nennung Kittels als Mitglied des Komitees verwendet. Das Komitee teilt Kittel darin mit, man habe sein Schreiben vom 12. Februar 1947 in der Sitzung des Komitees am 26. März vorgelesen. Nun wird ihm offiziell bestätigt: ‘The committee wishes to express its deep sympathy with you’.Footnote 140 Kittel und seine Unterstützer in Beuron und Tübingen vervielfältigten das Schreiben, fertigten eine deutsche Übersetzung an und verwiesen in der Folge noch energischer auf die Anerkennung Kittels als Fachwissenschaftler. Er selbst berichtete am 5. Mai 1947 an den Staatskommissar für die politische Säuberung von den mehrfachen Einladungen zu Zusammenkünften der SNTS in den Jahren 1947 und 1948. Für ihn war das Schreiben der SNTS eine ‘Sympathie-Kundgebung der internationalen Repräsentation eines Faches’.Footnote 141
Allerdings informierte man Kittel nicht darüber, dass in der gleichen Sitzung Jeremias als neues deutsches Mitglied für das Komitee vorgeschlagen worden war. Als dieser mitteilte, er könne das Amt wegen gesundheitlicher Gründe und wegen der Reisebeschränkungen für Deutsche nicht übernehmen, verzichtete man vorerst darauf, einen deutschen Vertreter ins Komitee zu berufen.Footnote 142 Kittel verstarb am 11. Juli 1948 nach längerer Krankheit.
Kuhn war am 5. Juli 1945 zunächst entlassen, dann am 18. Oktober 1945 wieder eingesetzt und schließlich im Januar 1946 ‘unwiderruflich’ seines Amtes an der Universität Tübingen enthoben und nach Biberach verbannt worden.Footnote 143 Er blieb ebenfalls Mitglied der Gesellschaft und wurde 1949 mit der Vertretung einer Professur für Neues Testament in Göttingen betraut sowie später auf diese Professur berufen. Im Jahr 1951 geriet die Karriere Kuhns wieder ins Stocken. Kuhn vertrat 1950/51 einen neutestamentlichen Lehrstuhl in Mainz. Als die Theologische Fakultät auf Kuhns Schrift über das ‘Judentum als weltgeschichtliches Problem’ aufmerksam wurde,Footnote 144 verhinderte sie, dass Kuhn, der als Zweiplatzierter auf der Berufungsliste nach der Absage des Erstplatzierten zum Zuge gekommen wäre, berufen wurde.Footnote 145 Auch in Marburg wurde Kuhn wegen seiner NS-Vergangenheit nicht berücksichtigt. Zahlreiche Kollegen suchten nun einen Weg, auf dem man Kuhn rehabilitieren könnte. Es wurde sogar die Einsetzung einer Kommission des theologischen Fakultätentages erwogen, was der damalige Vorsitzende Kurt Galling (1900–1987) aber ablehnte.Footnote 146 Ernst Käsemann (1906–1998), Otto Weber (1902–1966) und Ernst Wolf (1902–1971) machten Kuhn in einem persönlichen Gespräch klar, dass eine Berufung auf einen Lehrstuhl nur möglich sei, wenn er sich öffentlich von der genannten Schrift lossage.Footnote 147 Kuhn veröffentlichte einen solchen Widerruf als Fußnote zu einem kurzen Beitrag über die Schriftrollen vom Toten Meer in der Zeitschrift Evangelische Theologie.Footnote 148 1951 wurde er zum Schatzmeister für die deutschen Mitglieder der SNTS ernannt, die bis zu diesem Zeitpunkt von allen Beitragszahlungen freigestellt gewesen waren.Footnote 149 Während der Generalversammlung in Marburg 1954 unter der Leitung des Präsidenten Rudolf Bultmann übernahm Kuhn einen der Hauptvorträge.Footnote 150 Im gleichen Jahr wurde Kuhn auf einen Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Heidelberg berufen.
Grundmann war am 13. September 1945 aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden. In der sowjetischen Besatzungszone wurden sämtliche Schriften Grundmanns aus den Bibliotheken entfernt.Footnote 151 Eine erneute Berufung Grundmanns auf einen neutestamentlichen Lehrstuhl wurde mehrfach erwogen, immer aber im Blick auf seine NS-Vergangenheit letztlich abgelehnt.Footnote 152 1954 wurde er zum Direktor des Katechetischen Oberseminars in Eisenach, einer kirchlichen Ausbildungsstätte, ernannt. Auch für Grundmann war die Marburger Tagung des Jahres 1954 ein besonderes Erlebnis. Er kündigte sein Kommen in einer Postkarte an Bultmann an und schrieb: ‘Ich freue mich bei dieser Gelegenheit auch Sie persönlich kennen zu lernen’.Footnote 153 In seinen Lebenserinnerungen machte Grundmann deutlich, wie wichtig für ihn die Marburger Tagung war:
Es ist ein mir unvergesslicher Augenblick, als Käsemann im September 1954 auf der Terrasse des Duisberg-Hauses in Marburg vor dem Beginn des General-Meeting der Studiorum Novi Testamenti Societas, der ich durch Gerhard Kittel seit 1938 angehörte und an deren Zusammenkunft ich in diesem Jahr zum ersten Male teilnehmen konnte, einigen Kollegen und auch mir einen Sonderdruck dieses Aufsatzes überreichte.Footnote 154
Grundmann nahm an zahlreichen Tagungen der Gesellschaft teil und publizierte 1958 zum ersten Mal in den NTS.Footnote 155
Es waren aber nun andere deutsche Neutestamentler, die zu den wichtigsten Ansprechpartnern der internationalen Forschung geworden waren: Joachim Jeremias und Rudolf Bultmann. Die Gemeinschaft der Neutestamentler bemühte sich außerordentlich, beide in die Arbeit der Gesellschaft zu integrieren. Von ihrem internationalen Ansehen profitierte nun die gesamte neutestamentliche Wissenschaft in Deutschland. Die Verpflichtung zur Beitragszahlung wurde für die deutschen Neutestamentler ausgesetzt, Jeremias wurde am 27. März 1947 für das Komitee vorgeschlagen.Footnote 156 Er lud die Generalversammlung bereits für das Jahr 1950 nach Göttingen ein, was aber zurückgestellt wurde.Footnote 157 Die schwedischen Vertreter, namentlich Anton Fridrichsen, sicherten am 28. März 1947 schriftlich die Übernahme der Reisekosten für deutsche Mitglieder zu: ‘If next year the Committee decides to invite some German scholars, Swedish members will, if necessary, take upon them the expenses for the voyage of one of them’. 1948 wurden dann die ersten deutschen Mitglieder ergänzt: Ernst Käsemann, Otto Michel (1903–1993), Günther Bornkamm (1905–1990). Die Zusage der Schweden, Reisekosten zu übernehmen, wurde erst im Jahr 1949 für Bultmann in Anspruch genommen, der an der Generalversammlung dieses Jahres in Oxford teilnahm. 1951 wurde Jeremias, im Jahr darauf zusätzlich Bultmann in das Komitee kooptiert.Footnote 158
Während der Generalsversammlung in Bern 1952 sprach Bultmann über ‘The Present state of Man, according to the N.T.’Footnote 159 Im gedruckten Programm der Tagung heißt der Vortrag dann: ‘Der Mensch zwischen den Zeiten nach dem Neuen Testament’.Footnote 160 Über diese Tagung berichtete Ingalisa Reicke: ‘In 1952, however, at the first meeting “on the continent” in Bern April 11–13 (Easter) ladies were admitted to the lectures. There were about 40 participants. Bultmann played a leading role in the discussion.’Footnote 161 In Bern wurde dann auch entschieden, dass die Generalversammlung des Jahres 1954 in Marburg stattfinden solle.Footnote 162 Von deutscher Seite trugen dort Kümmel, Käsemann und, wie bereits erwähnt, Kuhn vor. In Marburg erklärte Jeremias, dass er seine Wahl zum president-elect und damit seine Nominierung zum Präsidenten der Gesellschaft für das Jahr 1955 annehme.Footnote 163 Mit dieser Tagung und den Präsidentschaften von Bultmann und Jeremias war die Integration der deutschen Neutestamentler, zu denen nach wie vor auch Kuhn und Grundmann gehörten, in die internationale Gemeinschaft abgeschlossen.