Dass Lukas im Benediktus ein vorgeprägtes Traditionsstück übernommen habe, ist unter Exegeten fast Konsens. Unterschiedliche MeinungenFootnote 1 gibt's zu dessen Herkunft (jüdisch, täuferisch oder urchristlich?), zur Sprache (hebräisch/aramäisch oder griechisch?) und zum Umfang (1.68–79 als Einheit, mit redaktionellen Zusätzen oder zusammengesetzt aus zwei Stücken?). Doch Wolter in seinem neuen Kommentar hat dem grundsätzlich widersprochen. Wie das Magnifikat könne auch das Benediktus ‘nur auf der synchronen Textebene des lk Doppelwerks sinnvoll und methodisch kontrollierbar interpretiert werden’.Footnote 2 Deutet sich hier ein Paradigmenwechsel an? Allerdings enthält der Text etliche interpretatorische Schwierigkeiten, angefangen bei der Syntax der überlangen Satzperiode 1.68–75. Unter Voraussetzung lukanischer Komposition bedarf es einer überzeugenden Erklärung. Dazu werden zunächst die bisherigen Lösungen referiert. Danach wird an Schlüsselstellen und insgesamt eine neue Lösung zur Diskussion gestellt.
1. Lukas als Verfasser nach bisherigen Auslegungen
Nur einzelne Ausleger halten Zacharias' Lied für einen Text des Lukas. Die Vorgänger, die Wolter anführt, stammen alle aus Deutschland,Footnote 3 je zwei vom Anfang und vom Ende des 20. Jh.:Footnote 4
A. von HarnackFootnote 5 hat sich ausführlich zum Magnifikat geäußert: ‘Lucas … hat ein Stück geschaffen, das jeden Griechen mit dem Zauber der alttestamentlichen Sprache bestricken musste, ohne ihn durch zu starke Barbarismen oder Solöcismen abzustossen’ (547). In einem Exkurs zum Benediktus bewundert er auch dort ‘die poetische Kunst’ (552). Er gliedert es ‘in 5 Strophen zu je 4 Zeilen’, mit Zäsuren vor 1.70, 73, 76 und 78 (553). Zu jedem Vers notiert er ‘die alttestamentlichen Vorlagen und die Art ihrer Umbildung’, dazu die Parallelen bei Lukas selbst. Der syntaktische Anschluss von σωτηρίαν (1.71) bleibt unerörtert, doch beobachtet er dreimal (1.72–75, 76–77, 79) dieselbe Konstruktion mit einem ‘Zwecksatz im Infinitiv ohne Artikel’ und ‘einem weiteren Zwecksatz’, der ‘durch ein dem Infinitiv vorangestelltes τοῦ’ markiert ist; Lukas zeige sich darin als ‘feiner Stilist’ (555). Jeweils enthalte der zweite Infinitiv ‘den letzten Zweck der Ausführung’ (554). Harnack fasst zusammen (556):Footnote 6
Lucas hat diese [beiden] Gesänge absichtlich in der Sprache der Psalmen und Propheten (LXX) gehalten: die Hebraismen … sind gewollte, der ganze Stil Kunststil, um einen alterthümlichen Eindruck zu erwecken. … Aber seinen eigentlichen Stil hat Lucas doch nicht ganz zu verbergen verstanden: die drei ersten Strophen des ‘Benedictus’ (v.68–75) sind nur äusserlich in die Form des hebräischen Psalmstils gebracht; sieht man genauer zu, so stellen sie sich als eine einzige, complicirte, gut griechische Periode dar, die in das semitische Gewand lediglich eingezwängt ist: die Hände sind Esaus Hände, aber die Stimme ist Jacobs Stimme.
G. Erdmann,Footnote 7 30 Jahre später, äußert sich nur knapp: Das Benediktus sei von Lukas ad hoc nach der Johannes-Legende geschaffen, anders als das Magnifikat, das er daraus übernommen habe (33). Es verlaufe ‘nach den kurzen Anfangssätzen … in langgewundenen überladenen und sehr wenig durchsichtigen Satzgebilden’.Footnote 8 Man sehe daran, ‘wie unbeholfen der Prosakünstler [Lk] auf dem Gebiet der Poesie war’; die Wortwahl erinnere vielfach ‘an den Hebräerbrief … und an Formulierungen des hellenistischen Christentums’ (32). Der Inhalt ist weiter nicht kommentiert. Gattungsmäßig sei 1.76–79 ein Genethliakon (Geburtstagsgedicht), der ‘Anredewechsel’ habe eine ‘genaue Analogie in der 4. Ekloge Vergils’ (10).
Für W. Schmithals,Footnote 9 weitere 50 Jahre später, stammen Benediktus und Magnifikat ‘einheitlich aus der Hand des Evangelisten’. Jeweils seien zwei Strophen chiastisch aufeinander bezogen: Die beiden äußeren beträfen das ‘christologische Geschehen’ (1.46–50 bzw. 1.76–79), die beiden inneren (1.51–55 bzw. 1.68–75) seien wie ein ‘eschatologisches Danklied’ gestaltet. Syntaktische Fragen werden nicht erörtert, denn (34):
Der Stil des Psalms ist archaisierend-feierlich und so gehalten, daß eine deutliche logische Zuordnung der Zeilen oft im Dunkeln bleibt. Das ist Absicht; Lukas geht es nicht vor allem um einzelne sachliche Aussagen des Liedes, sondern um die alttestamentliche Diktion als solche, und der Sinn dieser Imitation des Alten Testaments ist wie bei dem Magnificat die Verankerung von Person und Geschehen in der Tradition Israels.
Entsprechend handle die erste Strophe dezidiert vom Volk Israel, vom Haus Davids und vom Abrahamsbund. Sachgemäß folgt ein Exkurs zu ‘Lukas und das Alte Testament’ (35–37). Die zweite Strophe zeige, dass ‘Lukas die “Vergebung der Sünden” als den Inbegriff des christlichen Heils versteht’. Diese Erkenntnis zu vermitteln (nicht das Heil selbst) sei die ‘Aufgabe des Wegbereiters’ (35).
Auch K. LöningFootnote 10 geht davon aus, dass im Benediktus ‘die syntaktischen Verknüpfungen zwischen den Sätzen, Teilsätzen und Satzteilen … sehr locker sind’ (105). Er beachtet vor allem die thematischen Linien: Im ersten Teil (1.68–75) sieht er Zacharias als priesterlichen ‘Vermittler zwischen Gott und seinem Volk’, der Gottes erneute Zuwendung ansagt; durch die Propheten und den Eid an Abraham ist ‘Gott am Werk im Wort’ (107). Zum zweiten Teil (1.76–79) sind die Verbindungen zur Engelsrede (1.13–17) aufgezeigt, mit der Elia-Typologie (Mal 3.20–24) im Hintergrund (108–9). Durchweg sei ‘die Hand des Theologen Lukas’ zu erkennen (107); die Annahme einer ‘vorlukanischen Quelle’ behindre nur das Verständnis des lukanischen Doppelwerks (109).
Schließlich M. Wolter selbst:Footnote 11 ‘Wie das Magnifikat ist auch das Benedictus collageartig aus sprachlichen Versatzstücken zusammengesetzt, die aus dem AT stammen’ (111). Schon zu 1.46–55 hat er erläutert (100):
Bei dieser Collage-Technik handelt es sich um ein literarisches Stilmittel, das für die Cento-DichtungFootnote 12 charakteristisch ist … Ihm kommt hier die Funktion zu, Maria in der kulturellen Tradition Israels zu verankern. Lukas erweist sich damit einmal mehr als ein Historiker, der sein Handwerk vorzüglich beherrscht, denn er lässt seine Erzählfigur, eine jüdische Jungfrau aus Galiläa, eben genau so reden, wie es Lukian v. Samosata verlangt: ‘der Person und der Lage möglichst angemessen’ (Hist. Conscr. 58). … Lukas lässt sie … eine Deutung des erzählten Geschehens im Lichte der Erwählungsgeschichte Israels liefern, und er lässt sie dies mit den Worten tun, mit denen Israel schon immer das heilvolle Eingreifen Gottes zugunsten seines Volkes gepriesen hat.
Die sprachliche Gestalt des Benediktus unterscheide sich jedoch vom Magnifikat: Statt parataktischer Anordnung dominierten ‘hypotaktische Satzbaupläne’. Wie bei Harnack sind drei Einheiten abgeteilt, denen jeweils ‘dasselbe syntaktische Gerüst zugrunde’ liege, nämlich ‘die Verkettung von Verbum finitum + Infinitiv + ein mit τοῦ substantivierter Infinitivus finalis’: 1.68–75, 76–78a, 78b–79. Handelndes Subjekt sei erst Gott, dann das Kind, zuletzt die ἀνατολή; von Gottes Handeln werde im Aorist gesprochen, von den andern im Futur (111). Außerdem sei ‘dominierender kohärenzstiftender Faktor’ hier ‘die 1. Person Plural’, also das Gottesvolk Israel, beim Magnifikat dagegen durchgängig Gott (112).
Im Kontext fungiere das Benediktus einerseits als ‘Antwort des Zacharias auf die ihm zuteil gewordene Geburtsankündigung’ (1.13–17), andrerseits als ‘geisterfüllter, d.h. im Sinne Gottes authentischer Schlusskommentar’ zu Lk 1, bewussst ans Ende gestellt, damit die Leser die Ankündigung 1.68–69 auf Jesu Geburt beziehen könnten (112):
Die Leser wissen … mehr als Zacharias, der hier in zwei Rollen auftritt: als Vater des Täufers und als Repräsentant der eschatologischen Heilshoffnungen Israels. In dieser Doppelfunktion lässt Lukas ihn die auf seinen Sohn bezogene Ankündigung in das mit Jesus verknüpfte Heilshandeln Gottes integrieren und einen prophetischen Ausblick auf die zukünftige Bedeutung der beiden Heilsgestalten—des eschatischen Propheten und des Messiaskönigs—geben.
Anders als das Etikett ‘Collage’ oder ‘Cento’ (eigentlich: zusammengestupfeltes Flickwerk) erwarten lässt, erhält das Benediktus damit einen präzisen Sinn. Aber im einzelnen bleibt manche syntaktische Frage offen, und formal ist unbefriedigend, dass Wolters erster Teil umfangmäßig weit größer ist als die beiden anderen zusammen. Wenn Lukas der ‘feine Stilist’ ist, für den ihn Harnack hält, wird er auch hier nicht geschludert haben!
Auch N. Neumanns Arbeit,Footnote 13 inzwischen erschienen, setzt methodisch ‘bei der vorliegenden Gestalt des Bibeltextes’ an; ‘unter synchroner Perspektive’ sind traditionsgeschichtliche Fragestellungen ausgeblendet (11). Der typische Wechsel zwischen Prosa und Vers in Lk 1–2 habe Parallelen in der menippeischen Literatur, ebenso die Cento-Technik (267–71: Beispiele aus Lukian). Lukas schreibe zwar keine ‘Satire’ (304 Anm. 264), doch würde die ‘ideale Leserschaft’ die vielen ‘Zitate und Anspielungen’ vermutlich erkennen, was den ‘Unterhaltungswert’ erhöhe (292). Das Benediktus habe ‘20 Sequenzen’ (108) und werde ‘höchstwahrscheinlich insgesamt als versförmig’ empfunden (109). Inhaltlich würden die ‘Lesenden’ bei λύτρωσις und σωτηρία (1.68–69) an eine politische Erlösung denken, nämlich dass ‘Gott dem Volk Israel militärisch zu Hilfe kommt’ (163). Deshalb sei ‘Sündenvergebung’ (1.77) nicht epexegetisch als Heil selbst, sondern ‘als das ermöglichende Instrument zu interpretieren, das die σωτηρία überhaupt erst herbeiführen kann’ (167).Footnote 14 Jedoch: Darf ein (unterstelltes) Vorverständnis der Adressaten Leitlinie sein für die Botschaft des Evangelisten?
2. Syntaktische Schlüsselprobleme
Der Anfang ist syntaktisch durchsichtig: Auf die Anrufung Gottes im Nominalsatz (1.68a) folgt ein begründender ὅτι-Satz mit drei parataktisch angeordneten finiten Verben (1.68b–69) und davon abhängig der καθώς-Satz (1.70), der das geschilderte Gotteshandeln auf die prophetischen Ankündigungen zurückführt. Schwierig ist danach die Zuordnung der Akkusative σωτηρίαν (1.71) und ὅρκον (1.73) sowie der vier Infinitive (1.72–74). Ebenso ist Syntax und Logik der Infinitivkonstruktionen 1.76–79 zu erörtern.
2.1. Das Akkusativobjekt ‘Rettung vor unseren Feinden’ (1.71)
Die Klausel σωτηρίαν ἐξ ἐχθρῶν ἡμῶν καὶ ἐκ χειρὸς πάντων τῶν μισούντων ἡμᾶς (1.71) wird allgemein auf das Vorherige bezogen. Entweder man versteht sie mit rhetorischer Kategorie als Anaphora, als variierende WiederholungFootnote 15 von κέρας σωτηρίας (1.69)Footnote 16 oder, syntaktisch gesprochen, als AppositionFootnote 17 zu 1.68–69, d.h. mit ἐποίησεν λύτρωσιν (1.68) als hauptsächlichem Bezugspunkt, woran sich σωτηρίαν nach Kasus und Aussage gut anschließt.Footnote 18 Bei beiden Lösungen wird 1.70 oder 1.69–70 zur ParentheseFootnote 19 und traditionsgeschichtlich meist der lukanischen Redaktion zugewiesen.Footnote 20
Dieser Konsequenz entgeht die Lösung von Zahn, für den 1.71 den Inhalt der prophetischen Verkündigung enthält, ‘als eine Apposition zu dem ganzen Satz von v.70’.Footnote 21 Die Bezugnahme auf das seit alters gesprochene Gotteswort bekommt dadurch eigenes Gewicht. Ebenso bildet sie im Magnifikat (1.55) den rekapitulierenden Abschluss (καθὼς ἐλάλησεν πρὸς τοὺς πατέρας ἡμῶν), und in der Petrusrede Apg 3.21 leitet sie den Schriftbeweis ein (wörtlich wie Lk 1.70: πάντων ὧν ἐλάλησεν ὁ θεὸς διὰ στόματος τῶν ἁγίων ἀπ᾿ αἰῶνος αὐτοῦ προϕητῶν). Auch sonst bezieht sich Lukas an entscheidenden Stellen auf das, was Gott durch seine Propheten gesprochen hat, z.B. Lk 24.25 (Emmaus-Jünger); Apg 28.25 (Schlusswort des Paulus in Rom). Entsprechend lässt sich 1.70 als Zusammenfassung verstehen, die den Teil 1.68–70 abschließt und danach inhaltlich ausgeführt wird (1.71–75), und zwar sachgemäß in einer von biblischen Wendungen durchtränkten Sprache.
Wie ist dann σωτηρίαν κτλ syntaktisch einzuordnen? Der Akkusativ, sonst (sofern Apposition) mit ἐποίησεν (1.68) verbunden, kann sich syntaktisch und semantisch ebensogut auf ποιῆσαι (1.72) beziehen. Allerdings wurde das bisher nirgends erwogen, denn dort steht schon das Objekt ἔλεος. Dabei ist dies geradezu ein Schulbeispiel für die rhetorische Figur eines Zeugma (Klammer): Das ‘Teil-Glied’ ποιῆσαι, das den beiden ‘koordinierten Gliedern [hier Akkusativ-Objekten] in gleicher Weise zugeordnet ist und eigentlich zu jedem Glied besonders zu setzen wäre’, wird nur einmal gesetzt, hier in der Mitte, und bildet die Klammer zwischen beiden.Footnote 22
Damit lassen sich die beiden parallelen Infinitive 1.72 unmittelbar auf 1.70 beziehen. Sie sind nicht, angeschlossen an σωτηρίαν (1.71), als Infinitive des Zwecks oder der Folge zu verstehen,Footnote 23 auch nicht ‘den drei Prädikaten VV 68b.69 direkt untergeordnet’.Footnote 24 Vielmehr führen sie aus, abhängig vom verbum dicendi ἐλάλησεν, was Gott einst angekündigt hat und jetzt durch seinen ‘Besuch’ erfüllt.Footnote 25 Hätte Lukas schon 1.71 infinitivisch mit σῶσαι angeschlossen,Footnote 26 wäre die Satzkonstruktion durchsichtiger. Aber er stellt mit Bedacht das Schlüsselwort σωτηρία an den Anfang.Footnote 27 Zugleich zeigt er (wie im Proömium 1.1–4), dass er mit rhetorischen Figuren umzugehen weiß, in diesem poetischen Text sogar mit solcher Kühnheit, dass die perspicuitas darunter leidet.
2.2. Der ‘Eid, dem Abraham geschworen’ (1.73) als Hyperbaton
Fast ausnahmslos wird die Akkusativklausel ὅρκον ὃν ὤμοσεν πρὸς Ἀβραὰμ τὸν πατέρα ἡμῶν (1.73) auf μνησθῆναι (1.72) bezogen. Allerdings ist das Verbum dort mit dem Genitiv konstruiert, entsprechend der geprägten LXX-Wendung, dass Gott seines Bundes gedenkt, den er mit den Erzvätern geschlossen hat.Footnote 28 Deshalb wird allgemeinFootnote 29 eine attractio inversa vorausgesetzt: ‘Wenn das Bezugsnomen … voransteht, assimiliert es sich bisweilen dem ihm folgenden Relativum’; aber während sonst der Hauptsatz nach dem Relativsatz weitergeht, sei hier das Bezugswort ὅρκον eine ‘eigentümlich’ an den Genitiv διαθήκης ἁγίας αὐτοῦ ‘angehängte Ausführung’, erklärlich als ‘stark hebraisierende Stelle’.Footnote 30
Die Schwierigkeit dieser Lösung ist nicht zu übersehen. Nach Kühner-Gerth tritt die Attraktion ‘am häufigsten’ ein, wenn das betreffende Substantiv ‘im Nominative oder Akkusative stehen sollte’; ‘nur selten’ finde sie sich beim Dativ, und dann könnte auch eine rhetorisch veranlasste ‘Umstellung’ vorliegen; der Genitiv bleibt unerwähnt.Footnote 31 Bovon sieht die ‘ungewöhnliche Angleichung des Beziehungswortes an das Relativpronomen’; vielleicht richte sich ὅρκον nach σωτηρίαν (1.71). Jedenfalls: ‘Die Syntax ist weniger eindrucksvoll als der Gedankengang’.Footnote 32
Die attractio-Lösung hat auch Konsequenzen fürs folgende. Mit der Klausel τοῦ δοῦναι ἡμῖν beginnt dann ein neuer syntaktischer Zusammenhang. Hart ist dabei das Nebeneinander von Dativ ἡμῖν, abhängig von δοῦναι, und Akkusativ ῥυσθέντας, ebenfalls ‘uns’ betreffend, aber mit λατρεύειν zur AcI-Konstruktion verbunden.Footnote 33 Sodann wird der Infinitiv λατρεύειν αὐτῷ (1.74) zum Objekt des Gebens, der ‘Gottesdienst in Heiligkeit und Gerechtigkeit’ also zur Gottesgabe. Aber die Klausel ἀϕόβως ἐκ χειρὸς ἐχθρῶν ῥυσθέντας für sich enthält ebenfalls, was Gott gegeben hat, also den Indikativ; den Geretteten ist ihrerseits das λατρεύειν aufgegeben, als Imperativ. Ist auch das λατρεύειν gottgegeben, so wird die Unterscheidung zwischen Gottes Tun und menschlichem Handeln verwischt.
Dass man das Satzgebilde auch anders auflösen kann, zeigt die Verseinteilung, wonach τοῦ δοῦναι ἡμῖν zu 1.73 gezogen ist. Sie stammt im NT erst von 1551,Footnote 34 entspricht hier aber der traditionellen Aufteilung im Stundengebet, d.h. in der Vulgata. Sie hat sich auch in Luthers Original-Übersetzung niedergeschlagen: ‘Vnd an den Eid, den er geschworen hat vnserm vater Abraham, Vns zu geben’.Footnote 35 Dabei ist ὅρκον implizit auch Objekt von δοῦναι:Footnote 36 Inhalt des Schwurs von einst ist seine Weitergabe an uns heute.
Schon Erasmus hat dieses Verständnis kritisiert: Wegen der Länge des Satzes habe man für den Chorgesang eine feierliche Zäsur gesetzt, weshalb die meisten den richtigen Sinn nicht erfassen würden. Er übersetzt ac daret nobis ut … (‘und er werde uns geben, dass’)Footnote 37 und beginnt einen neuen Gedanken, erneut von locutus est (1.70) abhängig. In der Vulgata ist es dagegen eine AcI-Konstruktion, abhängig von iuravit, wobei esse und iusiurandum als Objekt zu ergänzen sind: daturum se nobis (‘geschworen, dass er uns den Eid geben werde’).Footnote 38 Erasmus hat erkannt, dass das griechische Original diesen Sinn nicht hergibt. Der substantivierte Infinitiv mit Genitiv-Artikel kann nicht von einem verbum dicendi (in diesem Fall ὤμοσεν) abhängen. Vielmehr gilt, und das spricht auch gegen Erasmus' eigene Übersetzung: ‘Als nähere Bestimmung eines ganzen Satzes’ bezeichnet τοῦ mit Infinitiv einen ‘Zweck’, eine ‘Absicht’.Footnote 39
Trotzdem kann man den Eid als Objekt des Gebens verstehen, nämlich aufgrund Kühner-Gerths Hinweis, dass statt einer attractio inversa auch die rhetorische Figur einer Umstellung vorliegen könne, genauer: eines Hyperbaton. Darunter versteht man ‘die Trennung zweier syntaktisch eng zusammengehörender Wörter durch die Zwischenschaltung eines unmittelbar nicht an diese Stelle gehörigen (ein- oder mehrwortigen) Satzgliedes’.Footnote 40 Vorausgesetzt, der Vers 1.73 bildet eine syntaktische Einheit, so wäre die ‘gewöhnliche Stellung’:Footnote 41 τοῦ δοῦναι ἡμῖν ὅρκον ὃν ὤμοσεν κτλ. Die zusammengehörigen Glieder ἡμῖν ὅρκον κτλ sind dann durch Umstellung getrennt, τοῦ δοῦναι ist dazwischen geschoben. Lukas hat damit kunstgerecht seine Akzente gesetzt: ‘Wenn in Einem Satze zwei Wörter durch die Stellung hervorgehoben werden sollen, so tritt das eine an die Spitze des Satzes, während das andere die letzte Stelle einnimmt’.Footnote 42 So verstanden bildet auch 1.73 einen Parallelismus membrorum: ‘Um den Eid, den er Abraham geschworen hat … / um den uns zu geben’. Der folgende Infinitiv (1.74–75) erhält dann finalen Sinn: ‘damit wir ihm dienen …’
Inhaltlich geht es um die Gültigkeit des Eides von einst für die gegenwärtige Generation. Schon Isaak wurde das Weiterbestehen der Abrahamverheißung zugesichert, wörtlich fast ebenso: ‘Dir und deinen Nachkommen will ich alle diese Länder geben und will meinen Eid wahr machen, den ich deinem Vater Abraham geschworen habe’ (Gen 26.3: καὶ στήσω τὸν ὅρκον ὃν ὤμοσα Αβρααμ τῷ πατρί σου). So gibt der Vers einen guten Sinn. Andrerseits ist zuzugeben, dass die Voranstellung des Objekts vor den substantivierten Infinitiv die perspicuitas gefährdet, weshalb die Konstruktion allenthalben verkannt wurde. Doch besteht diese Gefahr grundsätzlich bei einem Hyperbaton wie auch bei anderen Abweichungen vom regulären Satzbau.Footnote 43 Um die Aussage zu unterstreichen, sind sie dennoch erlaubt. Lukas, bei dem man rhetorische Schulung voraussetzen darf, liebt derartige Stilmittel.Footnote 44 Bei einem poetischen Text hat er überdies größere Freiheit, so kann er die umgestellten Satzglieder besonders weit auseinander reißen.
2.3. Die Satzkonstruktion in 1.78–79
Die Syntax ab 1.76 ist zunächst unproblematisch. Zacharias redet seinen kleinen Sohn an und prophezeit ihm seine künftige Funktion als ‘Prophet des Höchsten’. Die folgende Begründung (1.76b) rekapituliert nahezu wörtlich die Ankündigung 1.17: ‘vorangehen vor dem Herrn’ als Verbum finitum, davon abhängig der finale Infinitiv ‘zu bereiten seine Wege’ bzw. ‘dem Herrn ein zugerüstetes Volk’. Das Weitere scheint sich syntaktisch daran anzuschließen: an ἑτοιμάσαι als Zweckbestimmung der substantivierte Infinitiv τοῦ δοῦναι γνῶσιν σωτηρίας (1.77), daran die kausale Bestimmung διὰ σπλάγχνα ἐλέους (1.78a), daran der erläuternde Relativsatz ἐν οἷς ἐπισκέψεται (1.78b), an dessen Subjekt ἀνατολή der wiederum finale Infinitiv ἐπιϕᾶναι (1.79a) und daran schließlich τοῦ κατευθῦναι, nochmals ein substantivierter Infinitiv mit finalem Sinn (1.79b).
Von zwei Seiten wurde vorgeschlagen, die Satzkonstruktion anders aufzulösen. Vielhauer hält es für ‘sehr wahrscheinlich’, dass die beiden Infinitive τοῦ δοῦναι (1.77) und τοῦ κατευθῦναι (1.79b) koordiniert und dem Infinitiv ἑτοιμάσαι (1.76b) subordiniert sind; dadurch entgehe man der ‘Unförmigkeit des Satzgebildes, das bei der Subordination von v.79b unter 79a keinen rechten Abschluß findet’, 1.78–79a sei ‘gewissermaßen eine Parenthese’.Footnote 45 Anders Wolter: Der Subjektwechsel von σύ zu ἀνατολή spreche dafür, 1.78b–79b als eigenen dritten Teil zu verstehen.Footnote 46 Beide Lösungen sind sprachlich möglich, keine ist zwingend. Zunächst spricht formal gegen beide: Wenn das Benediktus insgesamt ein poetischer Text ist, durchgängig aus parallelen Doppelzeilen gebaut, dann sollte man die beiden Vershälften von 1.78 oder 1.79 nicht trennen.
Letztlich entscheidet eine theologische Frage über die Syntax: Gibt der Täufer in eigener Vollmacht ‘Heilserkenntnis’? Oder bedarf die soteriologische Aussage 1.77 einer christologischen Begründung,Footnote 47 so dass 1.78–79, entsprechend ausgelegt, eng damit zu verbinden ist? Nun ist der Ausdruck ἀνατολὴ ἐξ ὕψους (1.78b) umstritten. Vielhauer identifiziert ihn mit προϕήτης ὑψίστου (1.76a), d.h. Johannes; der sei selbst ‘eine “messianische” Gestalt’, das Benediktus stamme ‘aus der Täufersekte’.Footnote 48 Wolter dagegen deutet gerade nicht messianisch: ‘Referentiell verweist ἀνατολή auf die Sendung Jesu, signifikativ bezeichnet der Begriff das von Gott her kommende Heil, und traditionsgeschichtlich angeknüpft wird an alttestamentlich-jüdische Lichtmetaphorik’.Footnote 49 Jedoch: ἀνατολή (Sach 3.8; 6.12) ist eindeutig messianischer Titel, zwar Übersetzung von ‘Spross’ ( צמח ) zur Bezeichnung davidischer Herkunft (Jer 23.5), aber das LXX-Wort bedeutet auch ‘Aufgang’ ( מזרח ) der Sonne. Lukas kann den griechischen Begriff, wohl ohne Kenntnis der hebräischen Äquivalente, als Messiastitel und Morgenglanz zugleich verstehen und dann die Lichtmetapher weiterführen (1.79a).Footnote 50 Aber für ihn ist allein Jesus der Messias. Also hat der Abschnitt 1.76–79 implizit das Verhältnis von Johannes und Jesus zum Thema und bildet darin eine Einheit.
3. Kolometrische Gliederung in Doppelzeilen
Aufgrund dieser Vorentscheidungen kann der Text als ganzer analysiert werden, zunächst seine formale Gliederung und poetische Gestalt. Nach der Eulogie (1.68–75)Footnote 51 bildet 1.76–79 einen eigenen Teil. Die Verse davor (1.71–75), syntaktisch von 1.70 abhängig, beschreiben, was Gott versprochen hat, sind also als Unterteil für sich zu nehmen, nach einem Doppelpunkt sozusagen.
Außerdem imitiert Lukas die Sprache der Psalmen. Deren Kennzeichen ist der Parallelismus membrorum, und so lassen sich die drei Teile in 13 Doppelzeilen abteilen (3 + 5 + 5). Sie haben fast alle, offenkundig oder versteckt, korrespondierende Glieder. 1.68: Israel / Volk; 1.69: Horn des Heils / Haus Davids (messianische Begriffe); 1.70: gesprochen / Mund der Propheten; 1.71: Feinde / Hassende; 1.72: Erbarmen / Bund; 1.73: Abraham geschworen / uns gegeben; 1.74: gerettet / dienen (Gegenseitigkeit des Bundes); 1.76a: Kind / Prophet; 1.76b: vorangehen / Wege bereiten; 1.77: Heilserkenntnis / Sündenvergebung; 1.78: Erbarmen Gottes / Morgenglanz von oben; 1.79: Todesschatten / Friedensweg.
Die folgende Übersetzung ist kolometrisch in Sinnzeilen angeordnet und versucht, die syntaktische Struktur nachzuzeichnen:
![](https://static.cambridge.org/binary/version/id/urn:cambridge.org:id:binary-alt:20160710065741-95624-mediumThumb-S0028688510000147_tabU1.jpg?pub-status=live)
Vielfach wurden achsensymmetrische Entsprechungen beobachtet, die auf eine sorgfältig gestaltete Ringkomposition hindeuten, insbesondere von französischen Exegeten. Ihre differenzierten Analysen zu Teilabschnitten unterschiedlichen Umfangs können außer Betracht bleiben, weil sie (abgesehen von 1.76–79) von den hier vorausgesetzten drei Teilen abweichen. Für den ganzen Text setzen sie zwischen 1.72/73 eine Schnittlinie, an der sich bis zu elf Elemente spiegeln.Footnote 53 Nach obiger Gliederung, mit 1.73 als mittlerer Doppelzeile des mittleren Teils, sind sechs Elemente in konzentrischer Anordnung begrifflich identisch:Footnote 54 ἐπεσκέψατο / ἐπισκέψεται (1.68b/78b), τῷ λαῷ αὐτοῦ (1.68b/77a), σωτηρίας (1.69a/77a), προϕητῶν / προϕήτης (1.70b/76a), ἐχθρῶν (1.71a/74a) und ἐκ χειρός (1.71b/74a). Vier Elemente sind Entsprechungen zwischen erstem und drittem Teil, zwei innerhalb des mittleren Teils.
Weitere Entsprechungen sind bemerkenswert: am Schluss der beiden ersten Teile die Zeitangabe ‘aus Urzeiten’ bzw. ‘an allen unsern Tagen’ (1.70/75); in den mittleren Doppelzeilen jeweils das ‘Heil’ (1.69a/77a), das ‘uns’ (1.69a/73b) ‘gegeben’ wird (1.73b/77a); und in Teil 1 und 3 die Ersatzbegriffe (Metonyme) κέρας σωτηρίας und ἀνατολή (1.69/78), die insgeheim vom Messias reden. Dies alles zeigt, wie sorgfältig Lukas seinen Text formuliert hat. Was ist sein theologisches Ziel?
4. Die Botschaft des Benediktus
Das Benediktus ist auf doppelte Weise hervorgehoben: Es wird feierlich eingeführt als vom Heiligen Geist eingegebene ‘Prophezeiung’ (1.67), ähnlich wie Elisabeths Gruß an Maria (1.41) und Simeons Nunc dimittis (2.27), aber im Unterschied zu Marias Magnifikat (1.46). Und es ist auffällig platziert, nicht innerhalb der Erzählung, wo Zacharias, kaum kann er wieder reden, Gott lobt (1.64), sondern nachklappend als Abschluss der Zachariasgeschichte (1.5–80), unmittelbar vor der Messiasgeburt (2.1–20). An dieser Nahtstelle und nach dieser Einleitung soll es nicht nur jüdisch-frommes Milieu vor Augen malen. Vielmehr darf man von Zacharias eine Botschaft erwarten, die Lukas seinen Lesern sagen will.Footnote 55
4.1. Messianische Zeitansage (1.68–70)
Vielerlei Verweisstellen aus AT und zeitgenössischem Judentum hat man dazu aufgelistet. Unter Voraussetzung lukanischer Autorschaft ist speziell die LXX einschlägig. Die Durchsicht ergibt, dass Motive aus der Davidstradition vorherrschen, sogar beim formelhaften Lobpreis: Εὐλογητὸς κύριος ὁ θεὸς τοῦ Ἰσραήλ (1.68a). Er ist (ohne τοῦ, sonst wörtlich) achtmal belegt: fünfmal als Anfangssatz, und zwar im Munde Davids (1 Βασ 25.32: Dank an Abigail; 3 Βασ 1.48: Salomos Inthronisation) und Salomos (3 Βασ 8.15 = 2 Chr 6.4: Tempelweihe) sowie im Brief König Hirams an Salomo (2 Chr 2.11: Tempelbau); dreimal steht die Doxologie am Ende eines Buchs im Psalter, und zwar explizit (Ψ 40.14) oder indirekt in Davidspsalmen (71.18;Footnote 56 105.48Footnote 57).
Sodann verweist 1.69 vor allem auf Ψ 17.3 (= 2 Βασ 22.3), den einzigen Beleg für κέρας σωτηρίας. Das wird dort als Gottesanrede verwendet (‘Horn meines Heils’) von ‘David, dem Diener des Herrn (τῷ παιδὶ κυρίου), … an dem Tag, als ihn der Herr errettete aus der Hand aller seiner Feinde und aus der Hand Sauls’ (17.1).Footnote 58 Die messianische Bedeutung von κέρας für sich ist belegt in Hannas Lied (1 Βασ 2.10: κέρας χριστοῦ) und Ψ 131.17 (κέρας τῷ Δαυιδ),Footnote 59 die von ‘Haus David’ z.B. in der Nathansweissagung (1 Chr 17.24: ὁ οἶκος Δαυιδ παιδός σου).Footnote 60 Mit ἤγειρεν wird κέρας sonst nie verbunden,Footnote 61 aber vergleichbar ist Ri 3.9, 15: ‘Der Herr erweckte ihnen einen Retter’, nämlich die Richter Otniël und Ehud; die Bezeichnung σωτήρ gibt ihnen proto-messianische Funktion.Footnote 62
Schließlich die Exodustradition hinter 1.68b: Zwar ist das Substantiv λύτρωσις selten in LXX und nur Ψ 110.9 aufs ‘Volk’ bezogen (λύτρωσιν ἀπέστειλεν τῷ λαῷ αὐτοῦ). Aber das Verbum λυτρόω verbunden mit λαόν ist typische Exodussprache, z.B. im Moselied (Ex 15.13), im Klage- oder Dankpsalm (Ψ 76.16; 105.4 + 10), auch in Davids Dankgebet nach Nathans Weissagung (1 Chr 17.21: … λαοῦ σου οὓς ἐλυτρώσω ἐξ Αἰγύπτου ≈ 2 Bas 7.23) und ähnlich nach der Bewahrung vor Saul (Ψ 17.28: ὅτι σὺ λαὸν ταπεινὸν σώσεις ≈ 2 Βασ 22.28). Die Erinnerung an die Rettung von einst begründet das Vertrauen auf Gott in der Zukunft. Ebenso erinnert ἐπεσκέψατο an Gottes gnädige Zuwendung beim Exodus, durch Joseph vorhergesehen und am Dornbusch offenbart (Gen 50.24–25; Ex 3.16; 4.31). Das Wort bezeichnet zugleich Gottes geheimnisvolles Eingreifen bei der Schwangerschaft der unfruchtbaren Sara (Gen 21.1) sowie bei den weiteren Kindern der Hanna (1 Βασ 2.21). So kann Zacharias mit diesem Stichwort den Dank für die Geburt des Johannes mit der Ansage der messianischen Zeitenwende verbinden.
Die diversen Anspielungen aufs AT werden in 1.70 grundsätzlich und ausdrücklich interpretiert als Erfüllung von Gottes Verheißungen. Die Wendung καθὼς ἐλάλησεν (wie 1.55) stammt aus LXX.Footnote 63 Der Ausdruck διὰ στόματος τῶν ἁγίων ἀπ᾿ αἰῶνος αὐτοῦ προϕητῶν (wörtlich wie Apg 3.21) ist doppelt gewichtig: (1) Sie werden ‘heilige Propheten’ genannt,Footnote 64 vermutlich um ihre unangefochtene, also kanonische Dignität und Autorität zu bezeichnen, analog zu ‘heilige Schriften’.Footnote 65 (2) Die zeitliche Bestimmung ‘Propheten von Urzeit an’, sonst nirgends belegt,Footnote 66 wird im entstehenden dreiteiligen Kanon (vgl. 24.44) die Bücher von Josua bis Dodekapropheton betreffen,Footnote 67 also einschließlich der später sogenannten ‘vorderen Propheten’,Footnote 68 aber auch Mose (nach Apg 3.22 mit Dtn 18.19) und David (nach Apg 2.30) mitumfassen, mithin auch den Pentateuch und aus den ‘Schriften’ mindestens den Psalter, also (trotz aller noch offenen Ränder) die Schrift als ganze.
So zeigt Lukas einerseits, wie einzelne Schriftstellen auf die Jesus-Geschichte hindeuten, andrerseits, dass sich darin die Schrift insgesamt erfüllt. Denselben hermeneutischen Grundsatz, explizit mit Beziehung auf ‘alle Schriften’ (24.27), formuliert er auch am Ende seines Evangeliums (24.44) und ebenso im Eingangs- und Schlussteil der Apg (3.21; 26.22).
4.2. Vergegenwärtigung des Väterbundes (1.71–75)
Auf die Ansage der eschatologischen Zeitenwende folgt das ekklesiologische Thema Bund. Im Hintergrund steht durchgängig Jos 24, der ‘Landtag zu Sichem’. Das betrifft zunächst die Abfolge von Erinnerung an Gottes Wohltaten einerseits (24.2–13) und Verpflichtung zum treuen Dienen andrerseits (24.14–24).Footnote 69 Dazu kommt die wörtliche Übernahme von Motiven und Klauseln: ἐκ χειρὸς sc. ἐχθρῶν (1.71, 74) / ἐκ χειρῶν αὐτῶν (Jos 24.10); ἔλεος μετὰ τῶν πατέρων ἡμῶν (1.72) / ἐξ-/ἀνήγαγεν τοὺς πατέρας ἡμῶν (24.5B, 17); Ἀβραὰμ τὸν πατέρα ἡμῶν (1.73) / τὸν πατέρα ὑμῶν τὸν Αβρααμ (24.3); λατρεύειν αὐτῷ ἐν ὁσιότητι καὶ δικαιοσύνῃ (1.74–75) / λατρεύειν αὐτῷ ἐν εὐθύτητι καὶ ἐν δικαιοσύνῃ (24.14);Footnote 70 πάσαις ταῖς ἡμέραις ἡμῶν (1.75) / πάσας τὰς ἡμέρας Ἰησοῦ (24.29LXX). Schließlich das Schlüsselwort διαθήκη (24.25): Bezogen auf die feierliche Selbstverpflichtung des Gottesvolks, erinnert es zugleich an den Väterbund (1.72).
Wer sind für Lukas die ‘Feinde’? Gewiss nicht die Römer, ein politisches Messiasverständnis ist beim Evangelisten auszuschließen.Footnote 71 Wie Ψ 17.1; 105.10 (Feinde Davids und des Gottesvolks) denkt er an die Feinde des Messias (Lk 19.14, 27; 20.43 = Ψ 109.1), an den Hass gegen dessen Anhänger (6.22; 21.17) und an die Konfrontation mit der Satansmacht (10.17–20). Während die ‘Rettung’ aus deren Händen ‘uns’ betrifft, die gegenwärtige Generation des Zacharias, scheint das ‘Erbarmen’ (1.72a) nur den ‘Vätern’ von einst zu gelten. Dass sie ‘als Bewohner des Paradieses am Geschick des Volkes teil(nehmen)’,Footnote 72 ist eine Verlegenheitsauskunft. Eher ist anzunehmen, dass Lukas die Gegenwart stillschweigend impliziert.Footnote 73 Jedenfalls ist der Ausdruck ποιεῖν ἔλεος μετά gut belegt, fürs Erbarmen Gottes (Gen 24.12) oder der Menschen (Ri 1.24; 8.35; auch Lk 10.37).Footnote 74 Die Wendung μνησθῆναι διαθήκης ἁγίας αὐτοῦ (1.72b) ist Explikation:Footnote 75 Wenn Gott seines Bundes gedenkt,Footnote 76 darf Israel trotz selbstverschuldeter Not jeweils auf gnädige Rettung hoffen.
Die Geltung für die Gegenwart formuliert 1.73: Was Gott einst Abraham geschworen hat, das will er jetzt ‘uns’ geben. Der Relativsatz nimmt eine typische LXX-Wendung auf, bestehend aus Relativpronomen, Aorist ὤμοσεν (oder ὤμοσα, -σας) und den Vätern als Empfängern von Gottes Schwur im Dativ.Footnote 77 Von den 45 Belegen stammen 28 aus Dtn, 12 weitere aus Gen-Jos.Footnote 78 Das Relativpronomen bezieht sich 34mal auf γῆ (aufs ‘Gelobte Land’), aber nur 3mal auf ὅρκον,Footnote 79 nämlich Gen 26.3: Gott bestätigt Isaak ‘den Eid, den ich geschworen habe Abraham, deinem Vater’, betreffend Segensverheißung, Land und Nachkommenschaft; Dtn 7.8: Israels Erwählung wird begründet in Gottes Treue zu dem ‘Eid, den er euren Vätern geschworen hat’, weshalb er sie aus Ägypten herausführte und ‘aus der Hand des Pharao erlöste’; Jer 11.5: Gott wird an seinen Eid erinnert, ‘ihnen ein Land zu geben, das von Milch und Honig fließt’. Aus diesem Material schöpft Lukas,Footnote 80 doch der Abraham geschworene Eid wird nun selbst zur Heilsgabe:Footnote 81 Er verbürgt die Zugehörigkeit zum Gottesvolk der Abrahamskinder (vgl. 1.55).
Dem Indikativ entspricht der Imperativ,Footnote 82 Gottes Handeln, beschrieben in drei Infinitiven (1.72–73), zielt auf die Antwort des menschlichen Bundespartners im vierten: λατρεύειν αὐτῷ (1.74b). Gemeint ist damit Gottesdienst nicht als Kult,Footnote 83 sondern im Sinn des ersten Gebots als Lebensentscheidung für den Gott Israels und gegen die Abgötter.Footnote 84 Das wird durch zwei modale Adverbialbestimmungen ausgeführt: Einerseits, im Gegenüber zur feindlichen Welt, d.h. coram mundo, ist Furchtlosigkeit angesagt (ἀϕόβως), nicht als Ergebnis stoischer Reflexion und Selbstdisziplin,Footnote 85 sondern begründet in der kollektiven Erfahrung, dass Gott sein Volk feindlichem Zugriff heilvoll entrissen hat und entreißt (1.74a). Andrerseits, explizit coram Deo: ‘vor ihm’ sind ‘Heiligkeit und Gerechtigkeit’ die ethischen Leitziele im Verhalten gegenüber Gott und Menschen (1.75a); der Doppelaspekt des Liebesgebots ist darin zusammengefasst (vgl. 10.27).Footnote 86 Gottesdienst dieser Art soll ‘alle unsre Tage’ bestimmen (1.75b).Footnote 87
Die Verse 1.74–75 sind somit klar strukturiert. Ist auch hinter 1.71–73 ein Strukturprinzip erkennbar? Schon Wettstein hat in den Begriffen ἔλεος, μνησθῆναι und ὅρκον einen sensum mysticum vermutet, nämlich über die hebräischen Namen Johannes (‘JHWH ist gnädig’), Zacharias (‘JHWH hat gedacht’) und Elisabeth (‘Gott hat geschworen’); ebenso lässt sich σωτηρίαν mit Jesus verbinden (‘JHWH ist Rettung’).Footnote 88 So wäre die Gedankenfolge 1.71–73 insgeheim in der Hierarchie dieser Namen begründet. Hat Lukas, der sich sonst auf die griechische LXX bezieht, die hebräische Bedeutung dieser Namen gekannt? Jedenfalls bei Johannes ist dies wahrscheinlich, gilt doch sein Name als auffällig (1.60–63), und in seiner Geburt erweist ‘der Herr seine Gnade’ (1.58).
Inhaltlich beziehen sich diese Verse auf Exodustradition (1.71) und Vätergeschichte, mit dem Bundesschluss zwischen Gott und Abraham (1.72–73), also auf die Grunderfahrungen des Gottesvolks, die mit dem Anbruch der messianischen Zeit wieder aktuell werden. So steckt hinter den konzentrierten Formulierungen des Lukas zugleich gründliche theologische Reflexion.
4.3. Heilserkenntnis durch Johannes wegen Christus (1.76–79)
Ob sich Lukas an einem Genethliakon orientiert, sei dahingestellt.Footnote 89 Jedenfalls folgt auf das Gotteslob die 1.67 avisierte Prophezeiung, daher der Wechsel vom Aorist zum Futur. Zunächst (1.76) antwortet Zacharias explizit auf die unmittelbar vorausgehende Frage (1.66): ‘Was wird dieses Kind wohl werden?’ Was dann als Auftrag des Johannes ausgesagt ist (1.77), bedarf einer Begründung, die implizit auf den Messias vorausweist (1.78–79).
Johannes wird mit Titel und Funktion angekündigt. Er ist προϕήτης ὑψίστου (1.76a),Footnote 90 also dem υἱὸς ὑψίστου (1.32) koordiniert und zugleich subordiniert;Footnote 91 auch sonst ragt er heraus als letzter der Propheten (7.26; 16.16; 20.6). Sein Auftrag als Vorläufer und Wegbereiter des Herrn (1.76b) stammt aus der synoptischen Täufer-Überlieferung mit der Kombination (Mk 1.2–3) von Jes 40.3–5 und Ex 23.20 / Mal 3.1 (= Lk 3.4–6 bzw. 7.27; vgl. 1.17). Dabei dürfte κύριος doppelten Sinn haben: Gottesname für Zacharias, für Lukas jedoch insgeheim schon Christustitel (vgl. 1.43; 2.11).Footnote 92
Was Johannes bringt, definiert die mittlere Doppelzeile durch das Stichwort ‘Vergebung ihrer Sünden’ (1.77b),Footnote 93 entsprechend der Tradition Mk 1.4, wonach der Täufer die Bußtaufe predigte εἰς ἄϕεσιν ἁμαρτιῶν (ebenso Lk 3.3). Doch gerade bei Lukas spricht Jesus selbst Vergebung zu (5.23; 7.48); nach Ostern wird sie in seinem Namen verkündigt (24.47; Apg 2.38; 5.31; 10.43; 13.38), zunächst dem ‘Volk’, also Israel (Apg 10.42; 13.31), wie schon von Johannes (1.77a; Apg 13.24). Lukas sieht Johannes und Jesus ganz nah beisammen. Die ‘Erkenntnis des Heils’, die Johannes schenken soll und die in der Sündenvergebung besteht, wird dem ‘Wort des Heils’ (λόγος τῆς σωτηρίας) entsprechen, das Paulus verkündigt (Apg 13.26).Footnote 94 Ziel dieser ‘Soterio-Logie’ ist Bekehrung zu Gott (26.18), nicht politische Befreiung.
Johannes ist Heilsbringer nur in Verbindung mit Christus. Seine Heilsfunktion ist begründet (διά) in Gottes, durch sprachliche Doppelung potenziertem Erbarmen (1.78a), und ebendarin (ἐν οἷς) gründet zugleich die Epiphanie der messianischen ἀνατολὴ ἐξ ὕψους (1.78b). Deren soteriologische Wirkung ist abschließend beschrieben (1.79): Sie bringt Licht für die in Finsternis und Todesschatten, was wörtlich Ψ 106.10 aufnimmt (καθημένους ἐν σκότει καὶ σκιᾷ θανάτου)Footnote 95 und schon über Israel hinausweisen dürfte. Ziel ist, auszurichten auf den Friedensweg, ausdrücklich ‘uns’, also das Gottesvolk; wobei ὁδὸς εἰρήνης wie Ψ 13.3LXX (= Röm 3.17); Jes 59.8 und analog zu ὁδὸς θεοῦ, κυρίου, ζωῆς oder σωτηρίας primär auf die Glaubensentscheidung abzielt, nicht die Lebenspraxis.Footnote 96 Dem entspricht der LXX-Ausdruck κατευθύνειν καρδίαν/-ας, der jeweils das Herz auf den Herrn ausrichtet;Footnote 97 ‘Füße’ als Objekt sind singulär,Footnote 98 vermutlich abgeleitet von der ‘Weg’-Metapher.
Wann erscheint die Lichtgestalt? Gewiss in der Zukunft: ἐπισκέψεται!Footnote 99 Wann genau? Mit Jesu öffentlichem Auftreten?Footnote 100 Oder erst mit der Sendung des Geistes, der angekündigt ist als ‘Kraft ἐξ ὕψους’ (24.49)? Näher liegt, was unmittelbar folgt: Jesu Geburt. Dort erinnert an 1.78–79 das Himmelslicht mitten in der Nacht (2.8–9), ‘Gott ἐν ὑψίστοις’ und ‘εἰρήνη auf Erden’ (2.14). Lukas will Johannes und Jesus eng zusammenbinden, wie überhaupt beider Anfänge in sieben Teilen kunstvoll miteinander verwoben sind (1.5–4.13).Footnote 101 Womöglich sind ihre Namen auch hier geheimnisvoll ineinander verschränkt: Des Johannes Auftrag weist auf Jesus (1.77: σωτηρία), die messianische Begründung auf Johannes (1.78: ἔλεος).
Jedenfalls ist der Täufer biographisch und theologisch in die Jesus-Geschichte integriert. Seine Geburt inauguriert die messianische Zeit, von der die gnädige Restituierung des Gottesvolks erwartet wird. Seine Predigt der Sündenvergebung bereitet darauf vor, steht aber schon im Licht der Christus-Epiphanie. So erfüllen sich die eschatologischen, ekklesiologischen und soteriologischen Hoffnungen Israels, die im Benediktus knapp rekapituliert sind.
Damit unterstreicht Lukas die Gemeinsamkeiten zwischen Johannes und Jesus: Ohne Rückbezug auf ‘Gesetz und Propheten’ ist Jesu Sendung nicht richtig zu verstehen, und Johannes bildet deren krönenden Abschluss (7.26–27; 16.16a). Das Neue wird später herausgestellt: Jesu Predigt von Gottes Reich (8.1; 16.16b; noch nicht 3.18), seine wundervollen Heilungstaten (7.22; vgl. Apg 10.38), dazu die Taufe mit Geist und Feuer (3.16; vgl. Apg 1.5; 11.16; 19.2–6). An der Schwelle zum Neuen jedoch steht der Täufer, und so bleibt er im Gedächtnis (Apg 1.22; 10.37; 13.24).
5. Stichometrische Beobachtungen zu Umfang und Proportionen
Den Umfang griechischer Prosatexte hat man mit einer Maßzeile berechnet, die entsprechend dem Durchschnittshexameter ursprünglich 15, später (wie im Lateinischen) 16 Silben zählte. Im Verlagswesen war dies ein übliches Verfahren, ebenso im Rhetorikunterricht; offenbar kannten es auch die Autoren des NT.Footnote 102 Danach zählt das Benediktus 21 (15-Silben-)Stichoi, exakt 20:10 (d.h. 10 Restsilben). Die Zahl 21 ist bemerkenswert: Die Ostergeschichte Mk 16.1–8 ist gleichgroß, der Epheserbrief insgesamt hat 17 × 21 = 357 Stichoi.Footnote 103
Interessant die Proportionen: Der Eulogie-Teil (1.68–75) zählt 13 (12:10) Stichoi, die Prophezeiung (1.76–79) exakt 8:00. Auch 1.71–75 hat 8 (7:06) Stichoi, für 1.68–70 bleiben 5:04. Nun gehören die Zahlen 5, 8, 13, 21 in die sog. Fibonacci-Reihe der Näherungswerte zum Goldenen Schnitt,Footnote 104 die beiden Zäsuren scheinen dieses Verhältnis abzubilden. Weithin wird man für abwegig halten, dass Lukas darauf geachtet habe. Doch wenn sich solche Proportionen bei ihm auch sonst nachweisen ließen? Der Kontext 1.5–80 etwa hat 8 × 21 = 168 Stichoi; auf 1.26–56 entfallen 3 × 21 = 63, auf den Rest 5 × 21 = 105 Stichoi.Footnote 105 Durchweg sind das Produkte aus Fibonacci-Zahlen!
Zwar hat Teil 1.68–70 nach dieser Betrachtung vier Silben zuviel. Aber bei textkritischer Tilgung von κύριος (1.68) ist dieser Schönheitsfehler auf 5:01 Stichoi reduziert. Für den Kurztext spricht das Kriterium Alter/Verbreitung (4 W it vgst sys samss Cyprian: seit 3. Jh. von Ost bis West bezeugt) und die Ableitbarkeit des Langtexts (lectio brevior, sekundär ans LXX-Vorbild angeglichen). Allerdings wird die Lesart kaum diskutiert und nur von Harnack unterstützt.Footnote 106 Der Text ohne κύριος wäre ein stichometrisches i-Tüpfelchen: Indiz, wie präzis Lukas auch literarisch gearbeitet hat. Jedenfalls kann die Stichometrie bestätigen, dass das Benediktus ‘aus einem Guss’ ist.