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Universalgeschichte der Religion als Ausgangspunkt der Soziologie. Zur Aktualität von Ernst Troeltsch - Ernst Troeltsch, Rezensionen und Kritiken (1915-1923). Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf u. a. (2010). Kritische Gesamtausgabe, Bd. 13. (Berlin, Verlag de Gruyter, 2010).

Published online by Cambridge University Press:  10 February 2012

Hans Joas*
Affiliation:
Freiburg Institute for Advanced Studies (frias) and University of Chicago [hans.joas@frias.uni-freiburg.de].

Abstract

Type
Book Reviews
Copyright
Copyright © A.E.S. 2011

In frühen Rückblicken auf die Geschichte der deutschen Soziologie – bei Karl Mannheim etwa, aber auch bei Otto Hintze – wird der protestantische Theologe Ernst Troeltsch neben Max Weber als eine der Schlüsselgestalten bezeichnet, die es ermöglichten, dass Deutschlands anfänglicher Rückstand in diesem Fach sich in einen Vorsprung verwandeln konnte. Während Max Webers Ruhm heute den aller anderen Gründerfiguren des Faches Soziologie – vielleicht mit der einzigen Ausnahme Emile Durkheims – überstrahlt, ist Troeltsch fast vergessen. Sein großes Werk „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ von 1912, der bis dato wohl bedeutendste Beitrag zu einer historischen Soziologie des Christentums, wird, trotz der verstärkten Aufmerksamkeit auf Religion in den gegenwärtigen Sozialwissenschaften und obwohl es schon 1931 in englischer Übersetzung erschien, nur noch wenig herangezogen. Seine Studien zum Protestantismus werden nur wie eine abgeschwächte Variante von Max Webers epochalem Essay über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus aufgefaßt und nicht als mögliche Alternative zu Webers Deutungen. Troeltschs mehr als tausendseitiges Werk über den Historismus, die tiefschürfendste Arbeit überhaupt zur Vermittlung von historischer Soziologie und Wertediskurs, ist bis heute nicht ins Englische übersetzt und spielt international deshalb praktisch keine Rolle. Seine großartigen politisch-zeitdiagnostischen Arbeiten über Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg sind außerhalb Deutschlands völlig unbekannt.

Die verdienstvolle, auf 21 Bände angelegte und relativ zügig voranschreitende „Kritische Gesamtausgabe“ dieses ungewöhnlich produktiven Autors enthält, verteilt auf drei Bände, auch alle von ihm verfassten Rezensionen. Es sind, man fasst es kaum, etwa 250 oft durchaus umfangreiche Stücke. Dabei ist in diese Zahl noch nicht eingerechnet, daß es außerdem Literaturberichte aus der Feder von Troeltsch zum Stand der Religionswissenschaften und der Theologie gibt. Troeltsch war ein durch und durch dialogischer Geist, der seine Gedanken nicht aus sich herausspann, sondern sie in der Auseinandersetzung mit anderen gewann oder schärfte und der auch nicht wie andere, etwa Heidegger, die Spuren des Einflusses auf sich verwischte, um desto mehr als Originaldenker zu erscheinen.

Der neu anzuzeigende Band enthält die 1915-1923, also in Troeltschs letzten acht Lebensjahren, entstandenen Buchbesprechungen. Das Spektrum der Literatur, die Troeltschs Interesse fand, ist außerordentlich weit, aber die Wahl der Titel keineswegs willkürlich. Das Spektrum reicht von der Theologie, auch der katholischen, über die Kirchengeschichtsschreibung und Religionswissenschaft zu methodologischen Arbeiten der Geschichtswissenschaft, Philosophiegeschichte, Soziologie bis hin zu Werken wie Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“, die – wissenschaftlich dilettantisch – den Nerv der Zeit trafen und von Troeltsch als symptomatisch für die Wandlungen des Zeitgeistes interpretiert wurden.

Fragt man speziell nach dem Gewinn, den Soziologen aus diesem reichen Material ziehen können, dann sind drei Schwerpunkte erkennbar. Erstens verfolgt Troeltsch mit wachem Interesse, in welchen Hinsichten neuere Forschungen seine „Soziallehren“ zu erweitern erlauben oder zu korrigieren zwingen. Dabei imponiert besonders, wie flexibel Troeltsch seine Typologie sozialer Organisationsformen des Christentums (Kirche – Sekte – Mystik) handhabt und wie wenig er historische Sachverhalte einfach unter einer schematischen Begrifflichkeit begräbt. Großes Lob erntet etwa Bruno Archibald Fuchs, der heute vergessene Autor eines Buches „Der Geist der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft“ von 1914/15 – eines der zahlreichen Produkte der Weber-Diskussion –, für seine Gedanken zu der Frage, wie die Idee der Kirche durch das antike soziologische Denken geprägt worden sei. In die christliche Gemeinschaftsidee seien sowohl antike Ideen über Blutsgemeinschaft wie (aus dem Kaiserkult stammende) Vorstellungen über universale Herrschaft eingegangen; gerade in ihrer Verbindung wurde „die christliche Gemeinschaft für den antiken Menschen doppelt eindrucksvoll“ (S. 48). In der Rezension einer Studie über die Heilsarmee zeigt Troeltsch, wie diese einen merkwürdigen Zwitter zwischen protestantischer Sekte und katholischen Orden bildet, indem sie die monarchische Organisationsstruktur der Orden mit der innerweltlichen Askese der Sekten verknüpft (S. 85), wodurch sich die Orientierung an der weltlichen Analogie des Militärs als der richtige Ausweg anbot. Sehr wichtig sind auch Troeltschs Beiträge zu der vielfach umstrittenen Frage, ob das Naturrecht im Christentum von Anfang an zu Hause gewesen oder erst durch die Aneignung stoizistischer Ideen in dieses aufgenommen worden sei. Troeltsch, der die Aneignungsthese vertrat und damit dem (katholischen) Neothomismus historisch argumentierend entgegentrat, zeigt sich zwar zu Ergänzungen seiner ursprünglichen Argumentation in den „Soziallehren“ bereit, verteidigt aber seine Position hier ohne größere Zugeständnisse. In dieses Gebiet gehören auch vielfältige Bemerkungen zur Geschichte und dem genauen Charakter der christlichen Askese-Ideale, mit denen ein von Weber nur ungenügend ausgeleuchteter Hintergrund seiner Protestantismusthese Berücksichtigung findet.

Der zweite Schwerpunkt von Interesse für die Soziologie liegt auf dem Gebiet der zahlreichen Rezensionen zu Problemen der Historiographie und Wissenschaftstheorie, besonders ausführlich zu den zeitgenössischen Neokantianern wie Rickert und Windelband, Cohen und Cassirer. In der Soziologie sind die Haltungen Max Webers in diesem Feld beinahe kanonisiert. Von Webers „Skeptizismus und die Werte gewaltsam bejahendem Heroismus“ (S. 558) grenzt Troeltsch sich deutlich ab. Er suchte viel stärker als Weber nach einer Vermittlung zwischen empirischer Erforschung der Geschichte und Rechtfertigung historisch entstandener Werte und Wertsysteme. Die neu aufkommende Soziologie stellte sich ihm als ungeheure Chance dar, „eine neue Einstellung auf alle historischen Dinge und auch auf die im geschichtlichen Leben erwachsenden objektiven Kulturwerte“ (S.184) zu gewinnen. In großer Nähe vor allem zu Georg Simmel, dessen Veröffentlichungen er mehrere Rezensionen widmete und der schon seine „Soziallehren“ mehr beeinflußt hatte als Weber, nimmt er zur zeitgenössischen Kontroverse über den Status der Soziologie in der Gesamtheit der „historisch-ethischen“ Wissenschaften entschieden Stellung. Gegen Comtes und Spencers Traum einer neuen „Generalwissenschaft“ (S. 185) verteidigt er die Vorstellung von der Soziologie als einer Disziplin, die aus den geschichtlichen Tatsachen „allgemeine Formen, typische Konstellationen, typische Verläufe“ (S. 595) destilliert, die ihrerseits wieder in der Geschichtsforschung fruchtbar wirken. Hier wird ein Verständnis von Soziologie verteidigt, das diese – wie bei Weber – auf die Universalgeschichte gründet und nicht als Gegenwartswissenschaft verkürzt.

Ein dritter Schwerpunkt soziologisch relevanter Interessen liegt dort, wo Troeltsch sich zu Gegenwart und Zukunft der Religion äußert. Er war einer der wenigen führenden Gelehrten und Intellektuellen seiner Zeit, die sich nicht der Annahme einer notwendig fortschreitenden Säkularisierung unterwarfen. Diese Annahme weist er immer wieder als schlecht begründet und ignorant zurück. Er empfand die historische, psychologische und soziologische Erforschung der Religion als Chance zu deren Erneuerung und stellte sich deshalb der Diskussion neuer Arbeiten auf all diesen Gebieten. In diesem Band ist besonders wichtig seine Besprechung von Rudolf Ottos Buch „Das Heilige“, das in Deutschland bahnbrechend wirkte. Troeltsch erkennt die Nähe Ottos zu William James und zu einer deutschen Tradition der Rezeption David Humes, die sich von den Intentionen Humes stark unterschied und aus dessen Skepsis einen neuen Begriff des Glaubens als gefühlsmäßiger Gewißheit entwickelte. Hervorzuheben ist auch, dass Troeltsch sich von Simmels Geschichtstheorie hinsichtlich ihrer religiösen Implikationen deutlich distanziert (S. 462 f.).

Vielfach belehrt und dadurch befriedigt legt man als Soziologe heute dieses Buch nicht ohne melancholische Gefühle nieder. Es ist Zeugnis einer Epoche, in der die Disziplinen auf ihr methodisches Rüstzeug größten Wert legten, aber doch die Überschreitung der Grenzen zwischen ihnen gang und gäbe war. Die Soziologie hatte einen universalhistorischen Horizont, und die Religionen galten als wesentliche Gegenstände soziologisch-realistischer Analyse. Wenn heute an diesen Geist der europäischen Gründergeneration wieder angeknüpft werden soll, kann dies nicht durch Verengung auf die Gestalt von Max Weber geschehen. Dieser würde so aus dem Umfeld, das ihn nährte, nur isoliert. Mit der Berücksichtigung der Schriften Troeltschs wächst der Soziologie ein reiches Erbe neu zu.