Ein geborener Strukturalist?
In einem Interview aus dem Jahr 1992 hebt Philippe Descola hervor, dass die Entwicklung von Claude Lévi-Strauss’ strukturaler Anthropologie keineswegs nur auf den Einfluss der strukturalistischen Linguistik zurückgeführt werden könne, sondern auch seinen ethnographischen Erfahrungen in Brasilien entscheidende Bedeutung zugesprochen werden müsse:
I’m absolutely convinced that structuralism is not only part of the intellectual insights of Lévi-Strauss. It is also part of his experience as an ethnographer in Brazil among the Bororo and the Nambikwara. Many of his ideas do not stem only from the works of Trubetskoy or Jakobson but from the intellectual endeavour of understanding this sort of society (Knight and Rival 1992: 12).
Die spezifischen Eigenarten der Gesellschaften Amazoniens, so Descola, würden in gewisser Weise eine strukturalistische Betrachtungsweise nahelegen.Footnote 1
Lévi-Strauss’ eigene Darstellung vermittelt dagegen das Bild des geborenen Strukturalisten, der – ohne es zu wissen – seit je her, selbst im zarten Alter von zwei Jahren, strukturalistisch dachte.Footnote 2 Dieser Selbstinterpretation zufolge machte also die von dem strukturalistischen Linguisten Roman Jakobson initiierte „Erleuchtung“ nur explizit und bewusst, was zuvor ein unbewusster und „naiver Strukturalismus“ war (Lévi-Strauss und Eribon 1996 [1988]: 65).
Keine dieser beiden Darstellungen vermag zu überzeugen. Descola unterschätzt die Theoriegeleitetheit der (ethnographischen) Erfahrung zugunsten eines angeblich für sich selbst sprechenden Untersuchungsgegenstandes; Lévi-Strauss projiziert das Ergebnis seiner intellektuellen Entwicklung an deren Anfang. Beide Deutungen stimmen jedoch in spezifischer Hinsicht überein, denn sie fördern und bestätigen ein etabliertes Bild von Claude Lévi-Strauss: das eines einzelgängerischen und genialen Forschers, der weitgehend unabhängig von gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Prägungen und nur seinem „neolithischen Verstand“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2003 [1955]: 46; Lévi-Strauss und Eribon 1996 [1988]: 8) folgend, durch die Konfrontation mit dem nackten Gegenstand wie von selbst zu seiner strukturalen Anthropologie fand.Footnote 3 Dieses häufig unhinterfragt hingenommene Bild, das insbesondere durch die beachtliche Wirkung von Lévi-Strauss’ Traurigen Tropen (2003 [1955]) weit verbreitet ist, blendet die wissenschaftlichen Einflüsse und den institutionellen Kontext seiner ethnographischen Expeditionen und frühen Schriften weitgehend aus:
[D]espite his attempt to project an image as an alienated outsider, there is ample evidence that Lévi-Strauss himself was already taking part in a corporate existence by the 1930s and 1940s and that he went to rather great lengths in Tristes Tropiques to hide this fact. […] He also chose to minimize his own involvement with other professional anthropologists and often created the false impression that he was working completely on his own. There is only a single rather vague reference to the institutional sources of financial support for his expedition, and, in contrast to the descriptions of his professors at the Sorbonne, there is no real discussion about his contacts to Marcel Mauss, Lévy-Bruhl, and other prominent French anthropologists of the period (Pace Reference Pace1986: 37f).
Will man verstehen, wie Lévi-Strauss von der Ethnographie zur strukturalen Anthropologie gelangte und will man sich dabei von keiner der genannten Interpretationen „narren“ lassen, so muss man insbesondere den intellektuellen und ideengeschichtlichen Kontext in den Blick nehmen, in dem sich der frühe Lévi-Strauss bewegte. Zu fragen ist, mit welchen Leitkonzepten Lévi-Strauss Mitte der 1930er Jahre ins Feld ging, so dass in Auseinandersetzung mit dem amazonischen Material schließlich ab Mitte der 1940er Jahre eine strukturalistische Theorie entstehen konnte.Footnote 4
Im vorliegenden Aufsatz wird an die in der Literatur häufig anzutreffende, aber bislang nicht eingehender untersuchte These angeknüpft, dass das Werk des Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss einen wichtigen Einfluss auf das sich formierende Denken von Claude Lévi-Strauss ausgeübt hat.Footnote 5 Entgegen der Tendenz in der Sekundärliteratur, den Einfluss von Mauss (und dann meistens lediglich von dessen Essai sur le don aus dem Jahr 1925Footnote 6) vor allem in Lévi-Strauss’ frühem Hauptwerk Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft von 1949 auszumachen (vgl. v. a. Dosse Reference Dosse1999 [1991]: 58 f.; Leach Reference Leach1998 [1970]; Deliège Reference Deliège2004; Keck Reference Keck2005; Kauppert Reference Kauppert2008; Reinhardt Reference Reinhardt2008), soll im Folgenden allerdings gezeigt werden, dass Mauss das Werk von Lévi-Strauss von Beginn an und in seiner ganzen Breite geprägt hat.Footnote 7
Der Fokus der Untersuchung wird auf der „formativen Phase“ zwischen Lévi-Strauss’ erster ethnographischer Veröffentlichung im Jahr 1936 (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1936) und dem Jahr 1964 liegen, einem Zeitpunkt, zu dem die Erarbeitung des theoretischen Rahmens der strukturalen Anthropologie weitestgehend abgeschlossen ist und mit der Veröffentlichung des ersten Bandes der Mythologica die Mythenanalyse zum fast ausschließlichen Untersuchungsgegenstand wird.Footnote 8
Diesem Zuschnitt entsprechend, wird es im Folgenden darum gehen, die überaus starke Aneignung von Mauss in Lévi-Strauss’ Arbeiten nicht nur zur Verwandtschaftsethnologie, sondern auch zu „primitiven“ Klassifikationssystemen und den Charakteristika des „wilden Denkens“ generell zu belegen. Nachzuweisen ist zum einen, dass Mauss eine kaum zu überschätzende Wirkung auf Lévi-Strauss’ häufig missachtete ethnographische Arbeiten der 1930er und frühen 1940er Jahre ausübte, zum anderen, dass sich wesentliche argumentative Bestandteile späterer Schriften schon in den ethnographischen Arbeiten erkennen lassen.Footnote 9
Über das im engeren Sinne wissenschaftsgeschichtliche Interesse hinaus kann die Studie auch im Hinblick auf allgemeinere wissenschaftshistorische und -soziologische Fragen von Interesse sein. Zum einen lässt sich anhand der gewählten Thematik exemplarisch zeigen, auf welche Art und Weise ein Autor (hier Lévi-Strauss) versucht, ein bestimmtes Bild von sich zu zeichnen und die Wahrnehmung seines Werks dauerhaft zu prägen (in diesem Fall recht erfolgreich). Diese Selbstkonturierung geht mit Praktiken der Abgrenzung und der Diskursverknappung einher, mittels derer Verbindungen zu wichtigen Referenzdisziplinen, -strömungen oder -autoren gekappt oder auf bestimmte Weise eingefärbt werden.Footnote 10 Diese Darstellungspraktiken (die keineswegs bewusst durchgeführt werden müssen) lassen sich offenlegen, wodurch wichtige Mechanismen der Wissenschaftsentwicklung und -rezeption besser verstanden werden können. Zum anderen kann an unserem Untersuchungsgegenstand deutlich gemacht werden, wie die spezifische Aneignung eines bestimmten Werks (in diesem Fall die von Mauss durch Lévi-Strauss) dessen weitere Rezeption lenkt. Damit ergeben sich Einsichten in die Pfadabhängigkeit der Rezeptionsgeschichte, da erkennbar wird, dass bestimmte Themenbereiche, Kernkonzepte und Leitfragen ins Zentrum der Rezeption rücken, während andere dauerhaft aus dem Blick geraten. Zusammengenommen kann eine detaillierte Analyse von Aneignung, Selbstkonturierung und Rezeptionslenkung vielleicht auch dazu führen, dass ins Abseits gedrängte Wissenschaftspotenziale wieder in den wissenschaftlichen Diskurs zurückgeführt werden können.Footnote 11
Diesen allgemeinen Überlegungen entsprechend darf der Nachweis der enormen Bedeutung des Werkes von Mauss für Lévi-Strauss nicht zu der Einschätzung verleiten, in dessen Arbeiten eine natürliche oder zwangsläufige Transformation bzw. unmittelbare Weiterführung von Mauss’ Denken zu sehen. Stattdessen, so wird im abschließenden Abschnitt zu zeigen sein, handelt es sich bei der strukturalen Anthropologie um eine spezifische und vereinseitigende Mauss-Interpretation, die mit anderen möglichen Deutungen kontrastiert werden kann. Wie die anderen (rivalisierenden) Rezeptionsstränge des Denkens von Mauss verfolgt aber auch Lévi-Strauss eine spezifische „Aneignungspraxis“, indem er Mauss zu einem strukturalistischen Anthropologen avant la lettre erklärt.Footnote 12
Verwandtschaftsethnologie
Bereits dreizehn Jahre vor der Veröffentlichung von Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2000 [1949]) betont Lévi-Strauss gegenüber Mauss die Bedeutung, die dessen Forschungen über die Gabe und den Austausch in archaischen Gesellschaften für seine ersten Feldforschungen hatten. In einem Brief vom 14. März 1936Footnote 13 berichtet Lévi-Strauss nicht nur, dass er bei seinen Forschungen bei den Caduveo von dessen Ratschlägen inspiriert worden sei, sondern auch, dass er bei den Bororo genau die reziproken und obligatorischen Leistungen von Clan zu Clan gefunden habe, über die Mauss in seinen Arbeiten gesprochen habe.Footnote 14 Mauss hat diese Phänomene bekanntlich in seiner am breitesten rezipierten Arbeit Die Gabe (Mauss Reference Mauss2004 [1925]) anhand fremdkultureller Gabepraktiken in Melanesien und bei den Nordwestküstenindianern sowie im Personen- und Steuerrecht der Römer, in der Gabetheorie der Hindus und in den Pfandpraktiken der Germanen untersucht.
In der Tat sind weite Teile von Lévi-Strauss’ frühen ethnographischen Studien von gabentheoretischen Überlegungen durchsetzt. Lévi-Strauss unterscheidet dabei drei Formen von Reziprozität, was sich an seinen Studien zu den Nambikwara, die den Schwerpunkt seiner zweiten und längeren ethnographischen Expedition, aber auch seines ethnographischen Werkes insgesamt darstellen, am besten demonstrieren lässt.Footnote 15
Neben dem Austausch zwischen Individuen sowie zwischen einer Gruppe und ihrem Anführer entdeckt Lévi-Strauss bei den Nambikwara noch eine dritte Form: den Austausch zwischen Kollektiven (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss, Middleton and Cohen1967 [1944]). Diese Form ist nicht nur diejenige, die für den weiteren Verlauf von Lévi-Strauss’ Denkweg die bedeutendste ist, sondern auch jene, die in Mauss’ Gabe-Essay im Zentrum steht (vgl. Mauss Reference Mauss2004 [1925]: 21). Hierbei steht zunächst die Gabe als Frieden stiftende Handlung, also als „außenpolitisches“ Mittel schriftloser Gesellschaften im Mittelpunkt (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1943a; Reference Lévi-Strauss1949). In seinem Aufsatz „Guerre et commerce chez les Indiens de l’Amérique du Sud“ beschreibt Lévi-Strauss (1943a: 132 ff.) anhand eines „Konflikts“ zwischen zwei Nambikwara-Gruppen genau jenes wechselseitige Bedingungsverhältnis von Krieg und Austausch, das schon Mauss eindrücklich beschrieb: „Sich weigern, etwas zu geben, es versäumen, jemand einzuladen, sowie es ablehnen, etwas anzunehmen, kommt einer Kriegserklärung gleich; es bedeutet, die Freundschaft und die Gemeinschaft zu verweigern.“ (Mauss Reference Mauss2004 [1925]: 37) Krieg und Tausch sind demnach untrennbar miteinander verschränkt, sie sind zwei Seiten einer Medaille (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1943a: 136, 138).Footnote 16
Der Austausch ist der zentrale Mechanismus, der die „Außenpolitik“ schriftloser Gesellschaften bestimmt. Sein Gelingen oder Misslingen entscheidet darüber, in welche Richtung der „institutionellen Kette“ indigener Diplomatie sich die Kollektive bewegen. Diese „Kette“ versinnbildlicht hierbei ein Kontinuum, das vom Krieg bis hin zur Vereinigung der Parteien reicht.Footnote 17 Das letztere Ende des Kontinuums konnte Lévi-Strauss selbst beobachten, als er einem Zusammenschluss zweier Nambikwara-Gruppen beiwohnte (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1943a: 137f.). Mit der Fusion ist der Schritt vom Tausch zwischen zwei fremden Kollektiven hin zum internen Tausch zwischen Clans oder Heiratsklassen getan. Indem die beiden Nambikwara-Gruppen die Männer der jeweils anderen Horde als ihre Kreuzvettern anerkennen, sorgen sie dafür, dass „sich alle Kinder der einen Gruppe in der Situation von ‚potentiellen Gatten‘ der Kinder der anderen Gruppe befinden und umgekehrt“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2003 [1955]: 301). Die „Außenpolitik“ führt hier demnach direkt in die Verwandtschaftsethnologie, Heirat erschließt sich ihm als Tausch (vgl. Paul Reference Paul1996: 65). Während Lévi-Strauss bei den Nambikwara vermittels einer gabentheoretischen Perspektive „die Bedeutung und das Wesen der Kreuzcousinenheirat“ (Paul Reference Paul1996: 65) versteht, ermöglicht sie es ihm bei den Bororo, auch in der Dualorganisation eine der entscheidenden Möglichkeit der Verwandtschaftsorganisation zu erkennen: „Das Grundmerkmal der Heirat als Form des Austausches“, so wird er im Jahr 1949 schreiben, „zeigt sich besonders deutlich bei den dualen Organisationen“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2000 [1949]: 128).Footnote 18
In den von Mauss’ Gabedenken geprägten ethnographischen Studien stößt Lévi-Strauss demnach auf die grundlegende Verbindung von Reziprozität, Pazifizierung, sozialer Kohäsion und Verwandtschaft im Allgemeinen sowie auf die große Bedeutung von dualer Organisation (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1936, Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1943a) und Kreuzkusinenheirat (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1943b: 405) für die Lösung verwandtschaftlicher Probleme im Speziellen.Footnote 19 Mehr noch: Schon bei Mauss lässt sich die gesamte „institutionelle Kette“ erkennen. Ein längeres Zitat soll dies unterstreichen:
Zunächst einmal sind es nicht Individuen, sondern Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten, die austauschen und kontrahieren; die am Vertrag beteiligten Personen sind moralische Personen: Clans, Stämme, Familien, die einander gegenübertreten […]. Zum anderen ist das, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich Güter und Reichtümer, bewegliche und unbewegliche Habe, wirtschaftlich nützliche Dinge. Es sind vor allem Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tänze, Feste, Märkte, bei denen Handel nur ein Moment und der Umlauf der Reichtümer nur eine Seite eines viel allgemeineren Vertrags ist. Schließlich vollziehen sich diese Leistungen und Gegenleistungen in einer eher freiwilligen Form, durch Geschenke, Gaben, obwohl sie im Grunde streng obligatorisch sind, bei Strafe des privaten oder öffentlichen Krieges. Wir haben vorgeschlagen, all dies das System der totalen Leistungen zu nennen. Der reinste Typus dieser Institution scheint uns in dem Bündnis zweier Phratrien in den australischen oder nordamerikanischen Stämmen gegeben zu sein, bei dem alles – Riten, Heiraten, Erbschaft, Rechts- und Interessenbindungen, Militär – und Priesterränge – einander ergänzt und die Zusammenarbeit der beiden Hälften des Stammes voraussetzt (Mauss Reference Mauss2004 [1925]: 21f.; unsere Herv).
Alle Aspekte von Lévi-Strauss’ Argumentation sind hier schon angedeutet – von der Friedensschließung zwischen zwei Gruppen bis hin zur Interpretation dualer Gesellschaftsformen als einer wesentlichen Form der Reziprozitätsorganisation.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Bedeutung von Marcel Mauss in den ethnographischen Schriften von Lévi-Strauss kaum Erwähnung findet. Drei besonders auffällige Beispiele seien genannt: Obwohl Lévi-Strauss in seinem oben erwähnten Brief aus dem Jahr 1936 Mauss’ Studien als wesentliche Inspiration für seine ForschungenFootnote 20 bei den Bororo bezeichnet, wird Mauss in dem hieraus resultierenden Aufsatz „Contribution à l’étude de l’organisation sociale des Indiens Bororo“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1936) aus demselben Jahr – übrigens Lévi-Strauss’ erste ethnographische Arbeit – nicht erwähnt. Ferner wird Mauss auch in den Aufsätzen zur „Außenpolitik“ schriftloser Gesellschaften (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1943a; Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1949), in denen die Bezüge deutlich hervortreten (vgl. auch Johnson Reference Johnson2003: 39), nicht zitiert. Bezeichnend ist schließlich auch, dass man einen Verweis auf Mauss im Kapitel „Männer, Frauen, Häuptlinge“ aus den Traurigen Tropen (2003 [1955]: 300-314), von dem etwa Paul (1996: 22) sagt, es illustriere, dass Lévi-Strauss (2003 [1955]: 53) zurecht von sich sagen kann, dass er „heute wahrscheinlich die Durkheimsche Tradition treuer bewahre als irgendein anderer“, vergeblich sucht, wobei dieser Verweis auf Mauss (wenn auch recht unspezifisch) in Lévi-Strauss’ Aufsatz „The Social and Psychological Aspects of Chieftainship in a Primitive Tribe“, der die fast wortgleiche Grundlage dieses Kapitels bildet, noch zu finden ist (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss, Middleton and Cohen1967 [1944]: 59). Diese Einsichten unterstützen folglich die mit David Pace zu Beginn vertretene These, dass hier ein bestimmtes Selbstbild gezeichnet werden soll.Footnote 21
Während sich in den genannten ethnographischen Artikeln, der thèse complémentaire und den später teilweise hieraus erwachsenden Traurigen Tropen, Mauss’ Arbeiten deutlich herauslesen lassen, der Bezug aber fast immer nur implizit hergestellt wird, findet Mauss ab Mitte der vierziger Jahre zunehmend Erwähnung in den Arbeiten von Lévi-Strauss. So rücken Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft den Essai sur le don in ihr Zentrum. Diese intensive Bezugnahme scheint die vorgebrachte These einer Konturierung zumindest im Hinblick auf Mauss zunächst zu widerlegen. Daher müssen neben der Mauss’schen Prägung der frühen ethnographischen Arbeiten auch die späteren Mauss-Referenzen hinsichtlich ihrer gabe- und verwandtschaftsethnologischen Implikationen betrachtet werden.
Lévi-Strauss’ Interesse an der Gabestudie deckt sich keineswegs vollständig mit der Zielsetzung des Autors. Während Mauss eine „Genealogie“ oder „Theorie einer allgemeinen Verpflichtung“ (Mauss Reference Mauss2004 [1925]: 35) erarbeiten will, liest Lévi-Strauss Die Gabe vor allem als eine theoretische Analyse des symmetrischen Tausches sowie als wichtigste soziologische und ethnologische Arbeit über das elementare Prinzip der Reziprozität. Nach Lévi-Strauss lasse sich dieses „Prinzip der Reziprozität“ und dessen universelle Gültigkeit am deutlichsten an den Heiratsregeln und damit am Inzestverbot und Exogamiegebot erkennen und verdeutlichen. „Verwandtschaft“ analysiert Lévi-Strauss dabei nicht – wie zuvor meist üblich – in Ableitung von vertikalen Abstammungslinien, sondern ausgehend von horizontalen strukturellen Beziehungen.Footnote 22 Seine zwischen 1943 und 1947 gehaltenen Vorlesungen zur Verwandtschaft verdichtet er auf Anregung Roman Jakobsons zu Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft – ein Titel, der nicht zufällig an Durkheims Die elementaren Formen des religiösen Lebens erinnert und ihn direkt in eine Abstammungslinie zur Durkheim-Schule stellen soll; gleichzeitig aber „verdrängt“ hier bereits die Verwandtschaft die Religion als zentralen gesellschaftlichen Integrationsmechanismus – auf diese folgenreiche theoretische Umstellung werden wir noch zurückkommen.Footnote 23
Den engen Zusammenhang zwischen seinem Verständnis des Inzestverbots und dem Mauss’schen Gabetheorem beschreibt Lévi-Strauss folgendermaßen:
Das Inzestverbot ist weniger eine Regel, die es untersagt, die Mutter, Schwester oder Tochter zu heiraten, als vielmehr eine Regel, die dazu zwingt, die Mutter, Schwester oder Tochter anderen zu geben. Es ist die höchste Regel der Gabe, und gerade dieser allzu oft verkannte Aspekt erlaubt es, ihre Natur zu verstehen (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2000 [1949]: 643).
Demzufolge erschöpft sich für Lévi-Strauss auch der Inhalt des Verbots nicht in der „Tatsache des Verbots; es wird nur deshalb eingeführt, um direkt oder indirekt, mittelbar oder unmittelbar einen Austausch zu garantieren und zu begründen“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2000 [1949]: 106). Er begreift (oder reduziert) Gabe dabei als Tausch, der von ihm als ein „Grundkomplex der Kultur“ überhaupt angesehen wird (vgl. 2000 [1949]: 119), weil man ihn beispielsweise sowohl im potlatschartigen Austausch von Weihnachtsgeschenken in westlichen GesellschaftenFootnote 24 als auch im Frauentausch indigener Gesellschaften entdecken könne. Nach Lévi-Strauss ist die Beziehung, die man zwischen der Heirat und dem Mauss’schen Gabe-Theorem herstellen kann, nicht willkürlich (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2000 [1949]: 122). Man habe beispielsweise noch vor einiger Zeit gesagt, der Vater gebe seine Tochter in die Ehe. Der Begriff „gift“ verweise in den germanischen Sprachen noch immer auf Geschenk und Heirat – man denke an die „Mitgift“.Footnote 25
Wie für Mauss die Gabe ist für Lévi-Strauss der Tausch ein „soziales Totalphänomen“, das die gesamte Gesellschaft in ihrer Totalität am Leben erhält, überhistorisch wirksam ist und alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens (rechtliche, religiöse, ökonomische, ästhetische etc.) durchdringt. Mauss, so Lévi-Strauss (und damit auch andere Anhänger der strukturalen Anthropologie), habe dies zwar ganz richtig gesehen, aber an dem entscheidenden Punkt, das Ganze als eine übersubjektive Struktur zu begreifen, sei er stehen geblieben. Lévi-Strauss versteht den Tausch als „totalen Tausch“, der „nicht allein hergestellte Objekte, Naturprodukte, Nahrungsmittel, sondern auch jene Kategorie wertvoller Güter [umfaßt], die aus mehrerlei Gründen als die gesuchtesten gelten: Frauen. Es ist dies genau die Stelle, wo Lévi-Strauss über Mauss hinausgeht und die anthropologische Theorie in einen neuen Raum führt. Denn er war es, der den Tausch und das in ihm umgesetzte Prinzip der Reziprozität auch in den verschiedenen Typen der Heirat wirken sah“ (Oppitz Reference Oppitz1993 [1975]: 103).Footnote 26
Zusammengefasst besteht in den Augen von Lévi-Strauss des vornehmliche (wenn auch unbewusste) Zweck der zwischen den Gruppen getauschten Gaben, denen die gegebenen Frauen als die wertvollsten Güter zuzurechnen sind, in der Schlieβung und Erneuerung sozialer Bindungen.
die Heiraten zwischen den Partnern gegenseitiger Gaben eines der wichtigsten Elemente ihrer Tauschhandlungen bildeten. In der Tat handelte es sich um ein grundlegendes Element. Blieb noch der genaue Nachweis dafür. Und diesen erbringt Claude Lévi-Strauss in Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Dieses Werk lässt sich als die reichhaltigste und ehrgeizigste Fortsetzung des Essay Die Gabe betrachten (es überrascht, dass so wenige Kommentatoren es bemerkt haben) (Hénaff Reference Hénaff2009 [2002]: 219f.).Footnote 27
Diese Interpretation wird auch dadurch gestützt, dass Lévi-Strauss selbst den Essai als Ausgangspunkt und die Inspirationsquelle seiner eigenen Forschungen betrachtete, wie er in einem (bislang unveröffentlichten) Brief vom 2. Oktober 1944 an Mauss schreibt. Dies betreffe sogar die enge Verbindung der strukturalen Anthropologie mit der Linguistik: Mauss selbst habe die Bedeutung dieser Verbindung deutlich vor Augen gehabt, als er 1924 in einem Vortrag über die Beziehungen zwischen Soziologie und Psychologie das Soziale als eine „Welt symbolischer Bedeutungen“ charakterisierte, so Lévi-Strauss (1974 [1950]: 12). Mauss benutze im Essai eine „Technik des Operierens“, die „sehr nahe mit derjenigen verwandt ist, die Trubetzkoy und Jakobson zur gleichen Zeit, als Mauss Die Gabe schrieb, entwickelten und die es ihnen ermöglichte, die strukturale Linguistik zu begründen. […] Wie die Phonologie für die Linguistik, leitet Die Gabe eine neue Ära der Sozialwissenschaften ein.“ (1974 [1950]: 28).Footnote 28
Mit dieser „neuen Ära“ bezeichnet Levi-Strauss nichts anderes als seine eigenen Forschungen und den Beginn der „strukturalen Anthropologie“. Damit ist der Grundimpuls seiner Mauss-Aneignung bestimmt. Besonders deutlich erkennbar ist dieser in der ebenso berühmten wie umstrittenen Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, die der im Jahr 1950 veröffentlichten Textsammlung Soziologie und Anthropologie von Mauss (Mauss Reference Mauss1974 [1950]; 1975 [1950]) vorangestellt ist und die Marcel Hénaff (1998: 249) mit gutem Grund als „Manifest des Strukturalismus“ bezeichnet. Hier präsentiert Lévi-Strauss Mauss als Vordenker des sozialwissenschaftlichen Strukturalismus (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss and Mauss1974 [1950]: 28ff.). Er versucht nachzuweisen, dass jener schemenhaft etwas erkannt habe, was er aber noch nicht gänzlich fassen konnte. Mauss habe ganz richtig gesehen, dass in der „totalen sozialen Tatsache“ des Gabentauschs scheinbar sehr heterogene Kulturbereiche zusammenfallen. Anstatt jedoch zu erkennen, dass all diese Kulturbereiche mitsamt dem Gabentausch auf einer transzendental-universalen, alles Kulturelle überhaupt erst konstituierenden geistigen Struktur und damit auch auf einem viel allgemeineren Austauschgesetz beruhen (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss and Mauss1974 [1950]: 30), sei Mauss zur Erklärung dieser Phänomene auf der Ebene der Individuen und der Handlungen verblieben. Weil er, anstatt das Ganze und Unbewusste zu erfassen, das Ganze aus den Teilhandlungen erklären wollte – also auf dem „Niveau einer ‚Phänomenologie‘ des Gabentauschs“ (Bourdieu Reference Bourdieu2008 [1980]: 180) verblieb –, gelang Mauss nach Lévi-Strauss (1974 [1950]: 31) letztendlich nicht der alles entscheidende Durchbruch. Trotz seiner genialen Intuition habe sich Mauss letztendlich, anstatt zur universalen Schicht des strukturalen Unbewussten vorzudringen, von den oberflächlichen Rationalisierungen der Eingeborenen „narren“ lassen.Footnote 29 Ferner habe er zwar die bedeutende Rolle des Symbolischen erfasst,Footnote 30 habe aber fälschlicherweise eine soziologische Theorie des Symbolismus erarbeitet, während man aber „offensichtlich einen symbolischen Ursprung der Gesellschaft zu suchen hat“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss and Mauss1974 [1950]: 18).Footnote 31 In Lévi-Strauss’ Narrativ wird Mauss somit zum „proto-structuralist“ (Wilkens 2010: 177), zu einem bedeutenden, aber „unvollendeten“ Zwischenschritt, dessen „eigentliche“ Position und Bedeutung noch nicht zur Gänze entwickelt war, kurz: Zu einem Denker, dem die strukturalistische „Offenbarung“ noch nicht vergönnt war.
Klassifikationssysteme
Die Verschiebung von Lévi-Strauss’ Hauptinteresse weg von der Verwandtschaftsethnologie hin zur Klassifikationstheorie, die im Jahr 1962 zur „Zwillingsveröffentlichung“ von Das Ende des Totemismus (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1997 [1962]) und Das wilde Denken (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1986 [1962]) führt, ist keineswegs eine willkürliche Entwicklung. Seine Kritik am Totemismus verdeutlicht dies, ist dieser doch notwendigerweise sowohl mit einer wesentlichen Form der Exogamie als auch mit Klassifikationsleistungen verbunden und steht damit zwischen den genannten Hauptuntersuchungsfeldern der strukturalen Anthropologie. Sobald nämlich eine Gesellschaft über eine konstante Anzahl von exogamen Gruppen organisiert ist – wenn sich also bei Bevölkerungszunahme oder -abnahme nicht die Anzahl von Familien, sondern die Anzahl der Angehörigen der einzelnen Gruppen (Clans, Heiratsklassen etc.) verändert –, ergibt sich die Notwendigkeit sowohl einer „unzweideutigen Abstammungsregel“ als auch „einer unterscheidenden Bezeichnung, die durch Abstammung weitergegeben wird und die die Kenntnis der wirklichen Bindung ersetzt“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1997 [1962]: 21). Mit anderen Worten: Wenn Verwandtschaft über exogame Gruppen organisiert wird, tritt an die Stelle der „wirklichen“ eine „soziale“ Verwandtschaftsstruktur, die nicht mit ersterer übereinstimmt und die folglich ihr eigenes Bezeichnungssystem erfordert. Dieses aber wirft das grundlegende totemistische Rätsel auf. Denn man fragt sich, warum gerade das „Pflanzen- und Tierreich eine bevorrechtigte Nomenklatur zur Bezeichnung des soziologischen Systems bietet, und welche Beziehungen logisch zwischen dem Bezeichnungssystem und dem bezeichneten System existieren“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1997 [1962]: 22). Warum teilen die australischen Stämme vom Darling Fluss ihre Gesellschaften in Falken und Krähen, die Haida in British Columbia in Raben und Adler, manche südaustralischen Stämme wiederum in Wombats und Kängurus auf (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1997 [1962]: 108ff.)? Warum so häufig Tiernamen? Und: Warum gerade bestimmte Kombinationen von Tiernamen? Trotz seiner Fundamentalkritik am Totemismus erachtet Lévi-Strauss diese Fragen als äußerst relevant. Weder dürfe man – wie er es etwa Franz Boas und Durkheim vorwirft (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1997 [1962]: 22, 79ff., 93f.) – die totemistischen Bezeichnungen als willkürlich abtun, noch – wie es oft implizit geschehe – als quasi-notwendig ansehen, da mit den Tier- und Pflanzeneponymen angeblich stets der Glaube an die Verwandtschaft mit den Totems ausgedrückt würde (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1997 [1962]: 99). Die von Lévi-Strauss angestrebte „Liquidation des totemistischen Problems“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1997 [1962]: 108) führt mithin gerade nicht zum Verzicht auf die systematische Untersuchung dieser Formen von „primitiver“ Klassifikation, denn dies würde bedeuten, dass „man das Kind mit dem Bade ausschüttet“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1997 [1962]: 63). Stattdessen, so Lévi-Straus, müsse man genauso wie bei den Heiratsregeln die Suche nach der Logik der „wilden“ Klassifikationen von einem allgemeineren Gesichtspunkt wieder aufnehmen, um hinter ihrer verwirrenden Vielfalt und scheinbaren Absurdität eine einheitliche Struktur zu erkennen (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1997 [1962]: 63f.). Im Totemismusproblem sind demnach Probleme der Verwandtschaftsethnologie und der Klassifikation sowohl substantiell wie methodisch miteinander verflochten und die hierdurch aufgeworfenen Fragen führen mitten hinein in die Eigenarten des „wilden Denkens“, dessen Logik Lévi-Strauss aufdecken will, um ihm damit seine Würde und Gleichwertigkeit wiederzugeben.
In Myth and Meaning weist Lévi-Strauss (1978: 16ff.) darauf hin, dass er Das wilde Denken und Das Ende des Totemismus vor allen Dingen geschrieben hat, um zwei einflussreiche Deutungen des „primitiven“ Denkens zurückzuweisen: Einmal die utilitaristisch-funktionalistische Deutung, wonach das Denken der „Wilden“ vollkommen durch ihre Grundbedürfnisse bestimmt sei, um deren Erfüllung sie stets kämpfen müssten und daher vollständig davon eingenommen seien. Diese Theorie findet er vor allem bei Bronislaw Malinowski und dem frühen Alfred Reginald Radcliffe-Brown ausformuliert. Zum anderen Lucien Lévy-Bruhls einflussreiche These, wonach das Denken schriftloser Völker „affektiv“ abläuft und daher nicht als intellektuell bezeichnet werden kann, da es nicht deutlich differenzieren könne und keine Fähigkeit zur Abstraktion aufweise. All diese Interpretationen hält Lévi-Strauss für grundlegend verfehlt. Er will stattdessen zeigen, dass das „wilde Denken“ in wesentlichem Maße nicht-utilitaristische und intellektuelle Züge trägt.
Ähnlich wie im Bereich der Verwandtschaftsethnologie findet sich Lévi-Strauss’ Position innerhalb dieser Debatte schon in seinen ethnographischen Ausführungen ab den 1930er Jahren – vor allem zu den Bororo – vorgezeichnet. Auch für diesen wesentlichen Teil des Werks lässt sich nachweisen, dass es unmöglich ist, Lévi-Strauss’ ethnographische Ergebnisse und auch seine spätere theoretische Entwicklung zu verstehen, ohne die Arbeiten der Durkheim-Schule – in diesem Fall v. a. die zur sozialen Morphologie und Klassifikationstheorie – zu berücksichtigen. Erneut darf diese These aber nicht so verstanden werden, als ob er diese Positionen der durkheimiens eins zu eins übernehme. Lévi-Strauss’ spätere strukturale Wissensanthropologie stellt vielmehr eine deutliche Veränderung der Wissenssoziologie der Durkheim-Schule dar, das heißt, es findet in der Aneignung eine Verschiebung und Differenzsetzung (différence) statt, die aber zugleich auf das Angeeignete konstitutiv angewiesen ist und dieses noch sichtbar sein lässt. Im Gegensatz zu den utilitaristisch-funktionalen oder affektiven Wissenstheorien steht er mit der Wissenssoziologie der Durkheim-Schule aus diesem Grund trotz allem in einem direkten „Verwandtschaftsverhältnis“.
Am Beispiel der frühen Forschungen über die Bororo lässt sich dies gut veranschaulichen. Das Bororo-Dorf Kejara, so Lévi-Strauss (2003 [1955]: 211), ähnelt „einem Wagenrad, bei dem die Familienhütten den Kreisbogen, die Pfade die Speichen und das Männerhaus die Nabe bilden“. Das Dorf teilt sich nicht nur verwandtschaftlich, sondern auch räumlich in zwei exogame matrilineare Hälften auf. Die Clane nehmen innerhalb der Hälften kleinere Kreissegmente ein, welche wiederum unter je drei Klassen aufgeteilt sind. Die Junggesellen leben (aufgrund der Matrilokalität) im großen Männerhaus in der Mitte des Dorfes. Kurz: „Die morphologische Struktur des Dorfes drückt unmittelbar die soziale Organisation aus“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1936: 271).Footnote 32 Diese Struktur ist jedoch für die Bororo von noch weitaus größerer Bedeutung, denn sie ist die „Grundlage ihres Wissens“ – würde sie zerstört, würden sie „schnell den Sinn für die Traditionen [verlieren], so als wäre ihr soziales und religiöses System […] zu kompliziert, um des Schemas entraten zu können, das durch den Plan des Dorfs offenbar wird und dessen Umrisse ihre alltäglichen Gesten immer aufs neue auffrischen“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2003 [1955]: 212).
Schon diese wenigen Zeilen genügen, um die massiven Rückbezüge dieser ethnographischen Studien auf die wissenssoziologischen und sozialmorphologischen Studien der Durkheim-Schule zu erkennen. Was die Verschränkungen zwischen der sozialen Struktur, der Morphologie und der Strukturierung des Wissens (von den alltäglichen Pflichten bis hin zur Kosmologie) betrifft, können Lévi-Strauss’ Studien zu den Bororo geradezu als Anwendung dessen gelten, was Durkheim und Mauss in ihrem „berühmten Essay“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1986 [1962]: 53) „Über einige primitive Formen von Klassifikation“ (Durkheim und Mauss 1993 [1903]) beschreiben. Denn auch wenn er den radikalen epistemologischen und entwicklungstheoretischen Anspruch dieser beiden nicht erhebt, versucht Lévi-Strauss doch für die Bororo zu belegen, was diese für die australischen Aborigenes oder die Zuñi-Indianer zu zeigen beanspruchen: dass die „Klassifikation der Dinge“ die „Klassifikation der Menschen“ reproduziert (Durkheim und Mauss 1993 [1903]: 179). Seine Analysen der Auswirkungen der dualen sozialen Morphologie auf die Zweiteilung des Tages in eine intensiv-religiöse Phase in der Nacht und eine säkulare Phase am Tag (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2003 [1955]: 209f.),Footnote 33 aber auch der „konkreten Ausdrücke“ (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1936: 288), die diese soziale Struktur in der materiellen Kultur (Waffen, Schmuck etc.), in den Techniken, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung oder dem „minutiösen System der Verpflichtungen“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2003 [1955]: 219) findet, entsprechen wiederum dem, was Mauss in seiner Studie „Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften“ schreibt (vgl. Mauss Reference Mauss1974 [1950]: 181-278).Footnote 34
Auch bei den Bororo „verschmilzt […] die Idee des Lagers mit der Idee der Welt“ (Durkheim und Mauss 1993 [1903]: 235). Auch bei ihnen ist das Lager „der Mittelpunkt des Universums, und das Universum verkürzt sich auf das Lager“ (Durkheim und Mauss 1993 [1903]: 235). Bei dem, was Lévi-Strauss für die Bororo beschreibt, handelt es sich demnach um eine jener „totalen Klassifizierungen“ über die Durkheim und Mauss nachgedacht haben (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1986 [1962]: 73). Jeweils geht es den Autoren darum, wie Lévi-Strauss (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1997 [1962]: 101f.) dies später formulieren wird, Ähnlichkeiten oder Entsprechungen zwischen den Systemen von Unterschieden, also Homologien, zu erfassen.
Die Aneignung der Schriften von Durkheim und Mauss lässt sich in der bereits angesprochenen Frontstellung von Lévi-Strauss gegenüber Malinowski und Lévy-Bruhl wiedererkennen. Es überrascht demnach nicht, dass er sich in diesen Kritiken auf wesentliche Punkte von Durkheim und vor allem Mauss stützt.
Malinowski ist für Lévi-Strauss der Repräsentant jener Position, die das „wilde Denken“ auf seinen Nutzen reduzieren will. Ganz allgemein versteht dieser Kultur „als ein Mittel zum Zweck“, das dem Menschen „ermöglicht zu leben, und einen gewissen Standard der Sicherheit, Bequemlichkeit und Wohlfahrt aufrechtzuerhalten.“ Er versteht sie mithin „instrumentell oder funktional“ (Malinowski Reference Malinowski1975 [1944]: 103). Da das Leben der „Primitiven“ sich auf den steten Kampf um die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse reduziere, sei auch ihre Wahrnehmung der Welt entsprechend: „The road from the wilderness to the savage’s belly and consequently to his mind is very short, and for him the world is an indiscriminate background against which there stands out the useful, primarily the edible, species of animals or plants.“ (Malinowski Reference Malinowski1948: 27) Diese Grundüberlegung lässt sich beispielsweise auch auf die Erklärung des Totemismus übertragen: „Since it is the desire to control the species, dangerous, useful, or edible, this desire must lead to a belief in special power over the species, affinity with it, a common essence between man and beast or plant.“ (Malinowski Reference Malinowski1948: 28) Totems werden demnach zu Totems, weil sie für die physische Existenz – als Bedrohung oder Nahrungsgrundlage – von großer Bedeutung sind. Und was für die Totems gilt, gilt für das gesamte Denken – was nützlich ist, wird klassifiziert.
Dieser Einschätzung „primitiver“ Klassifikationssysteme widerspricht Lévi-Strauss mit seiner Darstellung des „wilden Denkens“ als einer „Wissenschaft vom Konkreten“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1986 [1962]: 29). Seitenlang (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1986 [1962]: 14ff.) führt er in Das wilde Denken Beispiele für den Kategorienreichtum und die Detailliertheit dieser Wissenschaft an – gerade auch in Bezug auf völlig „unnütze“ Dinge: „Man wird einwenden, eine solche Wissenschaft könne in der Praxis kaum wirksam sein. Aber genau genommen zielt sie auch nicht in erster Linie auf das Praktische. Sie genügt intellektuellen Ansprüchen, vor und anstelle der bloßen Befriedigung von Bedürfnissen“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1986 [1962]: 20). In sehr ähnlichen Worten hatten dies auch schon Durkheim und Mauss (1993 [1903]: 249f.) formuliert: „Überdies haben diese Systeme – wie in der Wissenschaft auch – eine Zweckbestimmung, die sich ausschließlich im Bereich des Spekulativen bewegt. Ihr Zweck besteht nicht darin, das Handeln zu erleichtern, sondern darin, die Beziehungen zwischen den Wesenheiten begreifbar, intelligibel zu machen.“ Die Tendenz der Rückprojizierung rein nutzenorientierten Handels auf schriftlose Kulturen hatte auch schon Mauss kritisiert (z.B. Mauss Reference Mauss2004 [1925]: 173).
Stellvertretend für die „affektive“ Interpretation des „wilden Denkens“ – und damit für die zweite Position, gegen die er mit seinen Schriften opponiert – steht für Lévi-Strauss das Werk Lucien Lévy-Bruhls. Dieser versucht in seinen Schriften zu belegen, dass schriftlose Kulturen über eine „ausgesprochene Abneigung gegen das verstandesgemäße Denken, gegen alles, was die Logiker als diskursive Operationen des Denkens bezeichnen“, verfügen, dass sie „ziemlich unempfindlich für Widersprüche“ sind und ihren Geist selten vom sinnlich Wahrnehmbaren lösen (Lévy-Bruhl Reference Lévy-Bruhl1959 [1922]: 5, 1, 8). Dennoch will er ihr Denken nicht als pathologisch oder kindlich verstehen, sondern als „normal, umfassend und nach ihrer Art entwickelt“ (Lévy-Bruhl Reference Lévy-Bruhl1959 [1922]: 16). Diese Welt des „prälogischen Denkens“ besteht demnach im Gegensatz zu „unserer“ aus einem „Netz von Partizipationen“ (Lévy-Bruhl Reference Lévy-Bruhl1959 [1922]: 37, 17), in dem keine Differenz zwischen dem Eigenen und Fremden, Traum und Realität, Hier und Dort besteht. Die Beziehung von Mensch und Totemtier stellt sich für Lévy-Bruhl entsprechend dar: Zwischen dem Totem, das sich dem Individuum im Traum offenbart und diesem im Traum zu verstehen gibt, was es verlangt, und dem Mensch „gibt es eine Partizipation, die die Beobachter niemals haben klarstellen können und die unzweifelhaft niemals verständlich werden wird“ (Lévy-Bruhl Reference Lévy-Bruhl1959 [1922]: 100).Footnote 35
Diese Darstellung der „primitiven Mentalität“ als prälogisch und undifferenziert steht Lévi-Strauss’ Ansicht diametral entgegen. Das „wilde Denken“, so Lévi-Strauss, arbeitet, „anders als Lévy-Bruhl glaubt, mit den Mitteln der Vernunft und nicht der Affektivität […]; mit Hilfe von Unterscheidungen und Gegensätzen, nicht durch Verschmelzung und Partizipation. Obwohl der Ausdruck damals noch nicht gebräuchlich war, zeigen zahlreiche Texte von Durkheim und Mauss, daß sie das sogenannte primitive Denken als ein quantifiziertes Denken begriffen hatten“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1986 [1962]: 308; vgl. auch 1974: 24 und 1999: 35ff.).Footnote 36
Lévi-Strauss beruft sich bei seiner Kritik an Lévy-Bruhl also auf Durkheim und Mauss. Zu Recht? Blickt man in deren Klassifikations-Aufsatz, so fällt auf, dass sie gegen Ende ihres Aufsatzes das Klassifizieren aufgrund von „gefühlsmäßige[n] Affinitäten“ dem begrifflichen Klassifizieren entgegensetzen (vgl. Durkheim und Mauss 1993 [1903]: 253ff.). Obgleich dies eine Nähe zur These Lévy-Bruhls nahelegt, ist zu beachten, dass die beiden Autoren hiermit nicht – wie es Lévy-Bruhl tut – zwei prinzipiell verschiedene Denkweisen behaupten. Zwei Sachverhalte sprechen für diese These: Zum einen behaupten Durkheim und Mauss nicht, dass es ein vom klassifizierenden und differenzierenden Denken prinzipiell zu unterscheidendes „primitives“ Denken gebe. Vielmehr vertreten sie die Ansicht, dass es einen Unterschied darin gibt, wie klassifiziert wird: „Wir kommen also zu folgendem Schluß: Es ist möglich, auch anderes als Begriffe zu klassifizieren, und dies auf andere Weise, als es die Gesetze des reinen Verstandes vorschreiben.“ (Durkheim und Mauss 1993 [1903]: 253) An der logischen Notwendigkeit, Kohärenz oder Rigidität dieses Denkens wird nicht gezweifelt und es erscheint den beiden Verfassern betonenswert, dass es sich gerade nicht um „Kuriositäten“ handelt (vgl. Durkheim und Mauss 1993 [1903]: 184f., 211, 246). Zweitens belegt das durchaus vorhandene Fortschrittsnarrativ im Klassifikations-Aufsatz, dass Durkheim und Mauss keineswegs die grundlegende Unvereinbarkeit zweier Denkweisen behaupten:
Die primitiven Klassifikationen stellen also durchaus keine außergewöhnlichen Besonderheiten dar, für die es bei den kulturell höchst entwickelten Völkern keine Parallelen gäbe; vielmehr knüpfen die ersten wissenschaftlichen Klassifikationen offenbar bruchlos daran an, denn obgleich es in gewissen Hinsichten Unterschiede zwischen beiden gibt, weisen die primitiven Klassifikationen dennoch sämtliche wesentliche Merkmale der wissenschaftlichen Klassifikationen auf (Durkheim und Mauss 1993 [1903]: 249).Footnote 37
Trotz der im Klassifikations-Aufsatz anklingenden Bezüge zur Affektivität und Rückständigkeit des „wilden Denkens“, die Lévi-Strauss entschieden kritisiert und zurückweist, kann im Hinblick auf die Charakterisierung des „wilden Denkens“ von einer wesentlichen Übereinstimmung zwischen Durkheim, Mauss und Lévi-Strauss gesprochen werden. Negativ kann diese über die Ablehnung der beiden von Lévy-Bruhl bzw. Malinowski vertretenen Positionen bestimmt werden. Positiv lässt sich die Übereinstimmung anhand der gemeinsamen Annahme einer Totalität des „primitiven“ Denkens formulieren. Wie bereits gesagt, bezieht sich Lévi-Strauss in Das wilde Denken darauf, dass Durkheim und Mauss in ihrem Klassifikations-Aufsatz über „totale Klassifizierungen bestimmter Stämme […] nachgedacht“ hätten (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1986 [1962]: 73). Auch er selbst versteht das Denken indigener Gesellschaften als ein „totales Denken“ – an anderer Stelle (1978: 17) behauptet er die „totalitarian ambition of the savage mind“.Footnote 38 Was aber ist damit gemeint? Zum einen, dass die Klassifikationssysteme die „Gesamtheit der Dinge“, „alle Aspekte“ und „sämtliche Lebensbereiche“ aufgliedern (Durkheim und Mauss 1993 [1903: 251, 236, 183), mithin eine „vollständige Ordnung des Universums“ (Durkheim und Mauss 1993 [1903]: 211) bereitstellen. Die Nähe zu Mauss’ zentralem Konzept der totalen sozialen Tatsache ist hier erneut groß. Zum anderen bezieht sich das Konzept der Totalität aber auch auf eine Art „totalen Determinismus“, der diesem Denken eignet, und den Lévi-Strauss unter anderem mit einem Verweis auf Mauss’ und Henri Huberts Magie-Aufsatz (vgl. Mauss Reference Mauss1974 [1950]: 43-179) plausibilisieren will (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1986 [1962]: 22). Das Denken der „Primitiven“ ist demnach „von der Wissenschaft weniger durch die Unkenntnis oder die Geringschätzung des Determinismus als vielmehr durch einen weit gebieterischen und anspruchsvolleren Anspruch auf Determinismus, welchen die Wissenschaft höchstens unvernünftig und übereilt nennen kann“, gekennzeichnet (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss1986 [1962]: 22). Bildlich kann man sich das „wilde Denken“ demnach als einen von einer Vielzahl von Elementen erfüllten Raum vorstellen, in dem jedes Element mit jedem anderen Element verbunden ist. Die räumliche Veränderung eines Elements würde demnach zu einer vollständigen Umformung des Netzes führen. Aus dem Wirken des totalen Determinismus folgt die Komplexität der Wissenschaft vom Konkreten und ihr Drang zur Homologie-Bildung, aber auch ihre Unfähigkeit dazu, einzelne Kausalwirkungen zu isolieren.Footnote 39
Blickt man auf das Vorangegangene, so lässt sich berechtigterweise behaupten, dass Lévi-Strauss’ klassifikationstheoretische Arbeiten in der Tradition von Durkheim und Mauss stehen. Mehr noch: Es konnte gezeigt werden, dass bereits die klassifikationstheoretischen Beobachtungen in den ethnographischen Arbeiten der 1930er Jahre wesentlich von den im Rahmen der Durkheim-Schule entstandenen Studien zur Klassifikation und sozialen Morphologie geprägt sind, ja ohne die durkheimiens undenkbar gewesen wären. Lévi-Strauss’ Positionierung in der Debatte um den Charakter des „primitiven“ Denkens überrascht vor diesem Hintergrund genauso wenig, wie seine Berufung auf Durkheim und Mauss.Footnote 40
Die Einsicht in die enorme Wirkung der durkheimiens auf dieses bedeutende Untersuchungsfeld der strukturalen Anthropologie darf allerdings nicht die wichtigen Differenzen zwischen Durkheim und Mauss auf der einen und Lévi-Strauss auf der anderen Seite vergessen lassen. Die wichtigsten seien genannt: Erstens formulieren Durkheim und Mauss in ihrem Klassifikations-Aufsatz im Gegensatz zu Lévi-Strauss ein klares Entwicklungs- und Fortschrittsnarrativ, ausgehend von den „rudimentärsten Klassifikationen“, die durch „geistige Verwirrung“ und „Ununterschiedenheit“ gekennzeichnet sind, hin zu immer komplexeren „primitiven“ Klassifikationen, die schließlich „bruchlos“ an das wissenschaftliche Denken anschließen (Durkheim und Mauss 1993 [1903]: 177, 174, 174, 249). Zweitens kritisiert Lévi-Strauss (vgl. v. a. 1997 [1962]: 93f.) vehement die affektivitätstheoretischen Annahmen, die – wie zu sehen war – im Aufsatz zu den „primitiven Klassifikationen“ anklingen, vor allem aber später in Durkheims Die elementaren Formen des religiösen Lebens (2005) eine entscheidende Rolle spielen werden.Footnote 41 Drittens vertritt Lévi-Strauss, anders als Durkheim und Mauss, keine Soziologie der Erkenntnis, sondern eine Wissensanthropologie (vgl. Kauppert Reference Kauppert2008: 8ff., 42). Lévi-Strauss würde nicht mit der radikalen These der beiden übereinstimmen, wonach „die ersten logischen Kategorien […] soziale Kategorien [waren]“ (Durkheim und Mauss 1993 [1903]: 250). Er würde dagegen auf der anthropologischen Universalität der geistigen Tätigkeit beharren, die ihrerseits Grundlage aller sozialer Kategorisierung ist.Footnote 42
Lévi-Strauss und Mauss: Aneignung, Selbstkonturierung und Rezeptionslenkung
Betrachtet man zusammengefasst die methodologische Herangehensweise, die Untersuchungen der sozialen Morphologie, die Analyse der Klassifikationen oder die Studien zur Verwandtschaft, so wird deutlich, dass das ethnographische Werk von Lévi-Strauss, das von der konzeptionellen Substanz her zugleich den Hauptteil des frühen Werks darstelltFootnote 43 und das für die weitere Entwicklung von Lévi-Strauss’ Arbeiten entscheidend war, in seiner ganzen Breite auf zentralen Konzepten von Marcel Mauss aufbaut. Auffällig ist jedoch, dass diese vertiefte Rezeption bis Mitte der vierziger Jahre mit wenigen Ausnahmen unausgesprochen erfolgt. Ab Mitte der vierziger Jahre wird Mauss (mit Ausnahme der Traurigen Tropen) dann hingegen wiederholt als Schlüsselautor angeführt, hierbei jedoch von Lévi-Strauss als der bedeutende Vorreiter der strukturalen Anthropologie in Szene gesetzt. Als ein solcher sei Mauss allerdings auf halber Strecke stecken geblieben. Er habe zwar die Bedeutung der Linguistik für die Sozialwissenschaften erkannt und in seinem Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie den Anstoß für eine strukturale Analyse der Symbole gegeben, aber er sei selbst noch nicht so weit gewesen, diesen Weg konsequent weiter zu verfolgen, so Lévi-Strauss’ wiederholt vertretene Ansicht (vgl. 1974 [1950]: 26ff.; 2002 [1958]: 43). Erst mit dem Strukturalismus konnte – dieser Darstellung zufolge – der von Mauss unbewusst eingeschlagene Weg zu Ende gegangen werden. Unser Interesse galt der Frage, welche Gründe es wohl für diese Umstellung von einer unausgesprochenen auf eine besonders betonte Aneignung gegeben haben könnte.
Fragt man nach der Art und Weise, in der sich Lévi-Strauss das Werk von Mauss angeeignet hat, so fällt zudem auf, dass er sich wiederholt auch dort positiv auf dessen Arbeiten bezieht, wo ihn die Ausformulierung der strukturalen Anthropologie in Gegensatz zu Durkheim bringt. Beispielsweise nimmt er Mauss explizit von seiner Kritik an Durkheims Evolutionismus aus (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss, Gurvitch and Moore1945: 516, 525, 527): „When he [Mauss] follows Durkheim in refusing to dissociate sociology from anthropology, it is not because he sees in primitive societies early stages of social evolution. They are needed, not because they are earlier, but because they exhibit social phenomena under simpler forms.“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss, Gurvitch and Moore1945: 527) Auch Lévi-Strauss’ Kritik an der Wissenssoziologie, die eng mit seiner Hinwendung zu linguistischen, psychologischen und naturwissenschaftlichen Fragen zusammenhängt, bezieht sich immer wieder auf Mauss. Im Gegensatz zu Durkheim sieht er dabei in Mauss einen Anthropologen, der Soziologie, Psychologie und Linguistik zusammenführen wollte (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss, Gurvitch and Moore1945: 528). So habe dieser zum Beispiel als erster erkannt, dass sich die Soziologie an der Linguistik zu orientieren habe und nicht umgekehrt (vgl. Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss2002 [1958]: 45; vgl. auch 1974 [1950]: 28). Dieser Versuch, Durkheim zu einem bedeutenden, aber problematischen Klassiker zu machen, um umgekehrt die „Modernität“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss and Mauss1974 [1950]: 8) von Mauss zu betonen, ist vor allem in Lévi-Strauss’ Aufsatz „French Sociology“ (1945) deutlich zu erkennen. Unabhängig davon, wie die von Lévi-Strauss behaupteten Unterschiede und Einordnungen im Einzelnen zu bewerten sind, bleibt festzuhalten, dass Lévi-Strauss die Bedeutung von Mauss und Durkheim – zumindest für den wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit und damit wohl auch für ihn selbst – sehr unterschiedlich einschätzt: „Durkheim belongs definitely to the past, while Mauss is, still now, on the level of more modern anthropological thought and research.“ (Lévi-Strauss Reference Lévi-Strauss, Gurvitch and Moore1945: 527)
Diese Einschätzung von 1945 kann als der Beginn der Theoriestrategie angesehen werden, die Bezüge zu Mauss nun weniger zu minimieren, ihn stattdessen aber zu einem Vorreiter des Strukturalismus zu erklären – und damit als Garant für die Bedeutung des eigenen Projekts der strukturalen Anthropologie. Diese Aneignungspraxis bleibt nicht unbemerkt und führt in der Nachkriegszeit im sozialwissenschaftlichen Feld Frankreichs zu einem „Strukturalismusstreit“ und heftigen Auseinandersetzungen um das Erbe von Mauss zwischen Georges Gurvitch einerseits und Lévi-Strauss andererseits (vgl. Farrugia Reference Farrugia, Moebius and Papilloud2006). Dieser Streit ist ein regelrechter „institutioneller Kampf“ (Farrugia Reference Farrugia, Moebius and Papilloud2006: 237) zwischen Anthropologie und Strukturalismus auf der einen Seite und der seit dem Zweiten Weltkrieg sich wieder belebenden Soziologie auf der anderen Seite, in dem es nun in den Augen Lévi-Strauss’ opportun erscheint, Mauss als „Legitimationsfigur“ von der Soziologie zu „befreien“ und ihn als protostrukturalistischen Ethnologen zu positionieren.Footnote 44
Wenn demnach Mauss’ Arbeiten bei Lévi-Strauss als Referenzpunkte auftauchen, dann stets als bestimmte Elemente in der Geschichte der Entstehung der strukturalen Anthropologie, das heißt – wie etwa Die Gabe in Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft – lediglich als Elemente, die das strukturalistische Modell unmittelbar ab- und unterstützen. Anders gesagt: Mauss’ Arbeiten werden in der Rezeption von Lévi-Strauss ab 1945 so zurechtgestutzt, dass er als direkter Vorläufer des Strukturalismus gelesen werden kann und muss.Footnote 45
Dass diese Aneignungspraxis jedoch nur gelingen kann, wenn dabei andere zentrale Gesichtspunkte des Mauss’schen Œuvre, insbesondere die religionssoziologischen, „unter den Tisch fallen“ oder als obsolet erklärt werden, liegt auf der Hand. Der Religionssoziologe und Mauss-Experte Camille Tarot beschreibt die Strategie folgendermaßen:
Man sieht infolgedessen die Gründungsstrategie von Lévi-Strauss deutlich ausgearbeitet, spätestens seit 1947 und sich ständig wiederholend während der darauffolgenden dreißig Jahre: das Erbe der Durkheimianer aufzuspalten und Mauss und Durkheim soweit es geht voneinander zu trennen, um Durkheim aus dem strukturalistischen Grundgerüst zu verdrängen und mit ihm die Probleme des Sakralen und der Religion, deren Restbestände in der Analyse der symbolischen Systeme aufgelöst werden. (Tarot Reference Tarot2008c: 6)
Die Konsequenzen dieser „Strategie“ seien, dass aus dieser Perspektive und mit Blick auf das Werk Durkheims lediglich der zusammen mit Mauss verfasste Aufsatz Über einige primitive Formen von Klassifikation aktuell und brauchbar erscheine und mit Blick auf Mauss’ Werk insbesondere dessen Magie- und Gabetheorie – letztere aber nur insoweit, wie sie in das Konzept der strukturalen Anthropologie passen.
Zum Opfer fallen bei dieser Aneignungspraxis mit den religionssoziologischen zugleich auch die erfahrungsorientierten und normativ-politischen Implikationen der Werke der Durkheim-Schule, ohne die aber deren Arbeiten undenkbar sind (zu Durkheim und Mauss vgl. Müller Reference Müller1983; Dzimira Reference Dzimira2007; Moebius Reference Moebius2012).Footnote 46 „Wenn es auch unbestreitbar ist, dass Mauss der Analyse der Symbole neue Wege geöffnet hat, hat er weder jemals gedacht noch gesagt, dass die Analyse der symbolischen Systeme eine Analyse der Fragen des Sakralen zugleich erübrigen könnte.“ (Tarot Reference Tarot2008c: 8) Mauss selbst geht nicht nur von einer engen Verknüpfung der Gabepraktiken mit religiösen Vorstellungen (vgl. Paul Reference Paul1996: 63ff.), sondern auch von einer engen Verbindung zwischen dem Symbolbegriff und Religion aus: „Denn der Begriff des Symbols […] ist uns in seiner Herkunft aus Religion und Recht ganz zu eigen.Footnote 47 Schon lange ist es Durkheims und unsere Lehre, daß Gemeinschaft und Kommunikation zwischen Menschen nur durch Symbole möglich sind […].“ (Mauss Reference Mauss1975 [1950]: 158) Allgemein gesagt, sieht Lévi-Strauss die enge Verbindung zwischen den Analysen des Sakralen und des Symbolischen (Tarot Reference Tarot2008b) innerhalb der Durkheim-Schule, insbesondere bei Marcel Mauss, nicht – oder möchte sie aus theorie- und feldstrategischen Gründen nicht sehen.Footnote 48 Mit der Vernachlässigung des Sakralen geht auch die kognitivistische Verengung des Strukturalismus einher, insofern als die Aspekte der emotionalen, erfahrungsbasierten und performativen Praktiken und Dynamiken in der Mauss’schen Sozialtheorie ausgeblendet werden. Infolge der hieraus resultierenden Rezeptionslenkung und -verengung verdeckt auch nahezu die gesamte Rezeption des Essai sur le don – mit wenigen Ausnahmen wie dem Collège de Sociologie (vgl. Moebius Reference Moebius, Moebius and Papilloud2006c) – die sakralen und religionssoziologischen Aspekte der Gabepraktiken (vgl. Mürmel Reference Mürmel and Flasche2000; Bertholet Reference Bertholet2003: 194). Kurzum: Die für die Durkheim-Schule zentrale Bedeutung der Analysen des Sakralen wird ausgeblendet – und damit ein wesentlicher Aspekt, ohne den die Theorien, Untersuchungen und Erklärungen sozialer Phänomene durch die Durkheim-Schule nicht richtig verstanden werden können. Betrachtet man davon ausgehend insgesamt die Wirkungen von Mauss auf Lévi-Strauss, so lässt sich mit dem Lévi-Strauss-Interpreten Denis Bertholet (2003: 248) sagen, die Abstammung ist zwar direkt („La filiation est directe“), aber der Schüler setzt das Werk seines „Meisters“ (Brief vom 11. August 1939, IMEC, MAS 8.3) nicht einfach unmittelbar fort; im Gegenteil, er nimmt es als Einsatz im Spiel um feldspezifische Anerkennung, was in Lévi-Strauss’ Augen anscheinend nur zu dem Preis einer Verkürzung dieses Werks zu haben ist.
Anmerkungen
Für hilfreiche Hinweise und Anregungen danken wir herzlich Marcel Hénaff, Hans Joas, Michael Kauppert, Axel Paul, den Mitgliedern des Forschungsschwerpunktes „Theorie und Geschichte der Soziologie“ am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz sowie den Fellows und den KollegiatInnen des Max-Weber-Kollegs.
SONSTIGE QUELLEN
Arte France, 2008. Claude Lévi-Strauss par lui-même. DVD 1. Frankreich, 2008. 93 Minuten.