Das Thema Ehrenamt hat gegenwärtig Konjunktur. Eine zunehmende Anzahl von Studien, überwiegend empirischer Art, beschäftigt sich damit. Auch Politik und Öffentlichkeit diskutieren mehr und mehr ehrenamtliches Engagement und fordern dessen Förderung, da es eine Vielfalt unterschiedlicher wichtiger Funktionen für die Gesellschaft erfüllen soll. Um eine Grundlage für Fördermaßnahmen zu schaffen, setzte der Bundestag in der Vergangenheit eine Enquete-Kommission ein, die 2002 einen umfassenden Bericht zum bürgerschaftlichen Engagement vorgelegt hat. Darüber hinaus wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend der Freiwilligensurvey durch TNS Infratest erhoben. Dieser stellt die derzeit umfassendste repräsentative Erhebung zu freiwilligem Engagement und Zivilgesellschaft in Deutschland dar. In drei Wellen (1999, 2004 und 2009) wurde hier das freiwillige Engagement untersucht. Es wurden etwa 15 000 Männer und Frauen ab 14 Jahren in Deutschland in den Jahren 1999 und 2004 und sogar 20 000 Menschen im Jahr 2009 telefonisch zu ihrem Engagement befragt.Footnote 1 Was kann der neue Band von Ehrhardt, der auf seiner 2009 an der Freien Universität Berlin verteidigten Dissertation beruht, den vielfältigen Studien hinzufügen?
Ehrhardt will vor allem zwei Desiderate bearbeiten: Einerseits will er den vielen Querschnittsuntersuchungen – zu denen trotz dreier Erhebungszeitpunkte – auch der Freiwilligensurvey gehört, eine dynamische Längsschnittuntersuchung hinzufügen, um die Entwicklung des Engagements einzelner Kohorten Ehrenamtlicher analysieren zu können. Andererseits will er dem häufig beklagten Theoriedefizit ehrenamtlicher Studien abhelfen, indem er eine Theorie des Ehrenamts präsentiert. Beide Ziele sind tatsächlich von großer Relevanz. Die Fragen des Zugangs zu, der Dauer von und des Abgangs aus ehrenamtlichem Engagement sind bisher kaum untersucht worden. Eine genauere Analyse dieser Fragen in einer Längsschnittperspektive sollte daher hilfreich sein für die Entwicklung von Empfehlungen zur Förderung des Ehrenamts, insbesondere für Maßnahmen auf der Ebene der Organisationen und der Rahmenbedingungen. Denn schließlich ist es von zentraler Bedeutung zu wissen, ob, wenn sich sowohl zum Zeitpunkt 1 als auch zum Zeitpunkt 2 30 % der Bevölkerung ehrenamtlich engagieren, es sich dabei um die gleichen Personen bei beiden Zeitpunkten handelt oder ob es im Zeitpunkt 2 ganz andere Personen sind, die sich zum Zeitpunkt 1 noch gar nicht engagierten, während die Engagierten aus Zeitpunkt 1 mittlerweile ihr Engagement aufgegeben haben.
Auch die Frage der angemessenen Theorie, um ehrenamtliches Engagement zu untersuchen, ist von großer Bedeutung. Ehrhardt diagnostiziert gegenwärtig einen stark normativen, sozialphilosophischen Diskurs, der aus dem Kommunitarismus und der Zivilgesellschaftstheorie gespeist werde und der vielfach implizite Annahmen bezüglich der Gewünschtheit von bürgerschaftlichem Engagement transportiere. Dies würde „den klaren und realistischen Blick auf den Untersuchungsgegenstand“ verschleiern (S. 12). Demgegenüber will er eine Theorie zur Geltung bringen, die mit relativ wenigen robusten Annahmen auskommt. Als theoretische Herangehensweise wählt Ehrhardt die Austauschtheorie, die von Peter M. BlauFootnote 2 und George C. HomansFootnote 3 entwickelt wurde und soziales Verhalten als „Tauschvorgänge, die zwar ganz verschiedene Formen annehmen können, denen aber die Norm der Reziprozität gemeinsam ist“, betrachtet.Footnote 4 Neben dem Aspekt der Reziprozität spielt in diesem individualistischen Ansatz ein ständiges Kosten-Nutzen-Kalkül eine zentrale Rolle. Tätigkeiten werden in dieser Perspektive nur dann ausgeführt, wenn man im Verhältnis zu den investierten Kosten auch einen entsprechenden Nutzen erwarten kann. Diese Theorie wird heute im Rahmen des Rational Choice Ansatzes fortgeführt und weist eine hohe Affinität zu ökonomischen Theorien des Alltags auf.
Wie in der Literatur üblich, definiert Ehrhardt als Ehrenamt Tätigkeiten, die freiwillig sind, nicht auf Entgelt ausgerichtet, auch zugunsten familienfremder Personen, im Rahmen von Organisationen oder „verfestigten“ Gruppen erbracht werden und sich nicht auf wenige Situationen beschränken, sondern sich über einen gewissen Zeitraum erstrecken (S. 15).
Im Gegensatz zu den Vertretern der These vom Strukturwandel des EhrenamtsFootnote 5, die die Annahme Interessenbezogenheit nur für das „neue“ projektförmige und kurzfristige Engagement als sinnvoll betrachten, will Ehrhardt diesen Ansatz auch auf das traditionelle Ehrenamt, insbesondere auf das religiöse Engagement anwenden (S. 23). Ehrhardt ist zuzustimmen, wenn er feststellt, dass das religiöse Engagement auch weiterhin eine große Rolle spielt. Er beschreibt den Kern des christlichen Glaubens („Caritas und Sünden“) als „Denken in Gut und Böse und ihrer (zumindest begrenzten) Verrechenbarkeit“, das auch in säkularisierter oder magisch-spiritueller Form die abendländische Kultur beeinflusst habe (S. 26, Fußnote 6). Diese Beschreibung des christlichen Liebesethos dürfte allerdings bei Christen auf deutlichen Widerspruch stoßen. Gute Werke in Form freiwilligen Engagements als Kompensation für begangene Sünden zu betrachten ist nicht erst seit der Reformation für Christen in ihrem eigenen Selbstverständnis nicht die zentrale ethische Norm ihres Glaubens.
Wertvorstellungen, die ehrenamtliches Engagement (ebenso wie Nutzenkalküle) initiieren können, sind laut Ehrhardt nur für den Beginn ehrenamtlicher Tätigkeit relevant. Wenn man erst einmal freiwillig engagiert ist, dann ist man in den Austauschprozess involviert und muss dieses Handeln in Form von Kosten und Nutzen in der jeweiligen Handlungssituation bilanzieren (S. 27). Normatives Handeln ist also nicht möglich.
„Für einen realistischen Zugang zum Untersuchungsgegenstand muss man sich weiterhin darüber im Klaren sein, dass in vielen Fällen die hier tätigen Akteure ihre eigenen Interessen kaschieren. Regelmäßig werden die eigenen Interessen einfach mit dem so genannten ,Gemeinwohl’ gleichgesetzt.“ (S. 19) Diese Aussage verdeutlicht, dass die Theorie der Verfolgung der Interessen – die in der soziologischen Tradition häufig mit dem Begriff Utilitarismus gleichgesetzt wurde – von Ehrhardt als realistisch und nicht selbst mit normativen Implikationen behaftet gedacht wird, was bestreitbar ist und vielfach bestritten wurdeFootnote 6, und dass der Autor besser als die Akteure ihr eigeninteressiertes Kalkül durchschaut. Als Beleg für die fortlaufende Bilanzierung von Kosten und Nutzen verweist Ehrhardt auf die von Ehrenamtlichen angegebenen Gründe für den Ausstieg aus dem Engagement. Als Grund für den Ausstieg gaben 7 % der ehemals Aktiven „fühlte mich ausgenutzt“ an, für 5 % war der finanzielle Aufwand zu groß und für 37 % der zeitliche Aufwand zu hoch. Allerdings ist es fraglich, ob man von einer Befragung, in der die ehemals Aktiven gebeten werden, ihr Handeln zu bilanzieren und die Gründe für den Ausstieg anzugeben, auf ein permanentes Bilanzieren im Verlauf des ehrenamtlichen Engagements zurückschließen kann.
Ehrhardt ist sich der Tatsache bewusst, dass die Austauschtheorie leicht tautologisch werden kann, wenn alles Handeln den Nutzen maximiert und der Nutzen so weit gefasst wird, dass auch altruistische Selbstopfer usw. darunter fallen können. Daher will er sich auf eine „überschaubare Anzahl vorab festgelegter Güterklassen“ begrenzen (S. 29). Um dem Problem des Engagements ohne Gewinn- oder Sanktionsperspektive gerecht zu werden, führt er die kulturelle Bewertung von Tauschgütern ein (S. 32), was in Bezug auf die Definition von Güterklassen eine gewisse Unklarheit impliziert.
Freiwilliges Engagement ist durch eine große Vielfalt gekennzeichnet. Um die Vielgestaltigkeit des Engagements zu unterscheiden, entwickelt Ehrhardt eine Vierfeldertafel und stellt egalitäre versus hierarchische Austauschverhältnisse auf der einen Seite instrumentellen versus gemeinschaftlichen Handlungen auf der anderen gegenüber.
(Ehrhardt 2011, S. 40)
Zu dreien der vier Formen freiwilligen Engagements (Caritas, Honoratioren-Amt und Kettentausch in Vereinen) liefert Ehrhardt ausführlichere Ausführungen begriffsgeschichtlicher Art, die das jeweilige Phänomen in einen historischen Kontext einbetten. Hier werden Hintergründe beleuchtet, die im Ehrenamtsdiskurs häufig nur unterschwellig auftauchen und sehr zur Erhellung der unterschiedlichen Facetten des freiwilligen Engagements beitragen. Diese vielschichtigen Betrachtungen werden im Lichte des Bilanzierungsmodells der Austauschtheorie gedeutet, was im Verhältnis zu üblichen Lesarten sicherlich einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringt, allerdings manchmal zu schematisch und einseitig erfolgt. Die emotionalen und normativen Faktoren können im Rahmen der Austauschtheorie und der dargelegten Typologie – wie der Autor selbst feststellt – nicht sinnvoll integriert werden (S. 70). Dennoch hält er daran fest, dass Umfang und Dauer der Tätigkeitsepisoden sich aus den Interessen der Akteure ergeben (S. 72). Neben den vier im Rahmen der Typologie entwickelten Engagementformen nennt Ehrhardt noch die Form „Arbeitszeit gegen Wissen“. Hierbei handelt es sich um einen Fall von Investitionen in Human- und Sozialkapital. Ehrenamtliches Engagement hat hier eher die Form eines Praktikums, um den Einstieg in einen künftigen Beruf zu erleichtern. Als Beispiel hierfür führt Ehrhardt das Freiwilligenjahr an.
Zusätzlich zu den Typen von Engagement betrachtet Ehrhardt noch Kontexte des Engagements und untersucht dabei die unterschiedlichen „Organisationen“, in denen das Engagement stattfindet, den „Lebenslauf der Ehrenamtlichen“, der mit exogenen Störungen Einfluss auf Engagementverläufe hat, und den „kulturellen und strukturellen Rahmen“ der Gesellschaft, der aber vor allem auf die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland reduziert wird. Die Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP), das die Basis für die empirische Längsschnittstudie liefert, sind für die Verknüpfung mit bestimmten Lebenslaufereignissen (z. B. Kinder in jungem Alter bzw. ältere Kinder) durchaus geeignet. Für die Betrachtung des organisationellen Umfelds des Engagements und für gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind sie allerdings zu unspezifisch.
Die auf der Basis von SOEP-Daten erstellte Längsschnittstudie hat vor allem zwei zentrale Ergebnisse: 1) Die Fluktuation des ehrenamtlichen Engagements erweist sich als außerordentlich hoch. 48% der Personen, die sich in einer Periode erstmals engagieren, beenden dieses Engagement bereits in der Folgeperiode. 2) Es gibt allerdings eine bestimmte Verbleibquote von Personen, die sich dauerhaft ehrenamtlich engagieren (nach vier Jahren bei ca. 25 %). Für die Dauer des Engagements spielt Kirchenbindung und höherer Bildungsabschluss sowie teilweise die Anzahl der Kinder im Haushalt eine bedeutende Rolle. Die große Bedeutung von Kirchenbindung und Bildungsabschluss sieht Ehrhardt als Beleg für die Bedeutung der Ehrenamtsformen Caritas und Honoratioren-Amt an.
Häufig gibt es auch unterbrochene Engagementverläufe, d. h. Personen, die sich nach einer Pause im Engagement zu einem späteren Zeitpunkt erneut engagieren. Die hohe Fluktuation führt dazu, dass die Vermittlungstätigkeit durch Freiwilligenagenturen nur zu einem verschwindenden Prozentsatz (ca. 1 %) zur Vermittlung von Engagement beiträgt und von Ehrhardt als symbolische Politik gekennzeichnet wird (S. 12). Daher empfiehlt er die Tätigkeiten von Freiwilligenagenturen auf die Vermittlung von Spezialpopulationen zu konzentrieren oder auf Organisations- oder Rechtsberatung zu verlagern (S. 224).
Das durchaus lesenswerte Buch hat ein Hauptproblem – es besteht aus zwei Studien, die nur relativ wenig miteinander zu tun haben. Einerseits findet sich eine interessante Theoriediskussion, die auf der Basis einer Typologie entwickelt wird, wobei ein Problem der Typologie darin besteht, dass der Fall „Arbeitstausch gegen Wissen“ sich nicht adäquat abbilden lässt. Andererseits handelt es sich um eine methodisch reflektierte Längsschnittstudie auf der Basis von Daten des SOEP, die interessante Ergebnisse zu Dauer und Abgang aus freiwilligem Engagement liefert. Der Autor selbst gibt zu, dass die Daten des SOEP leider nicht geeignet sind, die theoretische Tiefe des entwickelten Modells zu spiegeln. Sehr vereinfachend wird ehrenamtliches Engagement als Caritas mit Engagement der Personen mit Kirchenbindung angenommen, was der zunächst entwickelten Vorstellung etwas widerspricht, dass Caritas auch in säkularen Kontexten eine „common sense-Struktur“ darstelle (S. 26 mit Verweis auf GeertzFootnote 7). Ebenso schematisch wird Statusorientierung mit der Variablen hoher Bildungsabschluss abgebildet, was nicht unproblematisch erscheint. Diese lose Verknüpfung der beiden Teile wirkt nicht allzu überzeugend, was aber die Qualität der jeweiligen Teiluntersuchungen nicht schmälert. Inwiefern die Austauschtheorie das adäquate Theorieangebot darstellt, lässt sich somit auf Basis der empirischen Anwendung nicht abschließend beurteilen. Theorieimmanent kommt man sicherlich in Bezug auf die emotionalen und normativen Aspekte des Engagements mit der Austauschtheorie an deutliche Grenzen. Für an Anwendungsfragen interessierte Leser ist die kritische Beurteilung der Arbeit von Freiwilligenagenturen, die in der Regel durchaus positiv gewürdigt wird, von besonderem Interesse. Theoretisch Interessierte hingegen werden sich an dem vorgelegten Entwurf einer Ehrenamtstheorie als Austauschtheorie künftig abarbeiten können und die interessanten, empirischen Ergebnisse der Längsschnittuntersuchung berücksichtigen müssen.